György Ligeti

Requiem

Titel
Requiem
Untertitel
für Sopran- und Mezzosopran-Solo, gemischter Chor und Orchester
Category
Chor und Orchester
Dauer
27:00
Anzahl Mitwirkende
74
Besetzung
Gemischter Chor SMezATBOrchester: 3 · 3 · 3 · 2 - 4 · 3 Tromba bassa · 3 · 1 - S. - Cel. - Str.
Entstehung
1963
Uraufführung
1965-03-14

Stockholm · Liliana Poli, Sopran · Barbro Ericson, Mezzosopran · Chöre und Orchester des Sveriges Radio · Dir.: Michael Gielen

Zusatz
Abweichend von der früheren Besetzung für zwei Chöre verlangt der revidierte Notentext nur noch einen gemischten Chor.
Kommentare des Komponisten zum Werk

„Requiem und anderes“ – Briefnotizen zu Kompositionen 1964
Wien, 28. Dezember 19641

Ich will mehr und schneller arbeiten. Deshalb die nötige Umstellung auf »Telegrammstil« in allen Dingen des Lebens, damit Zeit für das Komponieren bleibt. Das Requiem ist ja auch noch nicht abgeschlossen. Ich dachte: bis Anfang Dezember. Doch wurde ich erst am 2. Dezember mit dem »Dies irae« fertig, und seitdem bin ich in eiligstem Arbeitstempo mit der Reinschrift dieses Satzes beschäftigt (er wurde zehn – statt ursprünglich fünf – Minuten lang, ich habe ihn ganz neu komponiert, nachdem er in anderer Form fast fertig war) und mit einem Berg von Korrekturarbeit überschüttet. Das ergibt Arbeitstage von zwölf bis vierzehn Stunden, und deshalb muss ich auch alle Korrespondenz weitgehend vernachlässigen. Es ist eine ganz schlimme Situation, ich fühle mich wie ein Ertrinkender. Ich erhalte in letzter Zeit dauernd Telegramme mit Anfragen, weshalb ich dringende Briefe nicht beantworte. Das ist unangenehm, doch das Wichtigste ist nun das Requiem. Ich hoffe, bis Ende Dezember mit der Reinschrift des dritten Satzes fertig zu werden (die Chorpartitur wurde bereits fertig, und ich konnte am 15. Dezember das Material für Eric Ericson und die beiden Soli nach Stockholm schicken). Doch der vierte Satz bleibt für Januar. Er ist aber kurz, nur drei Minuten, und im Kopf ganz fertig – ohne Chor, nur zwei Soli mit Orchester.

Ich hätte das Requiem längst fertig haben sollen. Doch war ich mit dem dritten Satz nicht zufrieden. Ich habe immer wieder etwas geändert, bis ich nun die Form gefunden habe, die ich suchte. Das ganze Stück ist eine »Riesenpartitur«; Sie werden schwindlig werden, wenn Sie die vielen Noten sehen. Aber nun sind von den fünfundzwanzig Minuten Musik zweiundzwanzig fertig. Der dritte Satz verlangte die meiste Arbeit. Auch für die Solisten wird es hier ernste Aufgaben geben (im vierten Satz wird es für sie nicht so schwer sein, da es sich um eine Art Epilog handelt, sehr schlicht und ruhig). Der dritte Satz (»Dies irae«) aber ist sehr kontrastreich und dramatisch, er muss mit großer Verve und Expressivität gesungen werden. Beim »Tuba mirum«, einem Mezzosopran-Solo mit eingeflochtenen Chorstellen und dramatischen Bläsern, habe ich vor allem an die Stimme von Barbro Ericson gedacht. Eine erhabene Kraft muss hier zum Ausdruck kommen. Ja, die Gesangsschwierigkeiten sind groß, doch lange nicht so groß wie in Aventures. Also wird hoffentlich alles gut realisierbar sein. Zuerst werden die Solisten denken, in den Sprüngen lägen die Schwierigkeiten. Doch dann, nach kurzem Studium, wird es sich zeigen, dass die Sprünge ganz gut einzuüben sind und dass die echten Schwierigkeiten im Ausdruck liegen. Es ist schließlich ein »Dies irae«, und man muss es mit äußerster Ekstase singen.

