I Allegro con spirito
II Rubato. Lamentoso
III Allegro grazioso
IV Presto ruvido
V (Béla Bartók in memoriam) Adagio. Mesto
VI Molto vivace. Capriccioso
György Ligeti - Six Bagatelles for wind quintet / Ensemble CARION
Diese Stücke sind, vorwiegend von Bartók und Strawinsky beeinflusst, sozusagen noch »prähistorischer« Ligeti. In Budapest gab es nach dem Krieg eine musikalische Kultur von hohem Niveau, was die klassisch-romantische Tradition betraf, doch die Kenntnis der Musik des 20. Jahrhunderts war – ausgenommen Debussy, Bartók und Kodály – sehr gering. Sobald die kommunistische Diktatur 1948 etabliert war, wurde alle »moderne Kunst« strikt verboten, auch die fortschrittlicheren Werke Bartóks wie das Dritte und Vierte Streichquartett, Derwunderbare Mandarin und die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Mit den kulturellen und künstlerischen Strömungen in Westeuropa gab es keine Berührung, und zwischen 1950 und 1954 war es sogar gefährlich, Briefe in westliche Länder zu schicken oder von dort zu erhalten. Auch Informationen über Neue Musik aus dem Radio zu beziehen, war kaum möglich, weil die westlichen Rundfunksender gestört wurden. Die Störungen zielten natürlich primär auf die Nachrichtensendungen, doch da das Rauschen sich auch anschließend fortsetzte, konnte man Musiksendungen ebenfalls nur schlecht empfangen. So bekam ich einen sehr merkwürdigen Eindruck von den Werken einiger Komponisten wie Olivier Messiaen, Luigi Dallapiccola und Hans Werner Henze, die in den frühen fünfziger Jahren übertragen wurden: Nur die hohen Töne der Piccoloflöte und des Glockenspiels durchdrangen das Rauschen.
Die Sechs Bagatellen für Bläserquintett basieren auf einer Reihe von elf Klavierstücken, die ich zwischen 1951 und 1953 in dieser völligen künstlerischen Isolation schrieb. Obwohl ich versuchte, vom Einfluss Bartóks und Strawinskys wegzukommen und einen persönlichen Musikstil zu entwickeln, gelang das nur teilweise. Im ersten Stück ist der Einfluss Strawinskys deutlich zu spüren. Das fünfte Stück (»Bartók in memoriam«) erinnert absichtsvoll an Bartóks Gestik. Wenn ich heute, nach so vielen Jahren, in denen ich einen persönlichen Musikstil (zuerst im Orchesterstück Apparitions von 1958–59) entwickelt habe, auf diese Sechs Bagatellen zurückblicke, so erscheint mir das dritte Stück, »Allegro grazioso«, als das originellste, trotz seiner altmodischen tonalen und modalen Musiksprache. Das Besondere daran ist die Idee der Orchestration. Anders als im konventionellen Satz, in dem die Flöte eine Oktave höher als die Oboe spielt und deren Obertöne verstärkt, spielt hier die Oboe die Melodie in der höheren Oktave, die Flöte dagegen im unteren Register, was eine neuartige Klangfärbung bewirkt.
Selbst diese traditionellen Stücke waren zu der Zeit, als ich sie komponierte, verboten. Es gab keine Möglichkeit, sie aufzuführen oder zu publizieren, bis sich die politische Situation etwas entschärfte. Wie allgemein bekannt, trat im Sommer 1956, nach Chruschtschows geheimer Anti-Stalinismus-Rede vom Februar des- selben Jahres, eine vorübergehende Lockerung der Diktatur in allen kommunistischen Ländern Osteuropas ein. Daher konnten meine Sechs Bagatellen im Herbst 1956 durch das Jeney-Bläserquintett in Budapest uraufgeführt werden, allerdings unter dem Titel Fünf Bagatellen – das sechste Stück war noch verboten, wegen seiner gehäuften kleinen Sekunden. Totalitäre Systeme lieben keine Dissonanzen.
Original in englischer Sprache, geschrieben 1977. Erstdruck in deutscher Übersetzung im Programmheft zum Festival » Hommage a` György Ligeti« in Gütersloh, 1.–6. Mai 1990, S. 22–23. Revidiert 2002.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 158-159. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014