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Vom Leben in Situationen katastrophaler Aussichtslosigkeit hin zur Intimität der Liebe: Mit ihrer neuen Oper Heart Chamber vollzieht Chaya Czernowin einen großen thematischen Schwenk weg von den Fragen, die sie in ihrem letzten Musiktheaterwerk umtrieben.
Chaya Czernowin spricht über ihren künstlerischen Werdegang und ihr 2017 entstandenes Cellokonzert.
„Chaya Czernowin ist eine der bedeutendsten lebenden Komponistinnen. Ihr Werk ist vielfältig und groß, ihre Musiksprache radikal und eigen. Ihre vier Opern sind wie Schockwellen für die Gattung. Existenzielle Themen macht sie mit ihren Kompositionen für das Publikum erlebbar und spürbar. Wie keine andere schafft sie es, sich immer weiterzuentwickeln, Neues zu suchen und dabei zugleich einen roten Faden durch all ihre Werke zu ziehen.“ - Jury Deutscher Musikautor*innenpreis 2022
Eine in der unmittelbaren Sinneserfahrung verankerte Musik, die verborgene, fremde und ungewohnte Felder der Existenz erschließt, kennzeichnet das Schaffen von Chaya Czernowin. Nichts ist selbstverständlich, und das Risiko dient als Chance für unvorhersehbares Wachstum und Vitalität. Die 1957 in Haifa geborene Komponistin erlernte ihr musikalisches Handwerk zunächst bei Abel Ehrlich und Yitzhak Sadai in Israel, ehe sie ihre Kompositionsstudien in Berlin bei Dieter Schnebel fortsetzte. In den USA studierte sie danach am New Yorker Bard College und promovierte als Schülerin von Roger Reynolds und Brian Ferneyhough an der University of California San Diego.
Chaya Czernowins Werke für Kammer- und Orchesterbesetzungen, die oft auch mit elektronischen Elementen arbeiten, wurden seit den 90er Jahren bei den bedeutendsten Festivals für zeitgenössische Musik in Europa, Asien und Nordamerika aufgeführt. Ein Musiktheaterwerk verhalf ihr endgültig zum internationalen Durchbruch: Pnima... ins Innere entstand im Jahr 2000 für die Münchener Biennale und wurde mit dem Bayerischen Theaterpreis sowie als Uraufführung des Jahres (Magazin Opernwelt) ausgezeichnet. In dem auf einer Erzählung von David Grossmann basierenden Stück setzt sich die Komponistin mit der Archäologie des Erinnerns und damit indirekt mit ihrer eigenen Biografie als Tochter zweier Holocaust-Überlebender auseinander. 2013 wurde das Werk im Rahmen ihrer Residency beim Lucerne Festival in einer Neuproduktion präsentiert.
Ihre zweite Oper Adama wurde von den Salzburger Festspielen, deren Composer-in-Residence sie 2005/06 war, anlässlich des 250. Geburtstages von Mozart als Gegenstück zu dessen Singspiel-Fragment Zaïde in Auftrag gegeben und in einer Neufassung 2017 am Theater Freiburg gezeigt. Infinite Now, in Zusammenarbeit mit dem IRCAM an der Opera Vlaanderen in Gent uraufgeführt und in Antwerpen, Mannheim und Paris erneut präsentiert, wurde vom Magazin Opernwelt 2017 als Uraufführung des Jahres ausgezeichnet. Die Oper basiert auf einer Erzählung der chinesischen Autorin Can Xue sowie Luk Percevals Drama Front, seinerseits nach Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues entstanden. Ihre vierte Oper Heart Chamber, inszeniert von Claus Guth, kam 2019 an der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Johannes Kalitzke zur Uraufführung.
