György Ligeti

Atmosphères

Titel
Atmosphères
Untertitel
für großes Orchester
Category
Orchester
Dauer
9:00
Anzahl Mitwirkende
89
Besetzung
4 (4. auch Picc.) · 4 · 4 (4. auch Klar. in Es) · 3 · Kfg. - 6 · 4 · 4 · 1 - Klav. (gespielt von 2 Schlagzeugern) - Str. (14 · 14 · 10 · 10 · 8)
Entstehung
1961
Uraufführung
1961-10-22

Donaueschingen · SWF-Sinfonieorchester · Dir.: Hans Rosbaud

Widmung
In memoriam Mátyás Seiber
Auftraggeber
Südwestfunk Baden-Baden
Audio
Copyright

György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580

Kommentare des Komponisten zum Werk

Strenge serielle Organisation einerseits und aufgelockerte, variable oder aleatorische Formen andererseits gelten gewöhnlich als die beiden möglichen Extreme des heutigen Komponierens, zwischen denen man alle übrigen Erscheinungen einordnet. Mir scheint indessen, dass diese Auffassung überholt ist und dass – wie so oft auf dem Gebiet des Ideologischen – die beiden Extreme in vieler Hinsicht übereinstimmen. Die Möglichkeiten für neue Arten der Komposition liegen nicht zwischen diesen Antipoden, sondern in anderen Bereichen.

Was meine kompositorischen Bestrebungen betrifft, so sehe ich es als wesentlich an, die klangliche Erscheinung der musikalischen Form zu erneuern. Änderungen der Sitzordnung im Orchester etwa, neue Notationssysteme und ähnliche Momente, die heutzutage die Tendenz haben, an die Stelle der eigentlichen Komposition zu treten, aber nicht unmittelbar akustisch sind, scheinen mir eher von sekundärer Bedeutung.

In Atmosphères versuchte ich, das »strukturelle« kompositorische Denken, das das motivisch-thematische ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände, keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum, und die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden – von den musikalischen Gestalten losgelöst – zu Eigenwerten.

Der neuen formalen Denkweise entspricht ein neuer Typus des Orchesterklangs. Dieser wird aber nicht durch neuartige instrumentale Effekte hervorgebracht, sondern durch die Art und Weise, wie die Instrumentalstimmen miteinander verwoben sind: Es entsteht ein so dichtes klangliches Gewebe, dass die einzelnen Stimmen in ihm untergehen und ihre Individualität völlig einbüßen. So werden die Instrumentalklänge, deren jeder aus einer Anzahl von Teiltönen besteht, selbst zu »Teiltönen« eines komplexen Klangs. Diese Behandlung des Orchesters bedingt das Fehlen jeglichen Schlagzeugs.

Das Orchesterstück Atmosphères nimmt nun seinerseits gewiss auch eine extreme kompositorische Position ein, die möglicherweise als Sackgasse gedeutet werden kann. Manchmal aber zeigt gerade eine Sackgasse unversehens eine verdeckte Öffnung, die ins Freie führt.

Einführungstext zur Uraufführung am 22. Oktober 1961 in Donaueschingen. Erstdruck im Programmheft der Donaueschinger Musiktage, 21.–22. Oktober 1961, o. S. [S. 13–14].

Über Atmosphères

Das Orchesterstück Atmosphères entstand im Frühjahr und Frühsommer 1961 als Auftragswerk des Südwestfunks für die Donaueschinger Musiktage.1 Es ist dem Andenken an Mátyás Seiber gewidmet und enthält in symbolischer Form Momente eines Requiems.

In gewisser Hinsicht ist Atmosphères ein Gegenstück zu meinem zuvor entstandenen Orchesterwerk Apparitions (1958–59) und ging aus der Weiterführung kompositorischer Ideen hervor, die dieses frühere Stück kennzeichneten. In Apparitions entwickelte sich die musikalische Form aus der Wechselwirkung zwischen klar umrissenen, gleichsam objektartigen Klanggestalten und einem verschlungenen, dicht gefügten »Hintergrund«. Nach Vollendung dieses Stückes beschäftigten mich die Möglichkeiten differenzierter klanglicher Verschlingungen und Verwebungen weitaus mehr als die Gestaltung musikalischer »Objekte«; daher konzentrierte ich mich auf klangliche Vorgänge ähnlich denen, die in Apparitions den »Hintergrund« bilden. Ich nahm mir vor, in meinem nächsten Werk die Dualität von klaren Einzelgestalten und dichten Verschlingungen auszuschalten und die musikalische Form nur aus klanglichem »Hintergrund« hervorgehen zu lassen, wobei dieser »Hintergrund« nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann, da kein »Vordergrund« mehr vorhanden ist. Es handelt sich nun um ein den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllendes feinfaseriges Gewebe, dessen interne Bewegungen und Veränderungen die Artikulation der Form bestimmen.

