György Ligeti

Aventures & Nouvelles Aventures

Titel
Aventures & Nouvelles Aventures
Untertitel
Musikalisch-dramatische Aktion in 14 Bildern
Category
Bühnenwerk
Oper
Dauer
23:00
Anzahl Mitwirkende
10
Besetzung
Koloratursopran · Alt · Bariton - Flöte (auch Picc.) - Horn - Schlagzeug (1 Spieler - reich besetzt) - Cembalo · Klavier (auch Celesta) - Cello · Kontrabass
Entstehung
1966
Uraufführung
1966-10-19

Pantomimische Version · Stuttgart · Stuttgarter Oper · Gertie Chalent, Sopran · Marie Thérèse Cahn, Alt · William Pearson, Bariton · Regie: Rolf Scharre · Mitglieder des Orchesters der Stuttgarter Oper · Dir.: Friedrich Cerha

Libretto
György Ligeti
Kommentare des Komponisten zum Werk

Aventures und Nouvelles Aventures

Abenteuer der Form und des Ausdrucks, imaginäre Handlungen, labyrinthische Verquickung von verfremdeten Gefühlen und Trieben, von Spott, Verhöhnung, Idyll, Nostalgie, Trauer, Angst, Liebe, Humor, Exaltation, Leidenschaft, von Traum und Wachsein, Logik und Absurdität.

Die Grundlage der Form bilden fünf miteinander verwobene musikalische Ereignisse, gleichsam fünf parallele »stories«. Der Vielzahl der gleichzeitigen Ereignisse gemäß stellt jeder der drei Solisten in dichter Sukzession mehrere verschiedene Personen dar. Den irisierenden Ausdruckscharakteren entspricht der Text des Stückes in nichtsemantischer, imaginärer »Sprache«: eine phonetische Komposition, die aus der musikalischen hervorgeht und mit dieser eine organische Einheit bildet.

Einführungstext zur Uraufführung im Rahmen der Konzertreihe Das neue Werk im Norddeutschen Rundfunk Hamburg am 4. April 1963.

Über Aventures

Seit mehreren Jahren beschäftigt mich das Problem der totalen Verschmelzung von Sprache und Musik. Statt Texte zu »vertonen«, möchte ich eine Kunstart auf der Grenze zwischen Musik und Poesie schaffen: Musik wird artikuliert wie Sprache – ein imaginärer, nichtsemantischer Text wird komponiert wie Musik. Ein erster Versuch in dieser Richtung war das elektronische Stück Artikulation (1958). In Aventures (1962) habe ich die Recherchen dieses elektronischen Stücks auf rein vokalem und instrumentalem Gebiet weitergeführt. Zwei kompositorische Aspekte sind für Aventures bezeichnend, ein musikalisch-phonetischer und ein affektiv-dramatischer. Der aus der Eigenart der Musik resultierende »Text« ist Träger einer komplexen Struktur von Affekten: Angst, Aggression, Leidenschaft, Exaltation, Ironie, Verhöhnung, Nostalgie, Trauer, Übermut, Scherz sind so miteinander verquickt, dass ein Labyrinth aus verfremdeten Gefühlen und Trieben entsteht. Dieses Labyrinth der Affekte kann auch als eine Art theatralischer Handlung verstanden werden: Jeder einzelne Sänger stellt in dichter Sukzession verschiedene imaginäre Personen dar, die miteinander in rätselhaft-absurde Konflikte geraten. Nur handelt es sich hier nicht um eine reale, auf der Bühne darstellbare Aktion, vielmehr spielt sich das »Theater« innerhalb der Musik ab – Affekte, Handlung, Text, Musik bilden, in engster Verknüpfung, eine einzige Struktur.

Einführungstext von 1964.

