Die Mauer steht wieder: Im Bühnenbild zu Bernhard Ganders Oper Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr begrenzt sie den Horizont in voller Breite der Bühne in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, die zur öffentlichen Probe im Vorfeld der Uraufführung gut besucht ist. Die Münchener Biennale zeigt das Werk zu ihrer Eröffnung am 7. Mai sowie an den Folgetagen, ehe es ab dem 21. Mai in Berlin zu sehen ist.
Teile von Serhij Zhadans gewaltigem Text, ins Deutsche übersetzt von Claudia Dathe, werden hin und wieder auf diese Mauer projiziert. Sie symbolisiert, wie scharf neue Trennlinien in unserer Welt verlaufen. Flüchtende Menschen – mit ihren Attributen wie Rettungswesten, Plastiktragetaschen, zerschlissener Kleidung – sind vor der Mauer in einen Wartezustand verdammt. Der Librettist, eine der prägenden literarischen Figuren der Ukraine und Sänger einer populären Punkrockband, schrieb seine Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr 2018 mit dem Krieg in der Ostukraine im Hinterkopf. Dass Putin wenig später das gesamte Land mit Krieg überziehen würde, war in der Planungszeit der Produktion noch eine vage Angst, an die im Westen kaum jemand dachte.
Der Text verzichtet auf konkrete Bezüge zu realen Orten und Situationen, jedoch wird auch unausgesprochen klar, an welchen „Osten“ man in diesem Stück denkt. „Das Libretto geht aber über Fragen des aktuellen Konflikts hinaus, es geht um Souveränität, Profitgier, Selbstbestimmung, existentielle Bedrohung“, so Andrew Robert Munn, der in der Inszenierung von Alize Zandwijk den „Mann in Militärkleidung” verkörpert. In der Abschiebezelle sitzt er mit dem „Mann im Anzug”. „Der Milizionär und der Kriegsgewinnler, also Idealist und Zyniker, verhandeln hier den Konflikt und sinnieren darüber, was nach dem Gefängnis kommt”, erklärt der Sänger.
Schon beim ersten Kontakt mit Bernhard Ganders Musik wurde Andrew Robert Munn klar, dass die Rolle auch stimmtechnisch besondere Anforderungen stellt. „Meine Partie ist fast für Basso profondo, ständig singe ich diese tiefen Töne“, sagt er. „Als ich für die Rolle vorsang, hieß es: Das war wahrscheinlich zu schön, der Komponist möchte es brutaler haben.” Bei Anklängen an Heavy Metal Gesang, die der Bass eindrucksvoll imitieren kann, ist man in der Inszenierung aber klanglich nicht gelandet. Für Bernhard Gander war eher die Band Depeche Mode, mit der sich auch Serhij Zhadan schon literarisch beschäftigt hat, eine wichtige Inspiration. Über die erste Sitzprobe mit den Mitgliedern des Ensemble Modern berichtet Andrew Robert Munn: „Ich dachte erst recht: Ah, eine Rock Oper. Ich spüre dabei einen merkwürdigen Widerspruch: Die Musik zu singen macht so viel Spaß. Aber seinen inneren Rocksänger zu finden und eine Show daraus zu machen, erscheint bei der Thematik natürlich unangemessen.“
Dieser Widerspruch passt zu einer Grundfrage der Inszenierung, die der Sänger so beschreibt: „Es ist absolut notwendig UND absolut zwecklos, solche Kunst zu machen.“ Wohl jede:r im Publikum spürt den Zwiespalt, und in der Inszenierung wird er gleich zu Anfang thematisiert. „Sollen wir in den Theatern über Politik sprechen?“ Das fragt ein Chor aus saturierten Wohlstandsbürger:innen an Stehtischchen, die wie aus dem Opernfoyer auf die Bühne verpflanzt scheinen. Ein paar Quadratmeter Pausenplausch als ein Spiegel des Publikums, das nach dem erschütternden Stück über Menschen ohne Heimat ebenfalls noch ein gepflegtes Getränk nehmen mag und dann in den sicheren eigenen vier Wänden ruhig schläft.
Jedes politische Werk muss mit diesem Dilemma umgehen, aber im Falle von Bernhard Ganders Oper ist das Unbehagen besonders groß, ist die Frage, was Kunst kann und soll, besonders drängend. Serhij Zhadan versucht – wieder mit den Stimmen der Stehtischchen-Gruppe – eine Antwort zu geben: „Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen. Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verständigen, die unter dir ein Feuer entfachen. Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger Erfahrung und unguter Vorahnung zu balancieren.“
Heutzutage ist Kultur auch die Tatsache, dass man in den sozialen Medien quasi live miterleben kann, wie der Mann, aus dessen Feder diese Worte stammen, den Kriegsalltag in Charkiw durchleidet und wie die aktuellen Ereignisse immer neue tragische Blaupausen für die Wahrnehmung dieses Werkes erzeugen. Die Verantwortung, die mit seiner Rolle folglich einhergeht, verdeutlicht Andrew Robert Munn an seinem letzten Satz in dem Werk: Ich bin bereit. Auch ein Artikel von Serhij Zhadan in der ZEIT war im April überschrieben mit ‚Wir sind bereit’ „Das hat mich wirklich getroffen“, sagt der Sänger. „Denn es gibt jetzt jeden Tag Tausende von Menschen, die diese Aussage mit ihren Körpern, in ihrer Realität machen.“
Nina Rohlfs, Mai 2022
Rezensionen der Uraufführung:
Süddeutsche Zeitung
BR Klassik