Ich denke – aber freilich kann ich mich irren –, dass das Requiem, und vor allem das »Dies irae«, das Beste ist, was ich bisher komponiert habe. Das wird bei der Aufführung, beim erstmaligen Hören, vielleicht nicht offenbar. Es kann vielmehr sein, dass viele Leute enttäuscht sind und sagen werden, ich sei kein »Avantgardist« mehr. Denn das »Dies irae« kann konservativer als meine anderen Stücke erscheinen, wegen der Art der Dramatik und des Ausdrucks und wegen der Verwendung einer sehr strengen polyphonen Satztechnik. Dazu würde ich aber sagen: Es kümmert mich nicht, ob ich zur »Avantgarde« oder zur »Reaktion« gerechnet werde. Es kümmert mich nur, diejenige Musik zu komponieren, die mir vorschwebt. Ideologische Gesichtspunkte sind für mich unwesentlich, und ich will meine Musik nicht ideologisch-theoretisch untermauern. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint mir Strawinskys Auffassung als die einzig richtige. Wie Strawinsky bin ich gleichgültig gegen die Kategorie »Modernität«. Das hat bei mir aber nichts zu tun mit »épater l’avant-garde«. Ich will nicht »épater«, ich will einfach tun, was ich für richtig halte. Das ist alles. Das Modische interessiert mich nicht.

Hinter der scheinbar »nicht-avantgardistischen« Fassade des »Dies irae« gibt es aber zwei ganz neue Phänomene, und zwar eine neue Formkonzeption, eine Art »imaginärer Perspektive« innerhalb der Form, welche die dramatische Spannung erzeugt, und eine neue, sehr strenge Polyphonie. Die Ufer der seriellen Musik liegen weit entfernt.

Sie werden sehen, dass diese vier Sätze des Requiems eine Art Zusammenfassung meiner bisherigen Kompositionsweise sind (das ist jedoch nur ein Aspekt, denn andererseits sind sie etwas Neues und für mich jedenfalls ein Wendepunkt): Der Typus von Volumina und von Atmosphères ist in den Sätzen 1 und 2 zu finden (doch durch die Kontrapunktik weiterentwickelt), der Typus von Aventures dagegen im dritten Satz. Eigentlich wächst dieser Satz, das »Dies irae«, aus dem »Allegro appassionato« von Aventures hervor, doch geht er sowohl technisch als auch im Ausdruck entschieden weiter. Dass aber die »Zusammenfassung« bisheriger Bestrebungen nur ein Aspekt ist und dass die neuen kompositorischen Ideen für das Stück noch wesentlicher sind, das bezeugt die Formkonzeption des »Dies irae«. Kommende Kompositionen sind darin keimhaft enthalten, und vieles werden Sie deutlich sehen, wenn Sie die künftige Oper für Stockholm hören: Die Dramatik des Requiems ist der Vorläufer dessen, was ich in der Opernpartitur machen werde. Deshalb betrachte ich das Requiem als eine Art Scheidelinie zwischen den bisherigen und den zukünftigen Stücken.

