Trio
II Vivacissimo molto ritmico
III Alla marcia
IV Lamento. Adagio
Ein melodisch-harmonischer Keim – große Terz (g–h), Tritonus (es–a), kleine Sexte (c–as)
in absteigender Sukzession, eine »schiefe« Variante der »Hornquinte« –
wird in allen vier Sätzen zu durchsichtigen, metrisch-rhythmisch
komplexen polyphonen Formgebilden entwickelt.
Im einleitenden
Satz spielt die Violine eine Art zweistimmigen Choral (der eine
Fortspinnung des Hornquintenkeims darstellt), das Horn eine nichttonale,
jedoch diatonische Melodie und das Klavier Echos und Varianten des
Violinchorals. Jedes Instrument hat seine eigene melodisch-rhythmische
Ebene, die drei Ebenen sind asymmetrisch gegeneinander verschoben. Der
Satz verliert sich in den gläsernen Höhen der Flageolettöne der Violine.
Ich hatte beim Komponieren die Vorstellung einer sehr fernen, zarten
und melancholischen Musik, die gleichsam durch atmosphärische
Kristallbildungen gefiltert erklingt.
Der zweite Satz ist ein sehr schneller polymetrischer Tanz, inspiriert von verschiedenen Volksmusiken nichtexistierender Völker, als ob Ungarn, Rumänien und der ganze Balkan irgendwo zwischen Afrika und der Karibik lägen. Ähnlich wie bei Schumann und Chopin gibt es in diesem Satz komplexe Hemiolenbildungen durch die Aufteilung des Grundpulses von acht Schlägen in 3 + 2 + 3, 3 + 3 + 2 und so fort. Da jeweils verschiedene Aufteilungen in den drei Instrumenten simultan erklingen, ergibt sich eine polymetrische Struktur von großem Reichtum. Horn und Klavier werden in diesem Satz virtuos behandelt – das Ventilhorn als eine Kombination aus verschiedenen Naturhörnern (wobei Natur-Septime und Natur-Undezime eine Rolle spielen), das Klavier in einer Satztechnik, die unterirdisch von der Tradition der Jazzpianistik gespeist wird.
Der dritte Satz, ein Marsch mit verschobenen metrischen Schichten und einem homophonen Trio, stellt eine formale Variante des ersten Satzes dar: Beide sind A–B–A-Formen mit variierter Reprise des A-Teils. In der Reprise dieses Satzes dominiert das Horn mit signalartigen Melodiebildungen, die aus der Hornmelodie des ersten Satzes abgeleitet sind.
Während die ersten vier Sätze vorwiegend diatonisch sind, ist der Schlußsatz eine chromatische Variante der bisherigen Sätze in Form einer Passacaglia. Ein fünftaktiges Harmoniemodell (eine Variante des Hornquintenkeims) bildet das Gerüst, absteigende chromatische Melodiebildungen sind die Lianen, die das Grundgerüst immer stärker durchwachsen, bis die Fünfakkordfolge vollständig aufgelöst wird. Eine sehr langsam verlaufende dramatische Steigerung im Wachstum der »weinenden und klagenden« melodischen Lianen bildet die Grundlage des Formprozesses und führt schließlich zur Transformation des Klaviers in ein tiefes Schlaginstrument. Das Echo dieser imaginären riesenhaften Trommel klingt in den Pedaltönen des Horns nach. Als Reminiszenz erscheint auch der Hornquintenkeim in Klavier und Violine, doch seltsam verfremdet, wie das Foto einer Landschaft, die inzwischen im Nichts aufging.
Mein Horntrio habe ich als »Hommage« Johannes Brahms gewidmet, dessen Horntrio als unvergleichliches Beispiel dieser Kammermusikgattung im musikalischen Himmel schwebt. Gleichwohl finden sich in meinem Stück weder Zitate noch Einflüsse Brahms‘scher Musik – mein Trio ist im späten 20. Jahrhundert entstanden und ist, in Konstruktion und Ausdruck, Musik unserer Zeit.
Einführungstext zur Uraufführung am 7. August 1982 in Hamburg-Bergedorf.
Zum Horntrio
Zwischen 1977 und 1982 habe ich, außer zwei kleinen Cembalostücken, keine Komposition beendet. Gearbeitet habe ich jedoch kontinuierlich, nur wanderten dann Hunderte von Skizzen in den Papierkorb. Es war keine »private Krise«, sondern eine allgemeine, die viele Komponisten (nicht alle) betraf. Der Primat der »Darmstädter Schule« wurde in den siebziger Jahren von mehreren Komponisten verschiedener Generationen in Frage gestellt. Selbstverständlich war dieser Primat nur eine Illusion von Künstlern und Journalisten, die zum inneren Kreis gehörten – wie ich, wenn auch locker und mit Skepsis. Die Idee »Darmstadt« in den fünfziger und sechziger Jahren gründete noch auf »unbefleckter« Kunst. Durch das Fernsehen und die anderen Massenmedien setzte etwa Mitte der siebziger Jahre – auch in den bildenden Künsten – eine Kommerzialisierung ein. Natürlich gibt es dieses Phänomen, seit Menschen überhaupt Erzeugnisse austauschen. Doch der Umfang der Kommerzialisierung veränderte das Gleichgewicht zwischen Kunst und Reklame.