Die 2003 begonnene und über mehrere Jahre weitergeführte Reihe ihrer Winter Songs interpretiert das gleiche Septett-Material auf immer wieder neue Weise und schafft so jeweils ein komplett anderes musikalisches Erlebnis. Maim (2001-07) für großes Orchester, Solisten und Elektronik erforscht die Körperlichkeit und Beweglichkeit von musikalischem Material. In HIDDEN für Streichquartett und Elektronik, entstanden 2013/14 und vom JACK Quartet als CD vorgelegt, wird eine verlangsamte Zeitwahrnehmung an verzerrte Spiegelungen des Materials gekoppelt.
Zu den großen Ensemblewerken der letzten Jahre gehört The Fabrication of Light, 2020 vom Ensemble Musikfabrik im Rahmen des Festivals Acht Brücken zur Uraufführung gebracht. Die englische Erstaufführung fand im Herbst 2021 im Rahmen des Huddersfield Contemporary Music Festival statt, das Chaya Czernowin zudem als Composer-in-Residence eingeladen hatte. Die Neuen Vocalsolisten brachten 2022 beim ECLAT Festival das „Sound Theatre“ Vena III: Immaterial zur Uraufführung. Das Werk entstand als Teil des Vena-Zyklus, dessen zweiter Teil schon 2021 bei den Donaueschinger Musiktagen erstmals erklang: Das JACK Quartet interpretierte Unhistoric Acts mit dem SWR Vokalensemble unter der Leitung von Yuval Weinberg. Die Uraufführung von Atara für Sopran, Bariton und großes Orchester fand ebenfalls 2021 bei Wien Modern mit Sofia Jernberg, Holger Falk und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Christian Karlsen statt; die deutsche Erstaufführung folgte 2023 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Matthias Pintscher.
Einen weiteren Zyklus komplettierte sie 2022 mit der Uraufführung von Moonwords, dem letzten Teil ihrer Trilogie Fast Darkness, beim Ultima Festival in Oslo mit dem Ensemble Temporum. Fast Darkness I, gespielt vom Riot Ensemble und dem Bassklarinettisten Gareth Davis, stand 2020 auf dem Programm von Wien Modern; 2021 hob das Ensemble intercontemporain Fast Darkness II in der Philharmonie de Paris aus der Taufe. 2023 folgt die Uraufführung eines weiteren Ensemblestücks: Bei der Musik Biennale Zagreb brachte das Klangforum Wien unter Uli Fussenegger Seltene Erde – Alchimia Communicationis zu Gehör.
In der aktuellen Saison stehen mehrere große Uraufführungen an: Das vom New York Philharmonic zusammen mit den Donaueschinger Musiktagen in Auftrag gegebene Orchesterwerk Unforeseen dusk: bones into wings, eine orchestrale Neufassung der a-cappella-Komposition Vena III: Immaterial, erklingt im Oktober in Donaueschingen. Es folgt die Uraufführung von Ezov („Moos“) an der Philharmonie de Paris durch das Arditti Quartet anlässlich dessen 50. Geburtstages; das Festival Wien Modern präsentiert anschließend die österreichische Erstaufführung. Einen explizit politischen Hintergrund hat das neue Werk für Orchester und eine verstärkte Stimme, das im April vom Los Angeles Philharmonic aus der Taufe gehoben wird: NO! ist Ausdruck des Schmerzes über die Trennung geflüchteter Kinder von ihren Eltern unter der Trump-Administration. Im Juni 2025 interpretiert das WDR Sinfonieorchester das Werk als deutsche Erstaufführung, gefolgt von Erstaufführungen durch das Polish National Radio Symphony Orchestra NOSPR und das Orchestre Philharmonique de Radio France. Im Sommer 2025 steht im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse ein neues Werk auf dem Programm, das anschließend beim Time:Spans Festival in New York und beim Lucerne Festival zu hören ist: CORE ist für die Flötistin Claire Chase entstanden und folgt in seiner ungewöhnlichen Besetzung Galina Ustwolskajas 2. Sinfonie.