Apropos Nachrichten – ich habe noch einige erfreuliche. Die Sache mit Donaueschingen ist inzwischen endgültig fixiert: 1967 wird dort ein neues Stück für großes Orchester (ohne Schlagzeug und ohne Tasteninstrumente, nur Bläser und Streicher in großer Besetzung) aufgeführt. Ich habe eine Vorstellung von einem »vollen« Orchesterklang – ganz anders als in meinen bisherigen Stücken. Die kontrapunktische Technik des Requiems will ich für ein dichtes Gewebe aus vielen Instrumentalstimmen weiterentwickeln. Das Stück wird ein sehr komplexes, sehr weiches Gebilde sein, mit sehr vielen Pianissimo-Tutti-Stellen und verästelten Bewegungen der Stimmen. Die »Klangfarbe« wird nicht mehr die Hauptrolle spielen (zwar wird aus einer besonderen Art, Registerwechsel der Instrumente zu kombinieren, eine neue Klangfarbentechnik resultieren, doch ist dies schon im Requiem zu beobachten). Wesentlicher werden dagegen die interne Struktur des »Riesengewebes« und die Formgliederung sein. Etwas wie Atmosphères will ich nicht mehr schreiben – das kann man nicht noch einmal machen. Aber vorher muss noch das Stück für Cello und kleines Orchester, das 1966–67 in Berlin herauskommt, beendet werden. Ja, und nun habe ich auch viele Gedanken für den Stockholmer Opernplan. Den Text werde ich doch selbst schreiben, kein existierender Text passt zu meinen musikalischen und szenischen Vorstellungen. Auch das Kammerorchesterstück für Jyväskylä soll 1967 fertig sein. Und nun kam noch ein Auftrag: Die Koussevitzky Foundation in Washington will ein Stück für Kammerensemble mit mehr als neun Instrumenten. So werde ich einen schon lange gehegten Plan realisieren – eine Komposition für zwölf Solostreicher (sechs Violinen, drei Bratschen, zwei Celli und ein Kontrabass, also eigentlich drei Streichquartette, wobei ein Cello durch einen Kontrabass ersetzt ist). Es wird ein ziemlich virtuoses Stück werden.

Sie sehen: Pläne, Vorstellungen habe ich eine ganze Menge – aber die Zeit?

1 Auszüge aus einem Brief an den schwedischen Musikredakteur Ove Nordwall in Stockholm, wo am 14. März 1965 die Uraufführung des Requiems stattfand.

Erstveröffentlichung unter dem (vom Verfasser nicht autorisierten) Titel »Viele Pläne, aber wenig Zeit«, in: Melos, 32 (1965), Nr. 7–8, S. 251–252.

Zum Requiem

Textgrundlage des Requiems sind drei Teile aus dem Text der Totenmesse: »Introitus«, »Kyrie« und »De die judicii sequentia«. Die letzten Verse der Sequenz (»Lacrimosa«) wurden in einem gesonderten Satz verwendet, sodass das Werk insgesamt vier Sätze hat.

Der Charakter des »Introitus« ist vorwiegend statisch. Ein polyphones Stimmengewebe ist scheinbar zum Stillstand gebracht, da die einzelnen Chorstimmen so ineinander verschlungen sind, dass ihre Bewegungen sich wechselseitig ergänzen und aufheben. Das so entstehende klangliche Irisieren beruht vor allem auf der gleichsam versteckten Polyphonie. Man könnte sie als »Mikropolyphonie« bezeichnen, denn der Klang selbst ist intern kontrapunktisch strukturiert.

Trotz seiner Statik hat dieser Satz auch einen Aspekt der Veränderung, die sich vor allem in der Behandlung der vokalen Register und in der Disposition der Instrumentalfarben manifestiert. Zu Beginn singen nur die Bässe des Chors, aufgeteilt in vier polyphon verschränkte Einzelstimmen; zu ihnen gesellen sich später Tenöre und Altstimmen, ebenfalls vierfach unterteilt, wobei die dunkle Klangfarbe des tiefsten Altregisters dominiert. Nach und nach, durch das Hinzukommen der beiden Solostimmen (Mezzosopran und Sopran), dann der Mezzosopran- und schließlich der Sopranstimmen des Chors (während die Männerstimmen aussetzen) verwandelt sich die Klangfarbe in ein Helldunkel, wobei selbst die Soprane nicht über ihr unteres Mittelregister hinausgehen. Auf diese Weise hellt sich die Musik, aus Regionen extremer Finsternis aufsteigend, in sehr verhaltener, allmählicher Wandlung auf, bis hin zu den milden, wie aus großer Ferne erstrahlenden Regionen des »Lux perpetua«.

