György Ligeti

Volumina

Titel
Volumina
Untertitel
für Orgel
Category
Solowerk
Orgel
Dauer
16:00
Anzahl Mitwirkende
1
Entstehung
1961
Uraufführung
1962-05-04

Bandaufnahme: Radio Bremen · Karl-Erik Welin, Orgel
10.05.1962
Amsterdam · Karl-Erik Welin, Orgel

Kommentare des Komponisten zum Werk

Hans Otte bat mich 1961 um ein Orgelstück, das im Bremer Dom aufgeführt werden sollte. Das war mein erster »Kompositionsauftrag«. Karl-Erik Welin, der schwedische Organist, spielte dann Volumina im Mai 1962, doch die Bremer Uraufführung verlief recht kurios. Welin hatte zuvor an der Orgel im Dom zu Göteborg geübt. Volumina beginnt mit einem Cluster, wobei alle Tasten eines Manuals niedergedrückt und alle Register, gekoppelt mit diesem einen Manual, gezogen werden. Ich hatte das alles schon vorher auf einer kleinen mechanischen Orgel in der Wiener Musikhochschule erprobt. Doch konnte man nicht vorausahnen, dass der Stromkreis der Göteborger Orgel durch so viele gleichzeitig gespielte Pfeifen überlastet würde. Als Welin den Motor einschaltete, quoll Rauch aus der Gegend der Pfeifen, und entsetzlicher Gestank nach brennendem Gummi breitete sich aus – das war die Isolierschicht der elektrischen Leitungen. Später stellte man fest, dass alle mechanischen Teile aus weichem Metall (Blei und Zinn) geschmolzen waren. Die Versicherung weigerte sich zu zahlen, denn die Untersuchung ergab, dass jemand irgendwann statt einer normalen Sicherung eine verbogene Nähnadel in den Stromkreis eingefügt hatte (und vergessen worden war, dieses Provisorium wieder gegen eine richtige Sicherung auszutauschen). Und das im vom Sicherheitswahn beherrschten Schweden!

Die Nachricht von der »abgebrannten« Göteborger Orgel führte dazu, dass die Bremer Kirchenbehörde das Konzert im Dom absagte (und dafür gab es noch einen anderen Grund: Hans Otte wollte in diesem Konzert, in seinem eigenen Stück, Tänzer auftreten lassen). Die »Uraufführung« erklang also im Rahmen eines Konzerts im Radio Bremen, vom Tonband, das Welin vorher an der – auf Sicherheit getesteten – Orgel der Johanneskyrkan in Stockholm eingespielt hatte. Sveriges Radio hatte die Aufführung mitgeschnitten, allerdings ein zu kurzes Tonband aufgelegt, und erst kurz vor der Bremer Aufführung stellte sich heraus, dass einige Minuten vom Ende des Stückes fehlten.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 6, »Keyboard Works«, SK 62307), 1997.

Bemerkungen zu Volumina

Die Orgel zog einerseits durch ihren übergroßen Reichtum an bislang unerforschten Klangfarbenmöglichkeiten, andererseits und vor allem durch ihre Mängel – ihre Unbeholfenheit, Steifheit und Eckigkeit – mein Interesse auf sich. Dieses Instrument gleicht einer riesigen Prothese. Es reizte mich herauszufinden, wie man mit dieser Prothese von neuem gehen lernen kann.

Beim Entwurf meiner Orgelkomposition Volumina ging ich also ganz von den Voraussetzungen des Orgelmechanismus aus, seine Unvollkommenheiten mit einbezogen. Zusammen mit dem Organisten Karl-Erik Welin – der mir nicht nur wertvolle Ratschläge gab, sondern das Werk auch als erster 1962 spielte – und angeregt durch die für einen neuen Orgelstil bahnbrechenden Konstellationer I (1958) von Bengt Hambræus, gelangte ich zu einer neuen Technik des Orgelspiels. Diese Technik besteht hauptsächlich in mannigfaltigen und differenzierten Strukturierungs- und Artikulationsmöglichkeiten von dichten, chromatisch ausgefüllten Klängen, also von Tonclustern, die sowohl in unbewegtem Zustand als auch von internen Bewegungen durchzittert, schließlich in globaler Bewegung oder in kontinuierlichem Auf- und Abbau in die musikalische Form einbezogen werden. Die verschiedenen Bewegungstypen werden dabei durch bislang ungebräuchliche Pedal- beziehungsweise Finger- und Handtechniken erzeugt, durch Anschlagsarten, die stark variieren können, je nachdem ob man auf leichtgängigen elektrischen oder schwerfälligen mechanischen Orgeln spielt.

