György Ligeti

Zwei Etüden für Orgel

Titel
Zwei Etüden für Orgel
Untertitel
Category
Solowerk
Orgel
Dauer
12:00
Anzahl Mitwirkende
1
Entstehung
1967
Uraufführung
1967-10-14
I: Hamburg · Gerd Zacher, Orgel
19.10.1969
II: Basilica Seckau · Gerd Zacher, Orgel
Satzangaben
I "Harmonies"
II "Coulée"
Kommentare des Komponisten zum Werk

I. »Harmonies« – II. »Coulée«

Ende 1961 komponierte ich ein größeres Orgelstück, Volumina. Darin experimentierte ich mit ganz neuen technischen Möglichkeiten des Orgelspiels: mit variablem Winddruck, mit der Halbeinstellung von Registerknöpfen (bei mechanischen Orgeln), mit einer neuen Spielweise an den Manualen und im Pedal, mit Clustern und komplexen Hand- und Armbewegungen.

Die Erfahrungen mit Volumina führten mit der Zeit zu weiteren technischen Überlegungen, die dann den Ausgangspunkt für eine Reihe von Orgeletüden bildeten. Zur Zeit sind zwei Etüden fertig. Die erste, »Harmonies«, komponiert 1967, spielte Gerd Zacher zum ersten Mal bei seinem Jubiläumskonzert in Hamburg-Wellingsbüttel im Oktober desselben Jahres. Die zweite, »Coulée«, im Sommer 1969 entstanden, wird nun im Rahmen des »Musikprotokolls« am 19. Oktober 1969 in der Basilika Seckau ebenfalls von Gerd Zacher uraufgeführt. Geplant sind zwei weitere Etüden mit den Titeln »Le son royal« und »Zéro«.1

In »Harmonies« wird eine Folge von zehnstimmigen Akkorden gespielt, doch hört man nicht die notierten Töne, sondern ein viel komplexeres musikalisches Geschehen. Durch extrem niedrigen Winddruck (die technische Realisation ist eine Erfindung von Gerd Zacher) und durch adäquate Veränderung der Registrierung entstehen mikrotonale Verstimmungen und eine irreal-fahle Klangfarbenwelt. Die Gesamtform ist extrem statisch – es handelt sich um die konsequenteste meiner » stillstehenden Formen«. Will man jedoch das tatsächliche Formgeschehen wahrnehmen, muß man sich auf die subtilen internen Modifikationen der Harmonien konzentrieren: Die Musik spielt sozusagen in den Innenräumen der klanglichen Erscheinung.

Die zweite Etüde »Coulée« (= Fließen, Strömen) erfordert äußerste Geläufigkeit der Fingertechnik: Der musikalische Strom soll eine Geschwindigkeit erreichen, bei der die Einzeltöne in der Sukzession fast verschmelzen, eine Art flimmernder Statik wird allein durch Bewegung erzeugt. »Coulée« ist im Bewegungscharakter mit meinem Cembalostück Continuum von 1968 verwandt (auch dort war die musikalische Vorstellung: scheinbare Kontinuität durch diskontinuierliche, doch extrem rasche Tonsukzession), die Orgeletüde ist sozusagen eine »weiche« Variante des surrenden, maschinellen Cembalostücks.

Die Vorstellung von monströsen, zwecklosen Maschinen, die Zeit verschlingen und bis zu ihrem plötzlichen, unerwarteten Verstummen in unbeeinflussbarer Stetigkeit dahinschwirren, kehrt in meinen neueren Kompositionen immer wieder – »Coulée« stellt eine gleichsam verflüssigte Maschine dar.

1 Diese beiden Stücke habe ich nicht realisiert (Anm. 2002).

Einführungstext für das Programmheft zur Uraufführung von »Coulée« im Rahmen des Musikprotokolls im Steirischen Herbst am 19. Oktober 1969 in der Basilika Seckau.

Etüde Nr. 1 für Orgel (»Harmonies«)

Gerd Zacher regte mich an, einige Orgeletüden zu schreiben. Die erste trägt den Untertitel »Harmonies«. Tatsächlich werden hier Zusammenklänge gespielt, die sich allmählich verändern. Was diese Veränderungen und Klangverfremdungen bewirkt, ist aber nicht der Wechsel einzelner Töne, sondern der des Winddrucks. Die Etüde wird nämlich mit »Niederdruck« gespielt, das heißt die Windzufuhr geht nicht vom Orgelmotor aus, sondern von einem Ventilator mit minderer Leistung, etwa von einem Staubsaugerventilator. Verschiedene Pfeifen reagieren unterschiedlich auf den niedrigen Winddruck. Die Orgel schnappt nach Luft. Die sonst so bedauernswerte Schwindsucht der Orgel wird hier zu einer schönen Krankheit. Fahle, gleichsam überirdische Klänge, verwitterte und vermoderte »Harmonien« werden erzeugt.

Diese Etüde ist Gerd Zacher gewidmet. Er hat sie am 14. Oktober 1967 in der Lutherkirche zu Hamburg-Wellingsbüttel zum ersten Mal gespielt und danach für die Deutsche Grammophon Gesellschaft und für Vox auf Schallplatten aufgenommen.

Ich habe vor, noch drei weitere Etüden zu komponieren, und jede wird sich auf einen neuen orgeltechnischen Aspekt konzentrieren. Dabei schwebt mir der Begriff der »präparierten Orgel« vor – in Analogie zu John Cages »präpariertem Klavier«.

Entwurf eines Programmhefttextes zum Konzert Gerd Zachers am 9. April 1969 in der Martinskirche Kassel im Rahmen der 3. Woche für geistliche Musik der Gegenwart, dort aber nicht erschienen.