Das Gewebe der Chorstimmen wird von Zeit zu Zeit von statischen instrumentalen Klangflächen unterbrochen. Diese Flächen sind so konstruiert und ihre Abfolge ist so angeordnet, dass sich die allmähliche Aufhellung der Register noch deutlicher kundtut: Vom Posauneneinsatz des Satzanfangs und der darauffolgenden finstersten Klangfarbenregion – aus Kontrabassklarinette, Kontrafagott, Kontrabassposaune, Kontrabasstuba und Streicherkontrabässen – über das »schwarze Licht« aus den tiefsten möglichen Streicherflageolettönen der ersten »Lux perpetua«-Stelle bis zum Ausklingen des Satzes mit dem zweiten »Lux perpetua« im sanften Schweben der mittleren Flageolettöne bildet das graduelle Steigen der Instrumentalregister das formale Rückgrat für die Registerwandlung der menschlichen Stimmen.

Diese Rückgratfunktion der Instrumente ist für das ganze Werk charakteristisch, doch die Art und Weise, wie das Orchester die Grundlage für das Gewebe des Chors und der beiden Solostimmen bildet, wechselt von Satz zu Satz. Im »Introitus« stellen die Instrumente durch ihre spezifischen Klangfarben und Farbenkombinationen den Grundriss der Form her, im »Kyrie« dagegen ist der Instrumentalsatz Träger einer bestimmten Intervallstruktur, an der das Chorgewebe gewissermaßen aufgehängt ist; in der »Sequenz« fungieren hauptsächlich dynamische und »perspektivische« Eigenschaften des Orchestersatzes als Fundament für die Vokalpolyphonie, während im »Lacrimosa« wiederum subtile Transformationen in der Mischung der Instrumentalfarben und ein harmonischer Grundriss wesentlich sind.

Das musikalische Formgeschehen, das im »Introitus« stillzustehen scheint, wird im »Kyrie« in Bewegung versetzt, in eine stetige, schmachtende und flehende Bewegung. Sie entsteht durch die Kombination zweier Ebenen kontrapunktischer Vorgänge, nämlich einer »internen« Polyphonie – eigentlich einer Weiterentwicklung der klanglichen »Mikropolyphonie« des »Introitus« – und einer kontrapunktischen Großarchitektur. Gemäß diesen beiden Ebenen ist der Chor aufgefächert: Es gibt fünf Hauptstimmen, die ein polyphones Netz miteinander bilden, wobei jede dieser Hauptstimmen eigentlich keine Stimme, sondern ein Stimmenkomplex, ein Knäuel aus vier Stimmen ist, sodass ein zwanzigstimmiger Chorsatz entsteht. Die jeweiligen vier »Unterstimmen« sind in so enger Verschlingung geführt, dass ihre individuelle rhythmische und intervallische Struktur völlig untergeht und in eine Art klangfarbliches Irisieren umschlägt – aus Bewegung wird hier Klangfarbe, da die sehr komplexen Bewegungen miteinander verschmelzen. Derart bilden die »Unterstimmen« das mikropolyphone Substrat; ihre Vereinigung, als Hauptstimme, ergibt mit den anderen Hauptstimmen die große kontrapunktische Struktur. Der gesamte Satz, der unaufhörlich, wie ein scheinbar unermesslich riesiges Gebilde erwächst, wurde nach ganz bestimmten, strengen architektonischen Gesetzen entworfen. Diese Gesetze betreffen sämtliche musikalischen Beziehungen der Intervallik, Rhythmik und Dynamik, die Klangfarbendisposition, die polyphonen Verknüpfungen und den formalen Verlauf sowohl in Einzelheiten der Gliederung als auch im Ganzen der Großform.