Die kompositorische Idee, die ich in Atmosphères zu verwirklichen versuchte, bedeutete einerseits die Überwindung des »strukturellen« kompositorischen Denkens – eines Denkens, das die gesamte Entwicklung der letzten zehn Jahre charakterisierte – und stellte andererseits eine Absage an jegliche Dialektik innerhalb der musikalischen Form dar. Es gibt in einer derart konzipierten Form keine gegensätzlichen Elemente und keine Wechselwirkungen mehr: Die verschiedenen Zustände des musikalischen Materials lösen einander ab oder verwandeln sich unmerklich einer in den anderen, ohne dass es zu kausalen Zusammenhängen innerhalb des Formverlaufs käme.

Mit der Beseitigung aller deutlichen Einzelereignisse und Konturen und jeder »Struktur« werden die beiden musikalischen Elemente, die bisher die Hauptrolle spielten, nämlich Tonhöhe und Rhythmus, auf eine sekundäre Ebene zurückgedrängt. Die intervallischen Verhältnisse werden durch die gleichmäßige chromatische Ausfüllung des harmonischen Raums unterdrückt, und nur stellenweise scheinen durch den Schleier der ineinander verzahnten Intervalle Konfigurationen von mehr oder weniger harmonieartigem Charakter durch. Das Rhythmische wird dadurch außer Kraft gesetzt, dass sich in den »bewegten« Stellen des Stückes zahlreiche verschieden rhythmisierte Einzelstimmen überlagern, die so ineinander verknäuelt sind, dass man sie nicht mehr gesondert wahrnehmen kann.

Durch die Verschleierung von Harmonik und Rhythmik treten zwei andere Elemente in den Vordergrund, und zwar Klangfarbe und Dynamik. Vor allem was die Klangfarbe betrifft, gibt es in Atmosphères Ansätze zur Erschließung neuer kompositorischer Bereiche. Dabei zeigt sich zugleich, dass die landläufige Bezeichnung »Klangfarbe« nicht differenziert genug ist. Üblicherweise versteht man unter »Klangfarbe« das sinnlich wahrnehmbare Ergebnis der Lautstärkeproportionen der Teiltöne eines Klangs – in ihrem Einschwingen beziehungsweise in ihrer stationären Phase. Diese Definition reicht aus, solange es sich um einfachere Klänge handelt, deren spektrale Proportionen signifikant sind und deren »Färbung« daher spezifisch ist. Die klanglichen Gebilde in Atmosphères sind jedoch allzu komplex: Die sie konstituierenden Instrumentalklänge, deren jeder aus einer Anzahl von Teiltönen besteht, erhalten selbst die Funktion von »Teiltönen«, genauer gesagt von »Teilklängen«, die in dem übergeordneten klanglichen Gebilde völlig aufgehen, wobei sie ihre individuellen Klangfarben fast gänzlich einbüßen. Die einzelnen harmonischen Spektren der Instrumentalklänge, in nichtharmonischer Weise übereinandergelagert und ineinandergeschoben, lassen durch die Interferenz zahlreicher spektraler Komponenten ein Gewirr aus Schwebungen entstehen. Diese Schwebungen führen ihrerseits nicht nur zu einer Trübung des Gesamtklangs, sondern auch zu einem Fluktuieren der Färbung, einem fortwährenden Irisieren – einer Erscheinung, die mit den bisherigen Möglichkeiten der Klangfarbenmischung nicht hätte erzielt werden können.

Die derart erzeugten klanglichen Komplexe stehen auf halbem Weg zwischen Klang und Geräusch: Klänge im engeren Sinn des Wortes sind sie nicht mehr wegen der erwähnten allzu großen Trübung, echte Geräusche sind sie aber auch nicht, da ihr Spektrum keine kontinuierlichen Frequenzbänder enthält. Hingegen haben sie ein extrem dichtes Linienspektrum, das weder einen vorherrschenden Grundton, oder eine Struktur aus mehreren Grundtönen, noch eine geräuschartige Totalverwischung aufweist.

Nicht allein jedoch aus Gründen der spektralen Dichte ist der Ausdruck »Klangfarbe« für die Eigenart dieser klanglichen Komplexe nicht mehr völlig zureichend. Es gibt nämlich in Atmosphères Sonoritäten, die nicht aus der hier beschriebenen Übereinanderschichtung und Mischung resultieren, sondern aus der Verwebungsart der einzelnen, in sich bewegten Instrumentalstimmen. Der Vergleich mit einem textilen Gewebe mag das vielleicht veranschaulichen. Die farbliche Gesamtwirkung eines Stoffes hängt nicht nur von den Farben der einzelnen Fäden ab, vielmehr spielen auch deren Verteilung und Verschlingungsart sowie die Webdichte und das schließlich entstehende Webmuster eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang spricht man von »Texturen« verschiedener Art, wobei im Begriff »Textur« sowohl die taktile als auch die farbliche Beschaffenheit des Stoffes enthalten ist. Analog dazu kann ein musikalisches Gebilde, das aus einer genügend großen Anzahl ineinander verknäuelter Einzelstimmen – sozusagen Einzelfäden – besteht, als »musikalische Textur« bezeichnet werden, und da taktile Assoziationen bei Musik weniger ausgeprägt sind als visuelle, ist man versucht, eine solche Textur als rein klangfarbliche Kategorie aufzufassen. Tatsächlich entsteht auf diese Weise eine Art Klangfarbe, die aber, wie gesagt, kein reines spektrales Ergebnis ist, sondern aus den internen Bewegungen des Klanggewebes resultiert und durch die Dichte, die Richtung und den Richtungswechsel dieser Bewegungen bestimmt ist. Man könnte also von einer »Bewegungsfarbe« sprechen, denn die Klangfarbe hat eine rhythmische, genauer gesagt mikrorhythmische2 Komponente. Der Rhythmus wird, da er seine Funktion als selbständiges musikalisches Element verliert, mit Klangfarbe fast völlig identisch.

