„Lebendig, intuitiv, wild und so undefiniert wie das reine Erleben – kann Musik das sein? Ich habe solche Musik gehört – selten zwar, aber sie hat mein Leben verändert. Darauf hinzuarbeiten, ist ein schwieriger Balanceakt: Man muss so sensiblen Sinnes sein, als hätte man keine Haut, während man die analytische Klarheit, Präzision und Konzentration eines Chirurgen mit dem Skalpell walten lässt.“
Eine in der unmittelbaren Sinneserfahrung verankerte Musik, die immer wieder durch ein Über- und Ineinander ihrer Elemente das Verhältnis von Gegenwärtigem und Verschüttetem erforscht, kennzeichnet das Schaffen von Chaya Czernowin. Die 1957 in Haifa geborene Komponistin ist geografisch wie musikalisch eine Reisende: Sie erlernte ihr musikalisches Handwerk zunächst bei Abel Ehrlich und Yitzhak Sadai in Israel, ehe sie im Alter von 25 Jahren mit Hilfe eines DAAD-Stipendiums ihre Kompositionsstudien in Berlin bei Dieter Schnebel fortsetzte. In den USA studierte sie danach am New Yorker Bard College und promovierte als Schülerin von Roger Reynolds und Brian Ferneyhough an der University of California San Diego. Während einer anschließenden Phase des Reisens und Komponierens hielt sie sich als Stipendiatin unter anderem in Japan (Asahi-Shimbun-Stipendium, NEA-Stipendium) und Deutschland (Akademie Schloss Solitude) auf.
Chaya Czernowins Werke für Kammer- und Orchesterbesetzungen, die oft auch mit elektronischen Elementen arbeiten, wurden bei den bedeutendsten Festivals für zeitgenössische Musik in Europa, Asien und Nordamerika aufgeführt. Nachdem sie in ihren Kammermusikwerken der 90er Jahren wie Afatsim (1996) und dem String Quartet von 1995 mit Fragmentierung und instrumentalen Identitäten gespielt hatte, war es ein Musiktheaterwerk, das ihr zum internationalen Durchbruch verhalf: Pnima... ins Innere entstand im Jahr 2000 für die Münchener Biennale und wurde mit dem Bayerischen Theaterpreis sowie als Uraufführung des Jahres (Magazin Opernwelt) ausgezeichnet. In dem auf einer Erzählung von David Grossmann basierenden Stück setzt sich die Komponistin mit der Archäologie des Erinnerns und damit indirekt mit ihrer eigenen Biografie als Tochter zweier Holocaust-Überlebender auseinander. Ihre zweite Oper Adama wurde von den Salzburger Festspielen anlässlich des 250. Geburtstages von Mozart als Gegenstück zu dessen Singspiel-Fragment Zaïde in Auftrag gegeben und in einer überarbeiteten Fassung am Theater Freiburg 2017 erneut gespielt.
Die etwa zeitgleich begonnene und fortlaufend weitergeführte Reihe ihrer Winter Songs interpretiert das gleiche Septett-Material auf immer wieder neue Weise und schafft so jeweils ein komplett anderes musikalisches Erlebnis. Maim (2001-07) für großes Orchester, Solisten und Elektronik erforscht die Körperlichkeit und Beweglichkeit von musikalischem Material. In HIDDEN für Streichquartett und Elektronik, entstanden 2013/14 und im letzten Jahr vom JACK Quartet auf CD vorgelegt, wird eine verlangsamte Zeitwahrnehmung an verzerrte Spiegelungen des Materials gekoppelt.