Aventures und Nouvelles Aventures

Die musikalisch-phonetisch-dramatischen Stücke Aventures und NouvellesAventures stellen insofern eine neue Kunstgattung dar, als in ihnen Text, Musik und imaginäres Bühnengeschehen völlig ineinander aufgehen und eine gemeinsame kompositorische Struktur bilden. Es gibt hier keinen meinenden und bedeutungstragenden Text, der dann durch Musik »vertont« wäre. Dagegen gibt es einen musikalisch-phonetischen »Text«, der weder einer bestimmten menschlichen Sprache angehört noch durch Transformation oder Verfremdung einer Sprache entstanden ist. Dieser »Text« hat keinen semantischen, dagegen einen ausgeprägt affektiven Sinn: Die klanglich-expressive Grundschicht menschlicher Lautgebung wurde zu einer selbständigen Lautkomposition entwickelt. Die eigentlich musikalische Komposition bildet mit der Lautkomposition eine untrennbare Einheit: Der Text wird durch die Musik, die Musik durch den Text vermittelt. Der instrumentale Satz »begleitet« den vokalen nicht, vielmehr sind die einzelnen Instrumente so behandelt, dass sie die menschlichen Laute ergänzen und hervorheben: Die phonetische Komposition reicht bis in die instrumentale Klangkomposition hinein.

Durch die semantisch unverständliche, affektiv jedoch deutlich verständliche musikalisch-phonetische Struktur wird eine im konkreten Sinn zwar rätselhafte, unter dem Aspekt menschlicher Ausdruckscharaktere und Verhaltensweisen aber durchaus sinnvolle dramatische Handlung angedeutet. Wir erleben eine Art imaginärer Oper: abenteuerliche Peripetien virtueller Personen auf einer virtuellen Bühne. Die Situation ist dabei umgekehrt wie im Theater: Die Handlung findet nicht auf der Bühne statt, die Musik wird nicht durch agierende Personen vermittelt, vielmehr werden Bühne und Bühnenhelden erst durch die Musik evoziert, wobei jeder einzelne Sänger eine Vielzahl irrealer Personen darstellt – nicht die Musik spielt zu einer Oper, sondern eine »Oper« spielt sich innerhalb der Musik ab.

Einführungstext zur Uraufführung des Gesamtzyklus Aventures und Nouvelles Aventures im Rahmen der Konzertreihe Das neue Werk im Norddeutschen Rundfunk Hamburg am 26. Mai 1966.

Über szenische Möglichkeiten von Aventures

Es störte mich immer, dass man die Handlung einer Oper nur dann richtig verstehen kann, wenn man vor der Aufführung das Textbuch oder zumindest die Inhaltsangabe gelesen hat. Wer sich unvorbereitet den Eindrücken überlässt, die er von der Bühne empfängt, nimmt einen durch Gesang verzerrten Text wahr, dessen Sinn ihm unklar bleibt, und sieht Aktionen, deren Motivierung und Zusammenhang er nicht erfassen kann.

Deshalb dachte ich schon lange daran, da man musikalische Bühnenstücke komponieren müsste, bei denen es nicht notwendig ist, den Text wörtlich zu verstehen, um die Vorgänge auf der Bühne zu begreifen. Solch ein Text dürfte keine begrifflichen Zusammenhänge fixieren, sondern müsste menschliche Emotionen und Verhaltensweisen unmittelbar wiedergeben, sodass trotz der begrifflichen Unsinnigkeit des Textes szenische Momente und Aktionen als sinnvoll aufgenommen werden können.

Eine Diskussion, die in irgendeiner fremden Sprache geführt wird, begleitet von Mimik und Gestik, kann man zwar in ihrem sachlichen Inhalt nicht verstehen, doch die emotionale Situation, die zwischen den Diskutierenden entsteht, kann man durchaus begreifen. Setzt man anstelle »irgendeiner fremden Sprache« eine fiktive Kunstsprache, so erzielt man die gleiche Wirkung, ja man kann diese intensivieren, indem man von vornherein auf Begriffe verzichtet und sich stattdessen auf die affektiven Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache konzentriert. Solch eine erfundene Sprache verhält sich zu wirklichen Sprachen wie die Schale zum Kern. Alle durch gesellschaftliche Umgangsformen ritualisierten menschlichen Affekte wie Einverständnis und Zerwürfnis, Herrschen und Unterwerfung, Aufrichtigkeit und Lüge, Überheblichkeit, Ungehorsam, die subtilsten Nuancen der hinter scheinbarer Zustimmung versteckten Ironie oder der hinter scheinbarer Verachtung verborgenen Hochschätzung – all das, und noch vieles mehr, lässt sich mit einer asemantischen, emotionalen Kunstsprache exakt ausdrücken.