Das Unterrichten ist für Chaya Czernowin ein wichtiger Prozess, um sich fortwährend kompositorisch weiterzuentwickeln. Zu ihren Schüler:innen gehören viele der aktivsten Komponist:innen der jüngeren und mittleren Generation. Regelmäßig war sie in den 90er Jahren bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt als Dozentin zu Gast. Auch beim Composers Lab des Festivals Klangspuren Schwaz unterrichtete sie immer wieder. Von 1997 bis 2006 lehrte sie Komposition an der University of California San Diego, ehe sie, als erste Frau, auf eine Professur an die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien berufen wurde. 2009 folgte der Ruf an die Harvard University, wo sie als Walter Bigelow Rosen Professor of Music nach wie vor lehrt. Von 2003 bis 2017 leitete sie die Internationale Meisterklasse für junge Komponisten, die sie gemeinsam mit dem Leiter der Akademie Schloss Solitude, Jean-Baptiste Joly, und ihrem Ehemann, dem Komponisten Steven Takasugi, gegründet hatte.
Ihre 2017 bei WERGO erschienene CD The Quiet mit Orchesterwerken (titelgebend ist das 2011 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Brad Lubman uraufgeführte Werk) wurde mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Weitere Aufnahmen sind bei Mode records, Col Legno, Deutsche Grammophon, Neos, Ethos, Telos und Einstein Records herausgekommen.
Chaya Czernowin hat eine Vielzahl an Auszeichnungen erhalten, darunter den Kranichsteiner Musikpreis (1992), den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (2003), den Rockefeller Foundation Prize (2004), den Fromm Foundation Award (2008), den Guggenheim Fellowship Award (2011) und den Heidelberger Künstlerinnenpreis (2016). Sie war Composer-in-Residence der Salzburger Festspiele 2005/06, des Lucerne Festivals 2013 und des Huddersfield Contemporary Music Festival 2021 sowie Fokuskünstlerin des Festivals Musica Nova Helsinki 2013. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin (seit 2017) und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (seit 2021) und sie gehört zum Board der Europäischen Musiktheater-Akademie. 2022 wurde sie mit dem Deutschen Musikautorinnenpreis in der Kategorie „Komposition/Musiktheater“ ausgezeichnet. Ihre Werke erscheinen bei Schott.
Saison 2024/25
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Eine Liste aller Werke von Chaya Czernowin finden Sie auf der Internetseite des Schott Verlags.
„Chaya Czernowin ist eine der bedeutendsten lebenden Komponistinnen. Ihr Werk ist vielfältig und groß, ihre Musiksprache radikal und eigen. Ihre vier Opern sind wie Schockwellen für die Gattung. Existenzielle Themen macht sie mit ihren Kompositionen für das Publikum erlebbar und spürbar. Wie keine andere schafft sie es, sich immer weiterzuentwickeln, Neues zu suchen und dabei zugleich einen roten Faden durch all ihre Werke zu ziehen.“
Deutscher Musikautor*innenpreis, Die Jury über Chaya Czernowin, 24.03.2022
"Wohl kaum ein lebender Komponist, eine lebende Komponistin untermauert Goethes Credo, Musik sei flüssige Architektur, besser als Czernowin."
The Guardian, Hugh Morris, 22.11.2021
"...sie lässt seit Jahrzehnten Orchestern und Sänger:innen ihre eigene Musiksprache zufließen, in der sie sich an einer unmöglichen Aufgabe versucht: die Empfindlichkeit des Gehäuteten mit der analytischen Präzision des Chirurgen zu vereinen. (...) Als Künstlerin integriert sie das Ereignis [den Tod von George Floyd], seine verurteilte Atmung, die Worte, das Leiden des Mannes – und das der Frau [die den Vorfall gefilmt hat] – in ihre Musik, ein 55minütiges Denkmal für den letzten Atemzug von Floyd, dem Schwarzen, unterdrückt durch die zusammengequetschte Brust, für den Atemstillstand (ja) und für diese Pandemie, die plötzlich alles auf den Kopf stellte, aber alles (Dinge, Herausforderungen, Todesfälle) unverändert ließ – unsere Gewohnheiten sind tief verankert, einfach – und die Worte sind die der Chorsänger:innen, aus ihrer von der Epidemie betroffenen Welt."