Das herausragende Werk der letzten Jahre ist ihre mit viel Kritikerlob bedachte Oper Infinite Now, die 2017 unter der Leitung von Titus Engel an der Opera Vlaanderen in Gent uraufgeführt wurde und danach in Antwerpen, Mannheim und Paris auf die Bühne kam. Basierend auf einer Erzählung der chinesischen Autorin Can Xue sowie Luk Percevals Drama Front, seinerseits nach Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues entstanden, erforscht die Oper die Dehnungen der Zeit innerhalb katastrophaler Ausweglosigkeit. Unmittelbar nach dieser Uraufführung, vom Magazin Opernwelt als beste des Jahres ausgezeichnet, wurde das Cellokonzert Guardian in Donaueschingen von Séverine Ballon aus der Taufe gehoben und anschließend bei den Rainy Days in Luxemburg präsentiert; 2019 stand das Werk bei den Ostrava New Music Days auf dem Programm, kurz bevor das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Thomas Dausgaard ihr kürzestes Orchesterwerk Once I blinked nothing was the same als britische Erstaufführung präsentierte. Ebenfalls 2019 kam unter der Leitung von Detlef Heusinger beim SWR in Freiburg mit Habekhi (Das Weinen) ein Werk für das Ensemble Experimental, Sänger und Elektronik zur Uraufführung. Im Mittelpunkt der vergangenen Saison stand für Chaya Czernowin ihre Oper Heart Chamber, die, inszeniert von Claus Guth, an der Deutschen Oper Berlin unter der musikalischen Leitung von Johannes Kalitzke zur Uraufführung kam.
Die Saison 2020/2021 beginnt mit zwei Uraufführungen: The fabrication of light wird vom Ensemble Musikfabrik im Rahmen des Festivals Acht Brücken interpretiert. Das Ensemble wird das Werk auch in Leipzig sowie im Rahmen des Huddersfield Contemporary Music Festivals, das die Komponistin als Composer in Residence eingeladen hat, zu Gehör bringen. Die zweite Uraufführung, Fast Darkness I, wird vom Riot Ensemble und dem Bassklarinettisten Gareth Davis bestritten. Im Mai 2021 wird das Ensemble Intercontemporain das zweite Werk des dreiteiligen Zyklus Fast Darkness in der Philharmonie Paris mit Alain Billard an der Bassklarinette aus der Taufe heben. Die Saison schließt mit einem Orchesterwerk für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das im Rahmen von Musica viva präsentiert wird.
Das Unterrichten ist für Chaya Czernowin ein wichtiger Prozess, um sich fortwährend kompositorisch weiterzuentwickeln. Regelmäßig war sie in den 90er Jahren bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt als Dozentin zu Gast. Von 1997 bis 2006 lehrte sie Komposition an der University of California San Diego, ehe sie als Professorin an die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien berufen wurde. 2009 folgte der Ruf an die Harvard University, wo sie als Walter Bigelow Rosen Professor of Music nach wie vor lehrt. Von 2003 bis 2017 leitete sie die Internationale Meisterklasse für junge Komponisten, die sie gemeinsam mit dem Leiter der Akademie Schloss Solitude, Jean-Baptiste Joly, und ihrem Ehemann, dem Komponisten Steven Takasugi, gründete. Auch beim israelischen Festival Tzlil Meudcan unterrichtete sie, ebenso wie weiterhin in vielen internationalen Kursen, den kompositorischen Nachwuchs.
Ihre 2017 bei WERGO erschienene CD The Quiet mit Orchesterwerken wurde mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Weitere Aufnahmen sind bei Mode records, Col Legno, Deutsche Grammophon, Neos, Ethos, Telos und Einstein Records herausgekommen. Chaya Czernowin hat eine Vielzahl an Auszeichnungen erhalten, darunter den Kranichsteiner Musikpreis (1992), den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (2003), den Rockefell-er Foundation Prize (2004), den Fromm Foundation Award (2008), den Guggenheim Fellowship Award (2011) und den Heidelberger Künstlerinnenpreis (2016). Sie war Composer in Residence der Salzburger Festspiele 2005/06 und des Luzern Festivals 2013. Seit 2017 ist sie Mitglied der Akademie der Künste Berlin. Ihre Werke erscheinen bei Schott.
Saison 2020/21
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