György Ligeti

Kammerkonzert

Titel
Kammerkonzert
Untertitel
für 13 Instrumentalisten
Category
Ensemble/Kammerorchester
Ensemble
Dauer
21:00
Anzahl Mitwirkende
13
Besetzung
1 (auch Picc.) · 1 (auch Ob. d'am., Engl. Hr.) · 2 (auch Bassklar.) · 0 - 1 · 0 · 1 · 0 - Cemb. (auch Hammondorg. od. Harm.) · Klav. (auch Cel.) - Str. (1 · 1 · 1 · 1 · 1)
Entstehung
1969
Uraufführung
1970-04-05
Baltimore, MD (USA) · Ensemble "die reihe" Wien · Dir.: Friedrich Cerha
01.10.1970
Endgültige 4-sätzige Fassung · Großer Sendesaal · Berliner Festwochen · Berlin · Ensemble "die reihe" Wien · Dir.: Friedrich Cerha
Satzangaben
I Corrente (Fließend)
II Calmo, sostenuto
III Movimento preciso e meccanico
IV Presto
Audio
Copyright

György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580

Kommentare des Komponisten zum Werk

Es handelt sich insofern um ein »Konzert«, als alle dreizehn Instrumentalisten virtuose Aufgaben haben und gleichberechtigt sind. Eine Gliederung in »Solo« und »Tutti« gibt es jedoch nicht, vielmehr wechseln sich immer neue solistische Gruppen ab. Die Faktur ist stets durchsichtig (mit Ausnahme einer Tutti-Stelle im dritten Satz). Ein individuelles Soloinstrument tritt fast nirgends hervor, immer sind es zwei, drei oder mehr Instrumente, die im virtuosen Spiel kombiniert werden. Das Stück hat vier Sätze, die verschiedenen Bewegungstypen entsprechen. Die Bewegung im ersten Satz ist sanft, fließend, im zweiten fast stehend, doch wird die Statik von harten, erregten rhythmischen Abläufen unterbrochen; der dritte Satz ist mechanisch, als würde sich ein kurioser, halb kaputter Präzisionsapparat in Bewegung setzen; der sehr schnelle vierte Satz vereinigt kontrastierende Bewegungstypen von »leicht hinweghuschend« bis »sprunghaft, zersplittert«. Verbunden werden die vier Sätze, so verschieden ihr Bewegungscharakter auch ist, durch die Einheitlichkeit der kompositorischen Faktur: Gemeinsame harmonische und rhythmische Prinzipien gelten für das ganze Stück.

Harmonik: Genau definierte Harmonien, mit festgesetzter Intervallstruktur, wechseln mit »Trübungsfeldern« ab, derart dass die klaren Harmonien allmählich verwischt werden und sich aus dieser Trübung dann eine neue Harmonie, mit anderer Intervallstruktur, herauskristallisiert. Die einzelnen Instrumentalstimmen sind so geführt, dass sie sich in die jeweils vorherrschende Harmonie einfügen. Umgekehrt: die Harmonien existieren nicht an sich, sie werden vielmehr erst durch die Kombination der Einzelstimmen fingiert, die sich zu jeweils neuen, vertikalen Intervallstrukturen vereinigen. »Real« sind also nur die Einzelstimmen und ihr kontrapunktisches Geflecht. Hinter diesem Geflecht stehen die virtuellen Harmonien, die die Stimmen wie Magnetfelder zurechtbiegen, sodass sie sich der wohlgeordneten Intervallstruktur mehr oder weniger anpassen. (»Mehr oder weniger« insofern, als ein Rest an Trübung, an Nichtanpassung stets übrigbleibt, und gerade diese harmoniefremden Töne bewirken die Transformation des harmonischen Feldes in eine andere, neue Intervallstruktur.)