Das gilt freilich nicht nur für das »Kyrie«, sondern für das gesamte Werk. Nur sind die Gesetze nicht dieselben für jeden Satz und auch nicht für die verschiedenen Ebenen, Teilbereiche und formalen Beziehungen innerhalb eines Satzes. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gesetze unabhängig voneinander wären: Sie sind Aspekte einer übergeordneten Konstruktion, die die Musik gleichsam umhüllt und überwölbt und sie in ihrer Gesamtheit bestimmt. Jedes Moment der musikalischen Struktur und Form ist durch ein Netz von Beziehungen determiniert. Jede Tonhöhe, jedes Intervall, jeder Intervallkomplex, jede Dauereinheit, Dauerunterteilung und Dauerproportion fügt sich – in der horizontalen Verknüpfung wie in der vertikalen Schichtung, ja auf bestimmte Weise auch im »diagonalen« Verhältnis zwischen den intervallischen und rhythmischen Konstellationen der einzelnen Stimmen und Stimmenbündel – einer Ordnung, und es bestehen nicht nur Verbindungen zum Gleichzeitigen, unmittelbar Gewesenen und unmittelbar Folgenden, vielmehr auch gesetzmäßige Beziehungen zur weiteren Umgebung in der musikalischen Struktur. Wenn man im Körper der musikalischen Form zu anderen Regionen fortschreitet, verändern sich die Gesetze in manchen Details – in unmittelbarer Nachbarschaft sehr wenig, in entfernteren Gebieten beträchtlich, immer jedoch der übergeordneten »Geheimkonstruktion« gemäß.

Ich habe schon erwähnt, dass im »Kyrie« die Instrumentalstimmen, genauer gesagt: die Einsatztöne der Instrumentalstimmen ein intervallisches Rückgrat für die Chorpolyphonie bilden. Der Satz ist so gebaut, dass das kontrapunktische Gewebe der Chorstimmen gleichsam »weich« erscheint, während die einzelnen, in der Klangfarbe stets wechselnden Instrumentaleinsätze ein »hartes« Gerüst abgeben, an dem das Chorgewebe wie aufgehängt erscheint und sich schwebend entfaltet. Wie in jeder Schicht des Werkes gibt es auch hier verborgene formale Konstruktionen. Das Gerüst der Instrumentaleinsätze besteht, in ihrer Tonhöhensukzession, aus einer Intervallanordnung, die mehr oder weniger explizit in anderen Schichten der Struktur wiederaufgenommen wird – so etwa in der Führung der Chorstimmen. Zudem bildet dieselbe Intervallanordnung, allerdings in einer von anderen Ordnungen durchkreuzten und umgewandelten Variante, die Grundlage für die Harmonik des »Lacrimosa«-Satzes.

Im »Kyrie« hat die Instrumentation darüber hinaus auch eine gliedernde Funktion: Während der Chorsatz in unaufhörlicher Kontinuität dahinströmt, werden vom Orchester bestimmte Regionen des Chorsatzes beleuchtet und hervorgehoben, andere wieder verdeckt und verdunkelt. Dies führt, neben der polyphonen Bewegung, zu einer Bewegung höherer Ordnung von imaginären Lichtern und Schatten. Dieses Wechselspiel von Hervorhebung und Unterdrückung ist eine Eigenart der Instrumentation, die freilich erst im nächsten Satz, in der Sequenz voll zur Geltung kommt. Hier setzen extreme Helligkeits- und Dunkelheitswerte – in entfernter Anknüpfung an die diskreten instrumentalen Helligkeitsvaleurs des »Introitus« – entscheidende formale Akzente, ja sie haben eine dramatische Funktion.

Der zentrale, gewichtigste Satz des Werkes ist die Sequenz (»Dies irae«). Nach der Statik des »Introitus« und der sanften Bewegung des » Kyrie« tritt die Sequenz mit größten dramatischen Kontrasten hervor: Dichte und geballte polyphone Komplexe des großes Chores und Orchesters, homophone sotto voce-Chorstellen, entfernte, verklärte A-cappella-Chöre, im scheinbar unermesslichen Raum der Musik verlorene Einzelstimmen der Solisten wechseln abrupt ab, durchdringen einander und ergänzen sich zu einer Polyphonie musikalischer Typen und Formen. Der Orchestersatz betont die Dramatik der Sequenz: Nah- und Fernwirkungen, die sich allein aus der Klangbehandlung ergeben, die Erzeugung einer imaginären Perspektive innerhalb der musikalischen Struktur, dynamische und klangfarbliche Extreme sind bezeichnend für diese Art der Instrumentation.