Die Verwendung der verschiedenen Clustertypen führt zu einer erheblichen Erweiterung der dynamischen Möglichkeiten der Orgel, vor allem zur Ausführbarkeit kontinuierlicher Crescendi und Diminuendi, wie sie bisher – abgesehen von den sehr beschränkten und in ihrer Wirkung unbefriedigenden Jalousieschwellern – nicht bekannt waren. Da nämlich auf der Orgel, anders als beim Klavier, die Anzahl der niedergedrückten Tasten zugleich die Intensität des Klangs mitbestimmt, kann man durch entsprechende Veränderung der Clusterbreite die Intensität kontinuierlich beeinflussen. Die Kontinuität selbst ist zwar eine Täuschung, denn sie basiert auf diskontinuierlichem Ein- und Aussetzen einzelner Orgelpfeifen. Doch im Hinblick auf die relativ große Anzahl der Pfeifen, die in einem Cluster ertönen, und auf die sehr kurzen Zeitabstände zwischen dem Ein- und Aussetzen der einzelnen Pfeifen ist es verständlich, dass die gleichsam mikrozeitliche Diskontinuität für unser Gehör in einem Kontinuum verschmilzt. Das ist eine der Möglichkeiten, aus dem prothesenartigen, schwerfälligen Mechanismus der Orgel einen überaus flexiblen Klang hervorzuzaubern, der in seiner Eleganz und Differenziertheit kaum die Grobheit der eingesetzten Mittel erahnen lässt. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Tour de force, auch nicht um Manipulationen, die sozusagen als Anschlag auf die Orgel verübt werden, vielmehr um eine Spielart, welche die verschiedenen Unzulänglichkeiten des Instruments so miteinander kombiniert, dass die einzelnen »Fehler« sich gegenseitig aufheben.

Durch die neue Spieltechnik mit Clustern lässt sich neben dynamischer Flexibilität auch eine ungeahnte Flexibilität der Klangfarbenmischung und Klangfarbenvariierung erzielen. Bislang war der Orgelklang durch starke Kontraste der Klangfarbenwechsel charakterisiert, kontinuierliche Übergänge waren in diesem Bereich nicht möglich. Durch eine adäquate Hand- und Fingertechnik aber, mittels derer man einzelne Cluster von einem Manual auf ein anderes, verschieden registriertes graduell hinüberwechseln und sogar durch sämtliche Manuale wandern lassen kann, sind Klangfarbenübergänge realisierbar, die in ihrer feinen Abstufung den Intensitätsveränderungen gleichkommen. Eine weitere Bereicherung in dieser Richtung besteht in der Koppelung von dynamischen und koloristischen Veränderungen, was durch eine Kombination von Spieltechniken – der Variation der Clusterbreite einerseits und des Manualwechsels andererseits – entsteht.

Voraussetzung für diese neuen Manipulationen der Orgelklangfarben ist eine weitgehende Bereicherung der Registerhandhabung. Das Spiel auf den Registerknöpfen wird gleichberechtigt mit dem Spiel auf den Tasten – ein Moment, das nicht nur für meine Volumina charakteristisch ist, sondern auch für Mauricio Kagels Improvisation ajoutée, die zur gleichen Zeit und unabhängig von meiner Komposition entstanden ist. Bei komplizierten Orgelwerken, vornehmlich der romantischen Literatur, war bisher schon die Mitwirkung eines Registratur-Assistenten neben dem Organisten üblich. Die Rolle des Assistenten wächst bei Volumina nun erheblich, doch ist es auch möglich, das Stück allein, ohne Beihilfe, aufzuführen. Die stationären Cluster können nämlich durch geeignete Bleigewichte niedergedrückt und gehalten werden, wodurch die Hände des Organisten zur Betätigung der Registerknöpfe frei werden.

Die Weiterentwicklung der Spieltechnik bezieht auch andere Einzelbereiche des Orgelmechanismus ein. Erwähnt seien bestimmte Luftwirkungen und »stummes Spiel«, das Ein- und Ausschalten des Orgelmotors während des Spielens, was durch Änderung der Luftzufuhr zu neuen Klangfärbungen und Klangverstimmungen führt, schließlich die halbe Einstellung der Registerknöpfe, die ein ähnliches Resultat erbringt – sie lässt sich allerdings nur bei mechanischen Orgeln ausführen.

Die neue Spieltechnik verlangte nach Ausarbeitung einer neuen, dieser Technik adäquaten Notation. Sie umfasst neben Spielanweisungen auch graphische Zeichen, die nichts mit der herkömmlichen Notation zu tun haben, und sie ist ein präziseres Informationsmittel für die neue Orgeltechnik als das traditionelle Notensystem. Dabei handelt es sich nicht um »musikalische Graphik«. Die Notation hat keinen Eigenwert und ist nicht mehrdeutig, sie besteht aus eindeutigen Befehlssymbolen. Dem Ausführenden sind weitgehende Freiheiten eingeräumt, jedoch rein interpretative Freiheiten, nicht die des Mitkomponierens am Werk, wie das bei »graphischen«, variablen Kompositionen üblich ist.

