György Ligeti

Melodien

Titel
Melodien
Untertitel
für Orchester
Category
Ensemble/Kammerorchester
Ensemble
Dauer
13:00
Anzahl Mitwirkende
16
Besetzung
1 (auch Picc.) · 1 (auch Ob. d'am.) · 1 · 1 - 2 · 1 · 1 · 1 - S. (Pk. · Xyl. · Vibr. · Glsp. · Crot.) (1 Spieler) - Klav. (auch Cel.) - Str. (8 · 6 · 6 · 4 · 3; auch solistische Streicherbesetzung 1 · 1 · 1 · 1 · 1 möglich)
Entstehung
1971
Uraufführung
1971-12-10

Nürnberg · Philharmonisches Orchester Nürnberg · Dir.: Hans Gierster

Auftraggeber
Nürnberg · Philharmonic Orchstra Nürnberg · Hans Gierster, conductor
Audio
Copyright

György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580

Kommentare des Komponisten zum Werk

Das Orchesterstück Melodien habe ich 1971 komponiert. Ich habe darin versucht, die dichte »Mikropolyphonie« meiner Musiksprache aufzulockern, transparenter zu machen. Im Grunde genommen bin ich meinem früheren Stil treu geblieben: Die musikalische Form entfaltet sich wie ein ausgespanntes Gewebe in der kontinuierlich weiterfließenden Zeit, doch die Einzelstimmen verschmelzen nicht mehr wie in meiner früheren Musik, vielmehr bleiben sie in ihrer Überlagerung und Verflechtung einzeln durchhörbar. Die Stimmen werden zu individuellen Melodien, mit eigenem Duktus, Tempo, Rhythmus und eigener intervallischer Struktur. Hört man das Werk zum ersten Mal, erscheint es als Chaos diskrepanter Melodien, kennt man die Musik aber besser, werden die internen Zusammenhänge, wird das verborgene harmonische Skelett der Form erfassbar.

Einführungstext für ein Symphoniekonzert des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart am 6. Oktober 1972.

Über Melodien

Mit diesem Stück, das nicht nur Melodien heißt, sondern auch wirklich aus Melodien besteht, widerspreche ich scheinbar meiner eigenen Kompositionsweise. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre habe ich in meinen Stücken, also vor allem in Apparitions, Atmosphères und Volumina, nicht nur jede melodische Konfiguration abgeschafft, sondern auch alle erkennbaren Spuren von Harmonik und Rhythmik getilgt, und statt dessen mit sehr dichten und komplexen Geweben mikropolyphoner Struktur gearbeitet. Musikalische Gestalten – ob harmonische, melodische oder rhythmische – waren diesen unifizierten Netzstrukturen fremd.

Im Laufe der sechziger Jahre bin ich dann zu neuen Einsichten gekommen, was meine eigene kompositorische Arbeit betrifft. Dauernd mit solch homogenen Klangflächen und polyphonen Netzen zu arbeiten, schien mir unbefriedigend. Wenn ich das weitergemacht hätte, wäre ich ein Selbstepigone geworden. Ich trachte immer danach, für ein kompositorisches Problem eine bestimmte Lösung zu finden, und wenn ich eine solche Lösung gefunden und in einer Komposition realisiert habe, möchte ich dasselbe nicht noch einmal machen. Das bedeutet nicht, dass jedes neue Stück etwas vollkommen anderes darstellt; es geht vielmehr um eine ganz allmähliche Transformation des Stils und der Kompositionstechnik. Komponieren ist für mich nicht nur ein Prozess bewusster Überlegung, sondern durchaus auch intuitiv. Ich stelle mir einfach Musik vor, und wenn ich dann komponiere, schaltet sich auch die Spekulation ein, aber der erste Impuls ist immer etwas Spontanes. Ein solch spontaner Impuls war für mich gegen Mitte der sechziger Jahre das Bedürfnis, meine bisherige Schreibweise nicht weiter auszufeilen und aufzufächern, sondern mit aller Entschiedenheit fortzuentwickeln, in etwas Neues zu transformieren. Und so habe ich versucht, aus den homogenen Netzkonstruktionen wieder deutliche Konturen – Gestalten mit melodischem und rhythmischem Profil – herauszuarbeiten, freilich ohne meinen früheren Stil aufzugeben und ohne zu historischen Stilformen zurückzukehren.

Melodien ist sicherlich eine Konsequenz meiner Arbeiten aus den letzten Jahren, des Zweiten Streichquartetts, des Bläserquintetts und des Kammerkonzerts – Stücken, in denen einzelne melodische Linien aus dem polyphonen Kontext hervortreten. Der Titel Melodien bezeichnet dabei einen ganz konkreten musikalichen Sachverhalt, hat freilich insgeheim noch einen anderen Aspekt – etwas von »épater l’avantgarde«, weil Melodien in der neuen Musik so lange tabu waren. Es handelt sich indes nicht um »schöne Melodien« im spätromantischen Sinn, vielmehr um eine Konfiguration von sehr vielen Melodien mit unterschiedlichem Tempoverlauf und unterschiedlicher rhythmischer Struktur.

In den letzten Jahren hat mich die Musik von Charles Ives sehr beeindruckt. Aber direkte Ives-Einflüsse sind in meinem Orchesterstück sicher nicht zu finden, denn bei Ives geht es eher um Collagen, um eine polytonale und polyrhythmische Konstellation diskrepanter Musikstücke. Das ist hier keineswegs der Fall, doch die Möglichkeiten, die ich bei Ives gefunden habe, spielten gewiss eine Rolle bei der Konzeption einer solchen Simultaneität disparater melodischer Abläufe. Die Satztechnik erinnert indes stark an meinen bisherigen Stil, denn global betrachtet bilden die Melodien ein großes kontrapunktisches Gewebe. Während die Polyphonie bisher jedoch ziemlich homogen erschien, ist sie hier stark heterogen – gewissermaßen durchsichtig, um eine optische Analogie anzuführen. Man kann die Stimmen einzeln – als Melodien – hören. Darum habe ich als Besetzung ein kleines Symphonieorchester mit solistischen Bläsern gewählt1, damit die einzelnen Melodien sich auch durch ihre Klangfarben deutlich voneinander abheben. Hatte ich bisher stets einen mehr oder weniger homogenen Klang angestrebt, so konzentriert sich mein Interesse jetzt eher auf eine Art Spaltklang.

1 Nach Erfahrungen mit mehreren Aufführungen habe ich mich entschieden, auch die fünf Streicherstimmen solistisch zu besetzen. Somit handelt es sich nicht mehr um ein Symphonie-, sondern um ein Kammerorchester (Anm. 2002).

Einführungstext von 1972. Ausschnitt aus einem Interview vom 10. Dezember 1971 (»György Ligeti gibt Auskunft. Ein Gespräch mit Monika Lichtenfeld«), zuerst erschienen in: Musica, 26 (1972), Nr. 1, S. 48–50.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 258-260. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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