Der »Lacrimosa«-Satz ist wie ein in Zeit und Raum weit entfernter Rückblick auf das vorherige musikalische Geschehen. Der Chor und das große Orchester sind verstummt, die beiden Solisten singen mit Begleitung eines reduzierten Orchesters. Momente des »Introitus« erscheinen angedeutet, doch ist dies keine tatsächliche Rückkehr, vielmehr ein Déjà-vu : Was evoziert wird, ist gleichsam nicht gegenwärtig, im Erscheinen zugleich vergangen. Technisch wird der Eindruck von »Entfernung in Zeit und Raum« hervorgerufen durch die Reduktion der früheren komplexen polyphonen Struktur auf einen nur zweistimmigen Satz, durch eine extreme Tempoverlangsamung (»mehr als Stillstand«), durch Instrumentenkombinationen, die der Musik den Charakter geben, als verlöre sie sich in gläserner Dämmerung, vor allem aber durch die »Entschlüsselung« der Harmonik der vorhergehenden Sätze: Intervallische und harmonische Konstellationen, die vorher gewissermaßen unterirdisch – eingebettet in die musikalische Struktur – vorhanden waren, werden im »Lacrimosa« offenbar.

Die Harmonik des gesamten Requiems zeigt den stilistischen Standort des Werkes an: Sie ist weder tonal noch atonal. Die Komposition liegt jenseits und außerhalb dieses historischen Antagonismus.

Kompilierte Fassung mehrerer (unterschiedlich ausführlicher) Einführungstexte, die 1966–67 für Aufführungen in Köln, Amsterdam und München geschrieben wurden. Gekürzt veröffentlicht in: Wort und Wahrheit, 23 (1968), Nr. 4, S. 309 –313.

Über mein Requiem

Das Requiem, komponiert 1963–65, ist keine vollständige Totenmesse, denn ich habe nur drei Teile aus dem lateinischen Text der katholischen Liturgie verwendet: »Introitus«, »Kyrie« und die Sequenz von Tommaso da Celano. Die Sequenz ist zweigeteilt in »Dies irae« und »Lacrimosa«. Im Zentrum des Werkes steht das »Dies irae« mit seinen dramatischen, wilden Passagen. Sie beziehen sich auf bildliche Darstellungen des Jüngsten Gerichts, besonders auf Hans Memlings Altarbild in Danzig, aber auch auf die apokalyptischen Gemälde von Pieter Breughel dem Älteren, auf Hieronymus Bosch und auf Dürers Kupferstiche. Dieser Satz ist exaltiert, hyperdramatisch und zügellos.

Das Orchester ist mittelgroß, doch sehr kompakt instrumentiert; deshalb muss der Chor aus mindestens hundert Sängern bestehen. Außerdem gibt es zwei Soli, Sopran und Mezzosopran.

Die Gesamtform ist folgendermaßen ausbalanciert: »Introitus« homophon, »Kyrie« polyphon, »Dies irae« polyphon mit homophonen »Inseln«, »Lacrimosa« zweistimmig homophon, mit reduziertem Orchester.

Das »Kyrie« ist eine »große Fuge« mit fünf Hauptstimmen (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass). Jede dieser Hauptstimmen besteht aus einem vierstimmigen Kanon, sodass der Chorsatz zwanzigstimmig ist. Die vierstimmigen »Bündel« setzen stets unisono ein, danach werden sie zu Kanons aufgefächert, gemäß – von mir aufgestellten – strengen Regeln. Diese Regeln sichern die Einheit der Faktur. Die Musiksprache ist streng chromatisch und rhythmisch komplex (auf imitatorische Art). Das Orchester schillert in changierenden Farben. Die Unisono-Einsätze der Kanonbündel werden stets instrumental gestützt, was nicht nur zur Färbung dient, sondern auch als Intonationshilfe: Die Instrumentalstimmen bilden eine Trägerstruktur für die vokalen Stimmen.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project IV, 8573-88263-2), Hamburg 2003.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 226-232. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

Verlag