Eine imaginäre Sprache, die menschliches Fühlen und Verhalten mitteilbar macht, muss auch für ein Bühnenstück verwendbar sein, vorausgesetzt, dass man das Theater als Piedestal menschlicher und gesellschaftlicher Verhaltensweisen betrachtet, als ein Konzentrat menschlicher Kommunikation (und auch Isolation).

In den Vokal- und Instrumentalkompositionen Aventures und NouvellesAventures habe ich eine solche Kunstsprache verwendet. Der Text, in phonetischer Schrift aufgezeichnet, wurde nicht vor dem Komponieren entworfen, sondern entstand zusammen mit der Musik, das heißt, er ist als reine Lautkomposition selbst Musik. Ausgangspunkt für die Lautkomposition war eine Vorstellung von Beziehungen affektiver Verhaltensweisen, kein abstrakter Kompositionsplan. Freilich spielt für die technische Ausführung der Komposition auch ein exakt entworfener phonetischer Plan mit bestimmten Lautgruppierungen und Lautumwandlungen eine konstruktive Rolle. Diese Lautgruppierungen und -umwandlungen wurden aber primär bestimmt aufgrund ihrer Fähigkeit, Gefühlsinhalte durch einen sprachähnlichen Duktus zu evozieren.

Es handelt sich bei Aventures und Nouvelles Aventures also nicht um eine Textvertonung im herkömmlichen Sinn. Der Text wird durch die Musik vermittelt, die Musik durch den Text: Lautkomposition und musikalische Komposition sind eine Einheit. Der Vokalsatz wird vom Instrumentalsatz nicht »begleitet«, vielmehr sind die einzelnen Instrumente so behandelt, dass sie die menschlichen Laute ergänzen oder hervorheben: Die phonetische Komposition reicht bis in die instrumentale Klangkomposition hinein.

Durch die emotionale Schicht der Lautkomposition und durch die daraus entspringende Gestik und Mimik weist das rein Musikalische in die Richtung einer inhaltlich nicht definierten, affektiv jedoch exakt definierten imaginären Bühnenhandlung. Beim Anhören der konzertanten Version der Stücke erlebt man eine Art »Oper« mit abenteuerlichen Peripetien imaginärer Personen auf einer imaginären Bühne. Es geschieht also das Gegenteil dessen, was wir bisher bei einer Opernaufführung erlebten: Bühne und Bühnenhelden werden erst durch die Musik evoziert, nicht wird Musik zu einer Oper gespielt, sondern eine »Oper« spielt sich innerhalb der Musik ab.

Selbstverständlich kann man diese »imaginäre Oper« auch als reale Oper auf eine reale Bühne übertragen. In der phonetisch-gestisch-musikalischen Komposition sind zahlreiche inhaltliche Ansatzpunkte vorhanden, die in der Musik ausgedrückten emotionalen Zustände und Vorgänge durch konkrete Assoziationen in eine reale Bühnenhandlung umzusetzen. Der Sachverhalt ist also der traditionellen Vertonung eines Librettos entgegengesetzt. Bisher war primär ein Sujet gegeben, mit Personen und einer kausalen szenischen Aktion, zu der assoziativ Musik entstand; hier aber existiert zuerst die Musik und ihr affektiver Inhalt, die möglichen Personen und ein mögliches Libretto werden assoziativ dazu erfunden.

Man könnte fragen, ob Kompositionen wie Aventures und Nouvelles Aventures, die ein vielschichtiges szenisches Geschehen bereits im Musikalischen einschließen, überhaupt einer konkreten szenischen Darstellung bedürfen. Bedeutet angesichts der mannigfaltigen Möglichkeiten, die schon in der Musik manifest sind, eine szenische Realisation nicht Verarmung und Beschränkung?

