Klavier
Köln · WDR · Alfons und Aloys Kontarsky, Klaviere
I Monument
II Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)
III In zart fließender Bewegung
Klaviertechnik
Es wird ausschließlich auf den Tasten gespielt, die Gegebenheiten des Klaviers und der Hände sind in die Musik einbezogen, wie bei Scarlatti, Schumann, Chopin (dies nur aus pianistischer Sicht – stilistisch haben die Stücke mit traditioneller Klaviermusik wenig zu tun, lediglich im dritten Stück gibt es Allusionen an die Schumann‘sche und Brahms‘sche Romantik).
In »Monument« ist Differenzierung der dynamischen Werte die vorrangige technische Aufgabe. Zu Beginn des Stückes gibt es lediglich zwei Lautstärkeebenen: ff und f, doch im weiteren Verlauf kommen andere Ebenen oder Schichten hinzu: mf, mp, p und pp. Diese dynamischen Schichten sind starr, es gibt weder crescendo noch diminuendo, und sie sind simultan anwesend. Beispielsweise ist das ff mit zwei bestimmten wiederkehrenden Tonhöhen gekoppelt (die sich dann mit der Zeit verändern, doch stets so, dass man das »Wandern« des ff verfolgen kann), und dasselbe gilt für das f und so fort. Die Pianisten spielen in dichter Sukzession und abrupt ff, p, f, mp, pp in stets wechselnder Permutation, doch dem Hörer erscheinen alle ff als eine Schicht, alle f als eine zweite, gleichsam dahinterliegende Schicht und so fort bis zur »hintersten« pp-Schicht. Bei genauer Realisation der dynamischen Differenzierung erscheint die Musik quasi drei- dimensional, wie ein Hologramm, das im imaginären Raum steht. Diese Raumillusion verleiht dem Stück einen statuarischen, immobilen Charakter (daher »Monument«).
In »Selbstportrait« habe ich die von Karl-Erik Welin und Henning Siedentopf stammende Technik der Tastenblockierung angewandt und zur »mobilen Tastenblockierung« weiterentwickelt: Eine Hand drückt die Tasten, und zwar in wechselnder Abfolge, stumm nieder, die andere Hand spielt sowohl auf den »freien« als auch auf den gerade blockierten Tasten, wodurch sich neuartige rhythmische Konfigurationen ergeben. Es wird sehr schnell und kontinuierlich gespielt, da aber einige Tasten nicht ansprechen, ist das Ergebnis eine diskontinuierliche, rhythmisch vertrackte Musik. Für diese Technik sind zwei Klaviere ideal, denn bei nur einem Instrument wäre das Resultat simpel, da nur eine Hand klingende Töne erzeugen könnte. Die zwei Pianisten sind hier im Grunde genommen ein einziger Pianist mit zwei Händen.
Metrik und Rhythmik
Die Stücke wurden gänzlich aus den Spielmöglichkeiten zweier Pianisten entwickelt: Einerseits lassen sich zwei gleiche Instrumente mit derselben Klangfarbe zu einer klanglich unauflöslichen Einheit verschmelzen – und tatsächlich ist die Musik so komponiert, dass die musikalischen Gestalten erst aus dem Zusammenwirken beider Klaviere entstehen –, andererseits erlaubt der Umstand, dass zwei voneinander unabhängige Interpreten die Musik hervorbringen, die vertrackteste Polyrhythmik und metrische Verschiebungen.
Was mich im Bereich der rhythmisch-metrischen Mehrschichtigkeit am meisten beschäftigt, ist die Erzeugung musikalischer Gestalten und Formvorgänge »zweiter Ordnung«, also von Gestalten und Prozessen, die nicht unmittelbar von den Spielern hervorgebracht werden, sondern erst durch das Zusammenwirken von Vorgängen verschiedener Konfiguration und Geschwindigkeit auf einer illusionären Ebene entstehen. Im optischen Bereich werden solche mittelbaren, illusionären Gebilde oft in der Kunst verwendet: Vexierbilder, stehende oder sich langsam verschiebende Linienmuster einer in Wirklichkeit schnell rotierenden Stroboskopscheibe und anderes mehr. Vieles in Op-art und kinetischer Kunst und das gesamte graphische Œuvre von Maurits Escher beruht auf solchen Sinnestäuschungen. Im akustischen Bereich habe ich im Cembalostück Continuum (1968) Ähnliches zu realisieren versucht: Der Interpret spielt gleichmäßig auf den Tasten in maximaler Geschwindigkeit, und dieses extreme Tempo wird ebenso wie die rhythmische Gleichförmigkeit der Attacken von Anfang bis Ende des Stückes beibehalten. Durch die wechselnde Verteilung einer wechselnden Anzahl verschiedener Tonhöhen auf die beiden Manuale entstehen illusionistische Bewegungsmuster: Man vernimmt rhythmische Gestalten, die als solche nicht gespielt werden, vielmehr Produkt der Häufigkeitsverteilung einzelner wiederkehrender Tonhöhen sind.