Der hier beschriebenen Verwebungstechnik entspricht eine besondere orchestrale Faktur. Die Behandlung der Streicher beispielsweise beruht auf einem totalen »divisi«. Jedes einzelne Instrument muss demzufolge gesondert notiert werden, wodurch es zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Partiturformats kommt.3 Beim Anblick einer solchen Partitur ist man geneigt zu glauben, es handle sich um ein Riesenorchester und um gewaltige Klangmassen. Das ist aber durchaus nicht der Fall: Die Vergrößerung der Partitur signalisiert kein gesteigertes Klangvolumen, sondern einen erhöhten Differenzierungsgrad der klanglichen Komplexe. Diese Art der Orchestrierung hat das Fehlen jeglichen Schlagzeugs zur Folge. Einerseits würden punktartig einsetzende, schnell ein- und ausschwingende Klänge und Geräusche in einem derart sensiblen, dicht verwobenen Klangnetz als Fremdkörper wirken, andererseits erübrigt sich der Einbezug stationärer Schlagzeuggeräusche – etwa von Beckentremoli und dergleichen – schon deshalb, weil die aus einzelnen »reinen« Instrumentalstimmen zusammengesetzten Klangkomplexe ja selbst einen gewissen Grad von Geräuschhaftigkeit aufweisen. Die Beimischung stationärer Schlagzeuggeräusche würde kaum als Bereicherung, vielmehr als überflüssig empfunden werden.

Aus allem Gesagten geht hervor, dass die formale Gliederung des gesamten Stückes keinem der traditionellen Formschemata folgen kann; es muss sich vielmehr um eine ihrer Erscheinung nach einmalige Form handeln, die aus der Balance und dem Wechsel verschiedener Zustände des globalen, chromatisch geschichteten Klanggebildes entsteht. Die Reihenfolge der teils kontrastierenden, teils ineinandergleitenden klanglichen Zustände ist scheinbar zufällig, allerdings nur scheinbar: Dem Formverlauf liegt eine genau festgelegte Planung zugrunde, die die zeitlichen Proportionen der einzelnen Zustände, die Proportionen von Ambitus und Lautstärke sowie die Veränderungen der Klangfarbe (in all ihren Bedeutungen) und der Verwebungsmuster betrifft. Obwohl diese Planung für die Konstruktion entscheidend ist, hat sie für das Hörerlebnis nur indirekt Bedeutung. Sie erfüllt ihre Funktion gleichsam unter der klanglichen Oberfläche, indem sie die hörbare musikalische Form, die für die Erscheinung der Komposition einzig maßgebend ist, von innen her artikuliert – eine Form, die in ihrer Veränderung Unveränderliches widerspiegelt: in ihrer Bewegung Stillstand, in ihrer Endlichkeit Unbegrenztheit der Zeit.

1 Die Uraufführung, gespielt vom Symphonieorchester des Südwestfunks unter Leitung von Hans Rosbaud, fand am 22. Oktober 1961 statt.

2 Mikrorhythmisch aus folgendem Grund: Die einzelnen Stimmen, aus denen das klangliche Gewebe besteht, sind makrorhythmisch strukturiert. Durch simultane Überlagerung dieser Stimmen, deren jede verschieden rhythmisiert ist, ergeben sich aber Phasen- unterschiede, die kürzer als 1/16–1/20 Sekunden sind und daher unter der Grenze des Auflösungsvermögens sukzessiver Ereignisse liegen. Dies ist ein anderer Grund für das ständige Irisieren – die interne Bewegung des Klanggewebes befindet sich stets im Grenzgebiet zwischen Sukzession und Simultaneität: Einige Teilbewegungen sind noch als Rhythmus wahrnehmbar, die Mehrzahl aber verschmilzt zu einem äußerst differenzierten, scheinbar stationären Klanggebilde.

3 In Apparitions waren es dreiundsechzig, in Atmosphères sind es siebenundachtzig Notensysteme.

Geschrieben 1962 (?) als Manuskript für eine Sendung des Bayerischen Rundfunks am 27. Mai 1963.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 180-184. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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