Gewiss kann man Stücke wie Aventures und Nouvelles Aventures als in sich geschlossene, reine Musik konzertant, ohne szenische Ergänzung spielen. Doch erscheint mir, subjektiv betrachtet, eine Transposition gerade dieser Stücke auf die Bühne nicht überflüssig. Denn schon beim Komponieren der Musik, das ja eine Arbeit mit Materialien einer imaginären Szenerie war, schwangen ganz konkrete, sinnliche Vorstellungen eines realen, wenn auch phantastischen und absurden Bühnengeschehens mit – absurd jedoch nur im direkten Bezug zum Alltäglichen, auf der Ebene der Verallgemeinerung menschlicher und gesellschaftlicher Verhaltensweisen schlägt das Absurde ins Sinnvolle um. Die Konzeption eines Librettos ist die endgültige Fixierung szenischer Vorstellungen, die sich bereits beim Komponieren assoziativ eingestellt hatten. Freilich könnte man ein derart reales Libretto als überflüssig betrachten, ähnlich wie man bei Opern, die ein selbständiges Theaterstück als Vorlage haben, die Musik als überflüssig betrachten könnte. Notwendigkeit oder Überflüssigkeit sind jedoch keine Kriterien der Kunst: Sie zeichnet sich gerade durch die Eigenschaft aus, dass sie sich mit bestem Gewissen den Luxus der Überflüssigkeit und Inkonsequenz leisten kann. Die szenische Realisation von Aventures und Nouvelles Aventures ist also nicht notwendig, als geistiger Luxus aber möglich und somit objektiv ungerechtfertigt, subjektiv jedoch völlig legitim.

Auf einige Merkmale der Konzeption des Librettos möchte ich im Folgenden noch hinweisen. Wesentlich erscheint mir, dass sich hinter dem dargestellten Geschehen keine »tiefere Bedeutung« verbirgt. Trotz scheinbarer Absurdität und Rätselhaftigkeit sind die Charaktere und die emotionalen gesellschaftlichen Situationen unmittelbar verständlich und durchsichtig. Wir erfahren nicht, worum es sich eigentlich handelt – und im »tieferen Sinn« handelt es sich ja tatsächlich um nichts –, doch erfahren wir ganz genau, wie sich die Personen verhalten und in welchen Beziehungen sie zueinander stehen. Unerklärliche und phantastische Gestalten, die auf der Bühne erscheinen, haben keine Bedeutung an sich, sondern nur im Netzwerk der Verhaltensweisen der die Bühne bevölkernden »Gesellschaft«.

Das gesellschaftliche Benehmen der Bühnenfiguren ist verfremdet. Die wirkliche menschliche Gesellschaft wurde gleichsam seziert, einzelne Verhaltensweisen wurden wie ein präpariertes Organ herausgehoben und zu einem neuen Organismus zusammengesetzt, der dem realen analog ist, aber gleichsam windschief zu ihm funktioniert. Dabei handelt es sich nicht um eine Collage aus Verhaltensweisen, sondern um eine organische Komposition.

Die verfremdete Darstellung menschlichen Verhaltens bedeutet an sich keine Gesellschaftskritik. Wenn Aspekte der »Society« durch Verfahren des Neuzusammensetzens ironisiert, ja karikiert und dämonisiert werden, so geschieht das ohne jede Tendenz. Gerade die Scheu vor »tieferer Bedeutung« und vor Ideologie macht für mich jede Art »engagierter Kunst« unmöglich. Die Verhaltensklischees der Gesellschaft sind für meine kompositorische Arbeit nur Material zur künstlerischen Formung und Umformung. Eine Rückprojektion des Werkes auf die Gesellschaft mag sich unwillkürlich einstellen, war aber nie Gegenstand meiner künstlerischen Überlegungen.

Vortrag, gehalten am 27. August 1966 im Rahmen des Kongresses »Neue Musik – Neue Szene« bei den 21. Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt. Erstveröffentlichung (als Nachwort zum Libretto von Aventures und Nouvelles Aventures) in: Neues Forvm, 14 (1967), Nr. 157, S. 91–92.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 196-201. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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