Zwei Solisten
II Allegro corrente – Poco rubato – Presto capriccioso
Wie bereits bei meinem Cellokonzert und meinem Kammerkonzert bezieht sich die Bezeichnung »Konzert« nicht auf die traditionelle Konzertform, vielmehr auf die Behandlung der Instrumente: In diesem Doppelkonzert werden zwei Blasinstrumente, nämlich Flöte und Oboe, virtuos-konzertant verwendet. Obwohl musikalisch dominierend, heben sich die beiden Soloinstrumente nicht durchgängig vom Orchester ab, sie bilden keine kontrastierende Schicht wie in traditionellen Konzerten, sondern gehen verschiedenartigste Mischungen, Kombinationen, Amalgamierungen mit den übrigen Orchesterinstrumenten ein – auch das Orchester selbst ist konzertant behandelt. Um eine optimale Amalgamierung zu ermöglichen, habe ich das Orchester so besetzt, dass die Holzbläser dominieren. So verbinden sich mit der Soloflöte drei weitere Flöten, mit der Solo-Oboe drei weitere Oboen (abwechselnd auch Oboe d’amore und Englischhorn), außerdem Klarinetten und Fagotte. Blechbläser und Schlagzeug sind eher diskret verwendet, ebenso Celesta und Harfe, und ganz auf das Aufgehen im Holzbläserklang ausgerichtet. Da eine übliche Streicherbesetzung ebenfalls als Kontrast wirken würde, habe ich die Streicher weitgehend ausgespart: Geigen fehlen ganz, vier Bratschen, sechs Celli und vier Kontrabässe, durchweg solistisch geführt, mischen sich mit dem Holzbläserklang. Von den beiden Soloinstrumenten wechselt die Flöte mit Bassflöte und Altflöte, während die Oboe nicht wechselt: Die tieferen Instrumente der Oboenfamilie spielen im Orchester.
Das Konzert ist zweisätzig. Zwischen dem ersten (statisch-langsamen) und dem zweiten (virtuos-raschen) Satz gibt es formale Verbindungen: Einer ist Variante des anderen, ähnlich wie in meinen früheren Stücken Apparitions und Cellokonzert. Beim Komponieren des Doppelkonzerts hat mich vorrangig der Aspekt der Harmonik beziehungsweise des Tonhöhensystems beschäftigt. Vierteltöne und andere mikrotonale Aufteilungen des temperierten Systems wurden von vielen Komponisten verwendet, zudem gibt es nichttemperierte mikrotonale Systeme in großer Zahl und Verschiedenheit in außereuropäischen Kulturen. Wenn ich also mein Interesse an Mikrointervallen bekunde, bedeutet das nichts prinzipiell Neues oder Originelles (wohl die konsequenteste Entwicklung der Mikrointervallik findet sich im Werk von Harry Partch). Was mich jedoch von den zahlreichen mikrotonalen Möglichkeiten besonders interessiert und worin ich einen neuen, fruchtbaren Bereich zu finden glaube, ist die nichtfixierte Mikrointervallik, das heißt keine Viertel- oder Dritteltöne oder andere Aufspaltungen der gleichschwebenden Temperatur, auch keine aus den oberen Teiltönen abgeleitete Mikrointervallik, sondern eine unsichere Intonation, die aber Sicherheit vortäuscht, da – mit Ausnahme eines Posaunenglissandos – keine Glissandi verwendet werden. Als Bezugssystem, in der Notation, wird die gleichschwebende Zwölftontemperatur beibehalten: Die Mikrointervalle erscheinen als Abweichung von dieser Temperatur, wobei die zwölftönige Harmonik stets seifenblasenartig zu zerplatzen droht. Das heißt, nicht die Mikrotonalität an sich, sondern ihre Spannungen in Relation zum festen temperierten Tonhöhensystem erzeugen die fluktuierende, unsichere neue Harmonik.
Einführungstext zur Uraufführung im Rahmen der Berliner Festwochen am 16. September 1972.
Zum Doppelkonzert
Das 1972 entstandene Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester beruht, ähnlich wie Ramifications (1968–69), auf differenzierten Schwebungen. Im Orchester überwiegen die Holzbläser. Doch ist dies kein Viertelton-Stück, vielmehr gibt es unregelmäßige Tonhöhenfluktuationen. Die mikrotonalen Abweichungen habe ich in der Soloflöte (und mitunter in der ersten Orchesterflöte) mittels Griffangaben notiert, während es für die Oboe praktischer war, die Tonhöhenabweichungen mit kleinen Pfeilen zu signalisieren, da der Oboenton extrem empfindlich reagiert auf die wechselnde Konfiguration des Mundraums, die feinsten Änderungen des Drucks der Lippen und der Zähne. Der Oboenton und der Flötenton sind extrem antagonistische Gebilde: Ob eine Luftsäule vibriert oder aber ein Rohrblatt – das sind zwei Welten.
Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project IV, 8573-88263-2), Hamburg 2003.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 260-261. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014