In den drei Stücken für zwei Klaviere habe ich diese Technik weiterentwickelt. Vor allem in »Selbstportrait« spielen solche Verfahren eine dominante Rolle. Da werden Figuren gespielt, die als solche – wegen der partiellen Tastenblockierung – gar nicht erklingen, andererseits erscheinen Stroboskopmuster, die nicht unmittelbar gespielt werden, sondern nur durch die Interaktion einzelner gespielter Figuren virtuell entstehen.
Allusion, Assoziation, Ironie
Besonders der Titel des zweiten Stückes »Selbstportrait mit Reich und Riley (und Chopin ist auch dabei)« weist auf solche Zusammenhänge hin. Während der sechziger Jahre entwickelten mehrere Komponisten, zuerst unabhängig voneinander, Formtypen beziehungsweise Formprozesse, die auf der Repetition von – unveränderten oder allmählich transformierten – Figuren und der Überlagerung solcher Figurensukzessionen beruhen. Die amerikanischen Komponisten dieser Richtung – La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich – wurden inzwischen auch in Europa wohlbekannt.
1962 schrieb ich ein Stück für hundert Metronome, in dem komplexe, unregelmäßige rhythmische Gebilde aus der Überlagerung einfacher, regelmäßiger Pulse resultieren. Weiterentwickelt habe ich diese Idee der »überlagerten Gitter« 1968 in dem Cembalostück Continuum und im Pizzicato-Satz des Zweiten Streichquartetts. Als ich die Musik Terry Rileys und später Steve Reichs kennenlernte, fiel mir die Verwandtschaft der Verfahrensweisen auf, obwohl wegen des ganz anderen kulturellen Hintergrunds die Unterschiede im Formdenken gewaltig sind: offene Verkettungsformen bei den Amerikanern, finale Entfaltungsformen bei mir. Als Hommage a` Riley und Reich (wobei persönliche Sympathiemomente gewiss auch eine Rolle spielten), zugleich aber in leicht ironischer Färbung (und ebenso selbstironisch – ich nahm mich dabei selbst auf den Arm) verschmolz ich die Techniken der Riley‘schen Patternwiederholung und der Reich‘schen Phasenverschiebung mit den eigenen Verfahren der Gitterüberlagerung und des »übersättigten« Kanons. So entstand das Tripelportrait Riley-Reich-Ligeti, und im Hintergrund scheint schemenhaft auch Chopins Profil auf. Gegen Ende des Stückes schieben sich die Bewegungsschichten teleskopartig zu einem gemeinsamen Presto unisono zusammen. Zitiert wird das Presto aus der b-Moll-Sonate Chopins allerdings nicht, doch ergibt sich eine leichte Anspielung aus dem Bewegungstypus und der Aura des eminent Pianistischen. Ganz am Ende des Stückes versickert dann diese wahnwitzig rasche Bewegung, wie im Morast: Durch Tastenblockierung gehen immer mehr Töne verloren, die musikalische Textur wird ausgefranst.
Aspekte der Form
Die drei Stücke hängen zusammen, sie bilden miteinander eine – wenn auch locker gefügte – Ganzheit. Es gibt Korrespondenzen, gleichsam formale Reime im Aufbau der einzelnen Stücke. Alle drei beginnen mit der Exposition einer verhältnismäßig einfachen musikalischen Idee, die sich dann allmählich in zunehmender Komplexität entfaltet. Richtige Entwicklungsformen sind das aber nicht, denn eine motivisch-thematische Konzeption fehlt völlig, doch sind die Formprozesse auch nicht statisch oder offen – sie haben eine eindeutige Richtung, und die Formkonstruktion ist in sich geschlossen. Ich schlage für diese Art Formen die Termini »Entfaltungsform« oder »Bewegungsform« vor: Spezifische Bewegungstypen werden stetig verwandelt, mehr und mehr verzweigt und miteinander verflochten.