Über »Harmonies« (Etüde Nr. 1 für Orgel)

Bei meiner Komposition »Harmonies« wollte ich mich nur auf Manualtöne beschränken. So entstand eine zehnstimmige Harmonie, das heißt fünf Töne für die rechte und fünf für die linke Hand. Weiter wollte ich etwas komponieren, das sich nicht im temperierten System bewegt. Die Idee entstand im Hinblick auf das Instrument Orgel und den Spieler, der zwei Hände beziehungsweise zehn Finger hat. Wenn ich also nicht, wie etwa in Volumina, Klangtrauben mit dem ganzen Arm erzeugen will, so kann ich maximal zehn unterschiedliche Tonhöhen verwenden.

Zu Beginn habe ich nun eine zehntönige Ausgangsharmonie, wobei es nicht wichtig ist, um welche Tonhöhen es sich handelt, da der Hörer sie nicht genau wahrnehmen kann. Nun gehe ich sehr langsam voran, indem ich jeweils mit einem Finger eine Taste verändere. Habe ich beispielsweise ein cis, kann ich zu c oder d wechseln. Das System ist sehr einfach, und wieder ist nicht wichtig, welche Tonhöhen gespielt werden. Wichtig ist nur, dass jeweils zehn Töne in einer gegebenen Registrierung gehalten werden – ausgenommen am Ende des Stückes, das wie der Schluss von Schumanns Papillons im Pianissimo verklingt. Auf dem Klavier wäre diese Vorgehensweise nicht sehr interessant, wohl aber auf der Orgel …

Wenn ich von zehn unterschiedlichen Tonhöhen ausgehe, habe ich gewissermaßen einen Cluster, nehme ich noch zwei Töne hinzu, entsteht ein chromatischer Cluster. Aus dem Wechsel der Tonhöhen ergeben sich auch Stellen mit vielen Oktaven, der Grad an tonaler Heterogenität beziehungsweise Dissonanz kann also zu- oder abnehmen. Hier stellt sich eine Analogie zur klassischen Harmonielehre mit ihrem Verhältnis von Konsonanz und Dissonanz ein. Aber tonal ist dieses Stück keineswegs, da es keine »harmonische Fortschreitung« gibt, die Harmonie X in keiner Beziehung zur Harmonie Y steht, sondern im Gegenteil jede denkbare Verbindung eingehen kann. Es könnte etwa auch ein Cluster oder ein Unisono sein. Doch ebenso wenig ist das Stück atonal, da man von quasi tonalen Momenten sprechen kann, die sich nach Übergangsphasen beim Erreichen der neuen Harmonien herauskristallisieren. Und da der Begriff Dissonanz sich immer auf Verhältnisse einzelner Klänge untereinander bezieht, so ist ein Klang mit zehn unterschiedlichen Tönen dissonanter zu bewerten als einer mit nur fünf unterschiedlichen Tönen …

Die Partitur ist keine lesbare Projektion des Stückes, sie ist ausschließlich für den Interpreten gedacht. Das Tempo ist frei, die Takte sind keine Takte im herkömmlichen Sinn, vielmehr wird jeder Tonhöhenwechsel, jede neu niederzudrückende Taste durch den Beginn eines neuen Takts markiert.

Nun zu einem Aspekt dieser Komposition, der einer Idee Gerd Zachers zu verdanken ist. Ich wollte mich, wie schon gesagt, außerhalb des temperierten zwölftönigen Systems bewegen. Bereits in Volumina hatte ich Versuche mit halb gezogenen Registern oder halb heruntergedrückten Tasten einer mechanischen Orgel gemacht, und nun fragte ich Zacher, ob es eine Möglichkeit gäbe, Tonhöhen außerhalb des starren Halbtonsystems der Tastatur zu erzeugen. Zacher experimentierte mit niedrigerem Winddruck, und das Ergebnis war eine mikrotonale Abweichung von der jeweiligen Tonhöhe. Das kam mir zustatten, denn ich interessiere mich sehr für mikrotonale Musik.

Die mikrotonalen Zwischenstufen in »Harmonies« sollten keine exakten Vierteltöne, aber auch nicht völlig beliebig sein, vielmehr auf einem kalkulierten Zufall basieren, der Möglichkeiten einer mikrotonalen Abweichung von weniger als einem Halbtonschritt eröffnet. Zacher machte daraufhin weitere Experimente. Die beste Lösung erzielte er bei der Uraufführung wie auch bei der Einspielung des Stückes für die Deutsche Grammophon Gesellschaft: Er benutzte anstelle des Orgelmotors einen Staubsauger. Er schnitt ein Loch in das Windmagazin – es war sein eigenes Instrument, sodass er das ungehindert ausprobieren konnte – und steckte den Schlauch des Staubsaugers hinein …

Wenn Sie das Stück hören, wird es Ihnen wie ein statischer Klangblock erscheinen. Erwarten Sie nicht, dass etwas geschieht – es ist diese Art von Musik, in der (wie zuerst in meinem Orchesterstück Atmosphères) nichts geschieht. Wenn Sie aber nicht auf die Totalität der Form achten, sondern hören, was in ihrem Inneren geschieht, werden Sie winzige Veränderungen bemerken, die zum einen vom Wechsel der Tonhöhen und zum anderen vom Wechsel des Winddrucks beim Ziehen verschiedener Register herrühren. Hören Sie nicht auf das Äußerliche, hören Sie auf das Innere – das macht die musikalische Gestalt aus.

Auszug aus einem Referat bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt am 22. Juli 1972. Erstveröffentlichung in deutscher Sprache (nach einer Übersetzung aus dem Englischen), in: Organ, 2 (1999), Nr. 3, S. 45.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 246-249. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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