Friedrich Cerha

Drei Situationen

Titel
Drei Situationen
Untertitel
für Streichorchester
Category
Orchester
Streichorchester
Dauer
15:30
Anzahl Mitwirkende
50
Besetzung
Streicher: 14, 12, 10, 8, 6
Entstehung
2015
Uraufführung
2.11.2018
Musikverein Wien, Wien Modern: ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Duncan Ward (Dir.)
Kommentare des Komponisten zum Werk

Die Stücke sind 2014 entstanden und die Niederschrift der Partitur ist in diesem Jahr bis zur Mitte des dritten gediehen. Dann blieb die Arbeit liegen und wurde erst in den ersten Monaten des Jahres 2016 fertiggestellt.

Nach den Orchesterstücken Nacht und Eine blassblaue Vision mied meine Phantasie zusehends die schroffen klanglichen Gegensätze zwischen den einzelnen Orchestergruppen.
Mich interessierten neuerdings viel mehr die feinen Differenzierungen innerhalb eines homogenen Klangkörpers. Und so entstanden diese drei Stücke für 50 Streicher.

 

Sie sind im ersten Stück pultweise geteilt, es gibt also 25 Stimmen. In unterschiedlichen Klangformationen herrschen gehaltene Akkorde vor, am Anfang durch Stille getrennt.
Sie werden immer wieder gestört durch Attacken in kurzen Notenwerten, zunächst durch
Einzelschläge im p bis später zu dichten Bewegungsballungen im ff, - gleichsam der Einbruch der harten Realität in das meditative Grundgeschehen -, bis das antagonistische Spiel wieder zur Ruhe des Anfangs findet. Der Titel: Verstörte Meditation.
Im zweiten und dritten Stück sind die Streicher einzeln geteilt; sie sind also 50 -stimmig.

 

Das zweite Stück habe ich zunächst auf großen Papieren graphisch, aber mit exakten Angaben der Tonhöhen in den Hüllkurven notiert. Gleichzeitig habe ich auch ein Bild  gemalt.
Irrender Vogelschwarm: Als Kind hat mich die Beobachtung des Flugs der Schwärme von Staren im Herbst fasziniert, die im Herbst in die Weingärten einfielen.
Das Interesse dafür wurde durch spätere Filmaufnahmen intensiviert: Fliegt der Schwarm vom Betrachter aus gesehen von links nach rechts oder umgekehrt, sieht man zwischen den Flügelschlägen schmale Ausschnitte des Himmels, es entsteht eine Art schwarzes Gitter vor dem Hintergrund. Wendet sich der Schwarm einem zu, ergibt sich dadurch, dass die hintereinander fliegenden Tiere einander überdecken, ein flirrender schmaler Fleck, bevor sich durch neuerliche Veränderung der erste Eindruck wieder einstellt.
Über den optischen Vorgang hinaus beeindruckte mich dabei auch das völlige Aufgehen des Individuums in der Gruppe, das exakte Abstand-halten und die totale Gemeinsamkeit in der geringsten Änderung der Flugrichtung. Gleichzeitig war mir die völlige Ent-Individualisierung in der Gruppe im Bereich menschlicher Gesellschaften, -  alles,  was ich nie wollte und hasste – gegenwärtig. Mit dem Bild des Vogelflugs verband sich das von Militärparaden, Parteiaufmärschen und massengymnastischen Übungen im Nationalsozialismus und Kommunismus, Gruppenbildungen in Systemen, die Widerspruch ausschlossen und mit Verbannung und Tod ahndeten. Dass auch die Stare die Weingärten, in die sie einfielen,
vernichteten, war mir als Kind nicht bewusst.

 

Das dritte Stück repräsentiert eine einzige, allerdings klanglich vielfältige Bewegung von unten nach oben. Es ist uns eingepflanzt im Unten das Dunkle, das Undurchdringliche, den Hades, die Hölle, den Tod zu sehen, dagegen im Oben das Helle, Klare, Reine, den Himmel und auch das Eisige, - im Gegensatz zur Wärme des Lebendigen. Und wir sehen einen Aufstieg im Wandel, in einer Entwicklung zur Reife und Weite einer Geisteshaltung.
„Versuch eines Aufstiegs“ bedeutet in meiner Musik eine allmähliche Aufwärtsbewegung aus der Gleichförmigkeit einer tiefen, dunklen Masse bis hinauf zu den eisigen  Flageoletts der hohen Streicher, - natürlich über klanglich vielerlei, nahtlos ineinander übergehende Positionen.

 

Friedrich Cerha
 

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