Eine Beziehung zwischen »Monument« und »In zart fließender Bewegung« ergibt sich aus der allmählichen Dehnung des Tonumfangs: Beide Stücke beginnen in der Mittellage und wachsen dann in Richtung der hohen und tiefen Register. Doch ist diese Korrespondenz nur die auffälligste – unter der Oberfläche sind die formalen Beziehungen vielschichtiger. So stellt das dritte Stück eine »verflüssigte« Variante des ersten, hart-starren dar, und der choralartige Schlussabschnitt des dritten Stückes ist eine gemeinsame Coda aller drei Stücke: In den beiden ersten Stücken versickert die Bewegung im Nichts, im dritten Stück bleibt nach dem Verschwinden der schnellen Bewegung in extremer Höhe und Tiefe, wie in einer weit dahinter liegenden Ebene, der Choral übrig. Dieser Choral besteht aus den Stimmen eines achtstimmigen Spiegelkanons, der sich teleskopartig immer mehr zusammenzieht. Dies entspricht dem ebenfalls teleskopartigen Zusammenschieben der Bewegungsabläufe im zweiten Stück, und darüber hinaus gibt es im zweiten Stück ein simples, ironisierendes Kanon-Einsprengsel, das den späteren komplexen Kanon des Chorals vorwegnimmt.
Einführungstext zur Uraufführung am 15. Mai 1976 im Rahmen der Konzertreihe Musik der Zeit im Westdeutschen Rundfunk Köln. Vgl. auch »Begegnung mit Steve Reich«, in dieser Ausgabe, Bd. 1, S. 520–521.
Zu Monument – Selbstportrait – Bewegung
Die »Drei Stücke für zwei Klaviere« (1976) sind eine Weiterentwicklung der Illusionsmuster-Experimente von Continuum (1968) und zugleich eine Vorstufe zu meinen Klavieretüden (1985 ff.). In »Monument« habe ich mir eine riesige statuarische, imaginäre Architektur vorgestellt, mit der Interferenz von sechs Schichten von Gitterstäben. Diese Moiré-Struktur habe ich zum erstenmal 1962 im Poème Symphonique für hundert Metronome erdacht und 1963 dann auch im Konzertsaal » real« gehört. » In zart fließender Bewegung«, ein komplexer Spiegelkanon, ist gleichsam die verflüssigte Variante von »Monument«.
Bei dem mittleren Stück hat es wegen des Titels unendliche Missverständnisse gegeben. Als ich 1972 in Kalifornien zum ersten Mal Musik von Terry Riley und Steve Reich hörte, war ich begeistert: Wir hatten ähnliche Einfälle (bei mir das Metronomstück und Continuum, bei Riley In C, bei Reich It’s Gonna Rain und Violin Phase), unabhängig voneinander, gleichzeitig, in geographisch weit voneinander entfernten Gegenden. Deshalb sollte mein Klavierstück eine Hommage an die Verwandtschaft mit den beiden Amerikanern darstellen, und ich nannte es zunächst »Stillleben mit Reich und Riley«. Dann dachte ich mir, »Stillleben = Nature morte« ist kein sehr liebenswürdiger Titel, wenn es sich um lebende Komponisten handelt. So kam es statt »Stillleben« zu »Portrait«, doch da es kein Portrait von Reich und Riley war, sondern eine zum Teil mein Continuum persiflierende Musik, wurde daraus »Selbstportrait mit Reich und Riley«. Da ich als mechanische Selbstpersiflage am Ende des Stückes eine Allusion an das berühmte Presto aus Chopins b-Moll-Sonate einfügte (es ergab sich von selbst, aufgrund des Wesens der Minimal Music), kam zum Titel noch die Ergänzung »und Chopin ist auch dabei« hinzu.
Nun gibt es heute die Computerwelt und die Realität der Nachlässigkeit des einzelnen durch die Übertragung jeder Verantwortung auf ein automatisiertes, bürokratisches Kollektiv. Der Titel dieses mittleren der »Drei Stücke« wurde also – in fast allen Konzertprogrammen – verschluckt, da er für die schnelle Informationswelt zu langatmig ist, und erschien nur verstümmelt als »Selbstporträt«, wobei der Sinn des Titels verschwand. Als Trümmerrest blieb dieses eine Wort, das aber nichts mehr mit dem Charakter des Musikstückes zu tun hat.
Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 6, »Keyboard Works«, SK 62307), 1997.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 277-281. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014