Rhythmik: Es gibt drei Typen von rhythmischen Abläufen: solche, die aus der Kombination von genau definierten Einzelstimmen bestehen, das bedeutet klare rhythmische Artikulation; solche, in denen die einzelnen Stimmen zwar klar definiert sind, doch individuell verschiedene Geschwindigkeiten haben, sodass ihre Kombination nicht mehr genau geordnet ist, das bedeutet Polyrhythmik, Simultanverlauf gesonderter Rhythmen und Tempi; schließlich solche, in denen die Einzelstimmen keinen definierten Rhythmus haben, meist »so schnell wie möglich« verlaufen, wobei die rhythmische Artikulation und das Tempo der Einzelstimmen von der Technik des jeweiligen Instruments abhängig sind (ein »so schnell wie möglich« ist etwa bei einer Posaune langsamer als bei einer Klarinette). Der letztgenannte rhythmische Typus bedeutet zufallsmäßige Kombinationen, doch bezieht sich der Zufall nur auf die internen Einzelheiten der rhythmischen Struktur – die Struktur selbst, als Ganzes, bleibt auch in diesem Fall klar definiert. Es wäre daher verfehlt, hier von Aleatorik oder gar »Zufallskomposition« zu sprechen. Es handelt sich um eine genau fixierte Form, nur ist die musikalische Faktur komplex und vielschichtig, wobei vor allem die Polyrhythmik komplizierte vertikale Relationen erzeugt. Die Vielschichtigkeit der Rhythmik und der Tempi wird andererseits durch die vereinheitlichende Harmonik ausgeglichen: Disparate Stimmverläufe verschmelzen zu einer globalen Struktur dank der »zurechtbiegenden« harmonischen Magnetfelder. So erscheint diese Musik beim ersten Anhören äußerst einfach: Wahrnehmbar sind zunächst die übergeordneten Harmonien. Bei öfterem intensivem Hören erschließt sich dann die interne Komplexität der rhythmischen und intervallischen Feinstruktur.

Einführungstext zur Uraufführung der definitiven viersätzigen Fassung im Rahmen der Berliner Festwochen am 1. Oktober 1970.

Zum Kammerkonzert

Der Titel »Konzert« zeigt an, dass alle Instrumentalpartien für Virtuosen gleichen Ranges geschrieben sind. Es gibt daher keine Teilung in »Soli« und »Tutti« wie im traditionellen Konzert. Stattdessen alternieren verschiedene Gruppen von Instrumenten, wobei die polyphone Textur stets erhalten bleibt. Die musikalische Sprache des Werkes ist, wie in allen meinen Kompositionen seit Mitte der sechziger Jahre, weder tonal noch atonal. Es gibt weder tonale Zentren noch irgendwelche harmonischen Kombinationen oder Fortschreitungen, die man funktional deuten könnte. Andererseits sind die zwölf Töne der chromatischen Skala nicht als solche, wie in der »Reihenmusik«, gleichgewichtig behandelt. Es gibt bestimmte dominierende Kombinationen von Intervallen, die den Verlauf der Musik und die Entwicklung der Form bestimmen. Die komplexe Polyphonie der individuellen Stimmen ist eingebettet in ein harmonisch-musikalisches Fließen, in dem die Harmonien (das heißt die vertikalen Kombinationen der Intervalle) sich nicht plötzlich ändern, sondern ineinander übergehen. Eine klar erkennbare Intervallkombination wird graduell verschleiert, verwischt, bis aus diesem »Nebel« eine neue Intervallkombination schrittweise Gestalt gewinnt.

Jeder Satz dieses Kammerkonzerts ist durch eine spezifische rhythmische Textur und einen bestimmten Bewegungstyp charakterisiert. Der erste Satz ist sanft und fließend, die heterogenen rhythmischen Figuren bilden einheitliche Klangmuster. Die Textur des zweiten Satzes ist stärker homophon. Sein Charakter ist zunächst eher statisch, erscheint dann aber aufgebrochen von kraftvollen, prägnanten Figuren. Im Verlauf dieser dynamischen Entwicklung verändert die harmonische Struktur sich allmählich und kulminiert schließlich in einer Zusammenballung übereinandergeschichteter Quinten. Der dritte Satz ist quasi-mechanisch, ähnlich einer seltsamen, halb zerbrochenen Präzisionsmaschine, die in Gang gesetzt wird. Polyrhythmik und Polymetrik werden in diesem Satz besonders betont. Derartige Techniken erscheinen zwar auch in den übrigen Sätzen, aber in geringerem Ausmaß und in anderer Form. Der vierte Satz ist sehr rasch und erfordert große Virtuosität. Er gleicht einem Perpetuum mobile, doch wird die Presto-Bewegung »zerschlagen« und schrittweise unterminiert. Die Musik wird gleichsam in Fetzen zerrissen und gerät schließlich ganz aus den Fugen. Teile von Melodien tauchen auf, doch führen sie zu nichts und nirgendwohin. Es ist, als ob die Musik mit Schlingpflanzen durchwachsen wäre.

Einführungstext zu einer Aufführung im Rahmen des Festivals Wien modern am 22. Dezember 1989 in Wien.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 255-258. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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