Die Musiksprache meines Orgelwerks ist untraditionell. Solch ein kompositorischer Standpunkt erscheint problematisch, wenn man bedenkt, dass die Orgel, mehr als jedes andere Instrument, durch Tradition vorbelastet ist. Spuren dieser Vorbelastung finden sich auch in meinem Werk, doch bestehen sie nicht etwa in der Übernahme barocker Figuren oder spätromantischen Pomps und Plüschs. Akkordik, Figuration und Polyphonie sind verwischt und unterdrückt, bleiben jedoch unterhalb der Klangoberfläche der Komposition, wie tief unter einer Wasseroberfläche, insgeheim wirksam. Es entsteht eine gleichsam leere Form, es erwachsen Gestalten ohne Antlitz wie in Chirico-Bildern, gewaltige Weiten und Fernen, eine Architektur, die bloß aus Gerüstzeug besteht, der aber ein greifbares Gebäude fehlt. Strenge und Erhabenheit allein bleiben aus der Orgeltradition übrig, alles andere verschwindet in den weiten, leeren Räumen, den Volumina der musikalischen Form.

Geschrieben 1962 als Manuskript für eine Sendung des Bayerischen Rundfunks München am 5. November 1962. Nochmals gesendet im »Musikalischen Nachtprogramm« des Westdeutschen Rundfunks Köln am 2. Mai 1963. Erstdruck unter dem (vom Verfasser nicht autorisierten) Titel »Die Orgel sprengt die Tradition«, in: Melos, 33 (1966), Nr. 10, S. 311–313.

Über Volumina

Volumina für Orgel habe ich von November 1961 bis Januar 1962 komponiert – auf Anregung von Hans Otte und im Auftrag von Radio Bremen. Die Uraufführung erfolgte im Rahmen des Bremer »pro musica nova«-Festivals am 4. Mai 1962, gespielt von Karl-Erik Welin in Zusammenarbeit mit Giuseppe G. Englert und Leo Nilsson als Registranten. Die Noten sind bei C. F. Peters in Frankfurt am Main erschienen. Welin hat auch eine Schallplattenaufnahme von Volumina bei Wergo vorgelegt, und außer ihm hat Gerd Zacher das Stück häufig aufgeführt.

Beim Komponieren von Volumina ging ich ausschließlich von den Möglichkeiten der Orgel aus und stellte mir Fragen wie: Welche Klangqualitäten kann man dem Instrument entlocken, welche Musik daraus entwickeln? Dabei habe ich versucht, die große Traditionsbelastung, der die Orgel mehr als alle anderen Instrumente ausgesetzt ist, außer Acht zu lassen. Eine Möglichkeit der Befreiung von dieser schweren Tradition deuteten die Orgelwerke von Bengt Hambræus an: Er war der erste, der in seinen Kompositionen grundsätzlich neue Konzeptionen für dieses Instrument realisiert hat, und wenn irgendein Einfluss in meinem Stück spürbar ist, so beruht er auf meiner Bewunderung für die Orgelkunst von Hambræus.

Was die neue Technik, die »Art des Orgelspielens« betrifft, war die glückliche Zusammenarbeit mit Karl-Erik Welin für mich von großer Bedeutung: Gemein- sam haben wir eine neuartige Anschlags- und Gleittechnik der Finger, Hände, Unterarme und Füße, eine ebenso neue Technik der Registrierung unter Verwendung von halbgezogenen Registerknöpfen (bei mechanischen Orgeln) und vieles andere mehr entwickelt. Später erhielt ich auch von Gerd Zacher überaus wertvolle Anregungen, die für die Neufassung von Volumina entscheidend waren.

Die neue Spieltechnik war für mich aber keineswegs Selbstzweck, sondern diente der Realisation von bestimmten, aus dem Orgelklang hervorgehenden musikalisch-formalen Ideen. Mir schwebte eine gleichsam amorphe Musik vor, in der Einzeltöne keine Funktion haben, hingegen Tonhaufen und Tonballungen und die Volumenverhältnisse dieser Tonkollektive formbildend sind. Verdichtungen, Auflösungen, verschiedene interne Bewegungen der Tonhaufen, tektonische Ereignisse wie Einsturz, Auftürmen, Übereinanderschichten, dann gleichsam atmosphärische Vorgänge wie Verdampfen, Verhauchen und dergleichen gliedern die – global gesehen – kontinuierliche Form.

Diese neue Art von Musik erforderte eine neue, adäquate Notation: Nicht die Einzeltöne sind notiert, sondern die Veränderungen der Tonkollektive und die Verfahren, mit denen man diese Veränderungen aus der Orgel hervorzaubert. Das Notenbild ähnelt einer »graphischen Partitur«, ist jedoch keine, vielmehr fast so exakt wie die traditionelle Notation, nur eben auf andere musikalische Kategorien bezogen. Im Laufe der Zeit, nachdem das Stück auf verschiedenen Orgeln gespielt worden war, habe ich einiges an der Musik und an der Notation verändert – einerseits um der ursprünglichen Vorstellung einer kontinuierlichen Form näherzukommen, andererseits um das Stück auf unterschiedlichen Orgeln, mit mechanischer wie mit elektrischer Spieltraktur und Registratur, aufführbar zu machen. Diese zweite, nun endgültige Fassung von Volumina habe ich 1966 ausgearbeitet. Die Uraufführung dieser neuen Version spielt Karl-Erik Welin heute in Kiel.

Geschrieben im Februar 1968 als Einführungstext zur Uraufführung der Neufassung am 8. März 1968 in Kiel.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 185-190. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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