Crescendo Magazine, Bernard Vincken, 26.10.2021
"Chaya Czernowin ist eine wichtige, unverwechselbare Stimme der Neuen Musik auf beiden Seiten des Atlantiks."
The Guardian, Andrew Clements, 18.03.2021
„Die Stärke von "Heart Chamber" ist Chaya Czernowins märchenhaft raffinierte, präzise notierte Partitur, diktiert von einer empfindsamen musikalischen Fantasie, die sich die Verästelungen im Wachsen und Vergehen der Natur für ihr rauschendes Pandämonium der Klänge und Geräusche ausersehen hat. [...] Wer will und kann, denkt an Luigi Nonos Klangmystik, György Ligetis "Atmosphères"-Cluster oder Helmut Lachenmanns verstörende "Mädchen"-Oper. Die Komponistin triumphiert, auch in Ovationen, nach neunzig pausenlosen Minuten.“
Süddeutsche Zeitung, Wolfgang Schreiber, 17.11.2019
„[…] einem räumlichen Erlebnis, das einem den Atem verschlägt. Instrumente erklingen von Orten, wo nie und nimmer Instrumente sein können; Stimmen kommen aus Richtungen, wo kein Sänger je war. Wer was singt und wo die Grenze zwischen instrumentalem und vokalem Klang verläuft – oft ahnt man es kaum. Allein das Klangerlebnis dieses Abends ist ein Ereignis.“
Die Deutsche Bühne, Detlef Brandenburg, 16.11.2019
„Mit ihrer obertonreichen Musik voller Mikrotöne und einem Sinn fürs Verborgene erschafft Chaya Czernowin eine eigene Welt. Ihre Welt. Ihre Musiksprache. Die von feinsten rhythmischen Verästelungen durchzogen ist und in der die Komponistin Stille auslotet, in ihren verschiedensten farblichen und geräuschhaften Abstufungen. Eine Musik, die einem innere Ruhe gibt.“
BR Klassik CD-Tipp, Kristin Amme, 18.12.2017
„Man muss sich einlassen auf diese fremde musikalische Sprache, die Hörgewohnheiten negiert, Geräusche emanzipiert und immer zerbrechlich bleibt. (…) Sie ist mühevoll, herausfordernd und auch ermüdend in ihrer Langsamkeit, kann aber auch bis zur Schmerzgrenze gehen in musikalisch extremen Momenten, wenn die hohen Frequenzen zum Tinnitus werden. Dann ist es wieder so still, dass man nur noch den Atem hört – wie im Schützengraben. In diesem unbehausten Terrain kann schon ein einzelner, schlichter Ton von Altus Terry Wey berühren oder eine Gesangslinie von Noa Frenkel Sinn stiften.“
Badischen Zeitung, Georg Rudiger, 24.04.2017
„In der Musik ist bei aller Reduktion des Tonsatzes im Detail unglaublich viel los. Das ist sehr sorgfältig gearbeitet und immer wieder faszinierend, welche Facetten da entstehen.“
Deutschlandradio Kultur, Frieder Reininghaus, 18.04.2017
Chaya Czernowin - Heart Chamber [Official Trailer]
Infinite Now: Komponistin Chaya Czernowin im Portrait (englisch)
Produktionseinblick in »Infinite Now« von Chaya Czernowin
Infinite Now, de Chaya Czernowin
Chaya Czernowin - A Strange Bridge Toward Engagement
Chaya Czernowin - Knights of the Strange (tutti) [w/ score]
Chaya Czernowin - Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust... [w/ score]
Chaya Czernowin - Sahaf [w/ score]
Chaya Czernowin - String Quartet [w/ score]
Naxos 2019, 10423573
Inbal Hever, Mezzosopran; JACK QuartetWergo 2017
ICE International Contemporary EnsembleKairos 2017
Werke für OrchesterWergo 2016