Sich zu beklagen, dass früher noch »idealistische Kunst« möglich war, ist zwecklos: In vieler Hinsicht hat die Explosion der technologischen Möglichkeiten, die Flut der nicht notwendigen, gleichwohl machbaren »Gadgets« das Alltagsleben der Menschen (nicht aller!) qualitätsmäßig verbessert. Ich hoffe aber, dass es trotz allem »Event Marketing« weiterhin Nischen für Kunst und Kultur, für Bücher aus Papier und für Musik auf akustischen Instrumenten geben wird.
1982 habe ich mich entschlossen, das Spiel um die »Krise« nicht mehr mitzumachen. Selbstverständlich bin ich – unbewusst – immer etwas modisch, und so entstand das halb ironische, halb tiefernste (viersätzige!), konservativ-postmoderne Trio für Violine, Horn und Klavier, wobei ich als Kernmotiv und »Hommage à Brahms« ein falsches Zitat aus Beethovens Les Adieux-Sonate verwendet habe. Die traditionellen Formschemata aller vier Sätze sind offensichtlich – und ich habe diese Schemata auch aus einer Art Aufmüpfigkeit gegen die etablierten Konventionen der Avantgarde heraus zitiert. Doch zielte mein Protest und »Anderswollen« nicht in die Richtung der Slogans von »neuer Einfachheit«, »Minimalismus« oder »Neoexpressionismus« – das Trio ist zwar expressiv, doch nicht expressionistisch. Es lässt sich nicht in einer vorgefertigten stilistischen Schublade unterbringen, denn es hat Ecken und falsche Böden, die nirgendwo hinpassen.
Auch gibt es in dieser Musik verschiedene Schichten, die in ihrem Zusammen- wirken absolut keine »postmoderne« kompositorische Konzeption markieren. Zum einen gibt es da eine emotionale Schicht, vor allem im vierten Satz, die mit tradierten Kategorien nicht erfassbar ist. Nostalgie nach einer nicht mehr existierenden Heimat? Ferner gibt es eine Schicht von kulturellen Konnotationen – im zweiten Satz etwa eine Art imaginärer, synthetischer Folklore aus lateinamerikanischen und balkanischen Elementen. Sowohl Samba und Rumba als auch die balkanischen »hinkenden« Aksak-Tanzrhythmen basieren auf asymmetrischer Metrik. Exotismus? Keinesfalls, und auch nicht Folklore. Ebenfalls keine Folklore im vierten Satz, dennoch Allusionen an die in meiner Kindheit sehr intensiv erlebte Zigeunermusik. Im Marschteil des dritten Satzes gibt es eine Geste, die – nicht wirklich, doch in manchen Konturen – Beethoven‘sche Scherzi zitiert. Und der Pseudo-Beethoven‘sche Gestus wird überlagert von der Steve-Reich‘schen Idee der Phasenverschiebung. Der vierte Satz als »Passacaglia« beruht auf fallender Chromatik, das ist ein Klischee aus der Barockmusik. Doch all diese Schichten und Elemente verdecken nur eine ganz anders geartete musikalische Wirklichkeit, die nicht entschlüsselbar ist.
Das Intonationssystem dieses Trios ist heterogen: Das Klavier spielt so, wie es gestimmt wurde – temperiert. Die in reinen Quinten gestimmte Violine weicht, wie immer bei Kammermusik für Streicher und Klavier, von der temperierten Stimmung erheblich ab. In einer klassisch-romantischen Violin-Klavier-Sonate bemüht sich der Geiger, annäherungsweise der Stimmung des Klaviers zu folgen (jedenfalls in langsamen Sätzen), was aber immer approximativ bleibt – und das gehört zur Aura der Gattung. In meinem Trio aber habe ich die technischen Möglichkeiten des Ventilhorns auf die Spitze getrieben, nicht nur hinsichtlich der Virtuosität – da ich kein Instrument richtig gut beherrsche, ist es mein geheimer Ehrgeiz, absolut instrumentengerecht zu komponieren. So schrieb ich diesen Part eigentlich nicht für ein Ventilhorn in F/B, sondern für eine Gruppe von Naturhörnern. Auf einem echten Naturhorn wäre das Klangergebnis viel schöner, doch dann bräuchte der Hornist eine kurze Pause, um den Aufsatzbogen zu wechseln. Dafür reicht die Zeit nicht, deshalb ist das Stück für Ventilhorn geschrieben, doch konzipiert ist es in Naturhornstimmungen, und diese sind in der Partitur angegeben. So erklingen vorwiegend untemperierte Obertöne, die dann den Geiger in seinen Griffen verwirren. Das ist Absicht und gehört zu den Vexierspielen dieser nichtevidenten Musiksprache.
Einführungstext (1997) für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 7, »Chamber Music«, SK 62309), 1998.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 282-285. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014