György Ligeti

Le Grand Macabre

Titel
Le Grand Macabre
Untertitel
Oper in vier Bildern
Category
Bühnenwerk
Oper
Dauer
120:00
Anzahl Mitwirkende
49
Rollen
Personen: Chef der Geheimen Politischen Polizei (Gepopo): Koloratursopran · Venus: hoher Sopran · Amanda: Sopran · Amando: Mezzosopran · Fürst Go-Go: Knabensopran, Sopran oder Countertenor · Mescalina: dramatischer Mezzosopran · Piet vom Faß: hoher Buffotenor · Nekrotzar: Charakterbariton · Astradamors: Bass · Ruffiack: Bariton · Schobiack: Bariton · Schabernack: Bariton · Weißer Minister: Tenor · Schwarzer Minister: Bariton · Geheimpolizisten und Henker (Gehilfen der Gepopo), Zeremonienmeister des Fürsten Go-Go (vorzugsweise ein Zwerg), Pagen und Diener am Hofe des Fürsten Go-Go, höllisches Gefolge des Nekrotzar beim Einzug am Hofe des Fürsten Go-Go: stumme Rollen
Besetzung
Chöre: gemischter Chor hinter der Bühne
Entstehung
1974
Uraufführung
1978-04-12

Stockholm · Königliche Oper Stockholm · Dir.: Elgar Howarth · Regie: Michael Meschke · Bühnenbild und Kostüme: Aliute Meczies
28.07.1997
Neufassung · Salzburg · Salzburger Festspiele · Dir.: Esa-Pekka Salonen · Regie: Peter Sellars · Bühnenbild: George Tsypin · Kostüme: Dunya Ramicova ·

Licht: James F. Ingalls

Auftraggeber
The revised version of Le Grand Macabre was comissionedd by the Salzburger Festspiele
Text

Michel de Ghelderode (Textvorlage)

Libretto
Michael Meschke and György Ligeti based loosely on the play La Balade du Grand Macabre by Michel de Ghelderode
Audio
Copyright

György Ligeti Edition Vol. 8 © 1999 Sony Music Entertainment Inc./ ℗ 1999 Sony Music Entertainment Inc.
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Kommentare des Komponisten zum Werk

Zur Entstehung der Oper Le Grand Macabre

Nach der Uraufführung meines Requiems in Stockholm, im März 1965, fragte mich Göran Gentele, damals Chef der Stockholmer Oper, ob ich mir ein Stück für die Gegebenheiten und den Apparat der großen Opernbühne vorstellen könnte. Ich sagte sofort und begeistert ja und schlug eine Art Oper mit dem Titel Kylwiria vor. Kylwiria war ein imaginäres Land meiner Kindheit, ein Ort der Tagträume, meine »private Mythologie«.

1962 hatte ich bereits Aventures und den zweiten Satz der Nouvelles Aventures komponiert, und zur Zeit der Gespräche mit Gentele 1965 beendete ich gerade den ersten Satz der Nouvelles Aventures. Die ersten Ideen zu Kylwiria waren Aventures-ähnlich: keine deutlich verfolgbare Handlung und ein nichtbegrifflicher, rein emotionaler Text. Doch je mehr ich über Kylwiria nachdachte, je mehr Vorstellungen, Entwürfe, Skizzen entstanden, desto klarer wurde mir, dass die Welt der Aventures abgeschlossen war, dass ich mich nicht wiederholen durfte und dass für ein abendfüllendes musikalisches Bühnenstück eine Handlung als Rückgrat, als Gerüst für Affekte, Charaktere und Bühnensituationen, unerlässlich war.

1969 entwarf ich daher ein neues, ganz andersgeartetes Libretto, ebenfalls mythologisch, doch nicht mehr Kylwiria, sondern eine Variante der Oidipus-Sage. Wenn ich mich schon für eine Handlung entschieden hatte, die als roter Faden das Stück durchziehen sollte, dann sollte es eine allgemein bekannte Handlung sein, die man nicht erzählen und erklären muss. Diese Oidipus-Variante sollte aber keinesfalls im griechischen Milieu spielen und nicht im Mindesten antikisierend sein: Mir schwebte ein stark schematisiertes, comicartiges Bühnengeschehen vor – mein Ideal waren da die Cartoons von Saul Steinberg –, und auch die Musik sollte unmittelbar, comicartig übertrieben, farbig und verrückt sein.

Das Oidipus-Libretto wurde in der endgültigen Fassung, samt einer Anzahl musikalischer Entwürfe, 1971 fertig: Die gesungenen Texte waren noch immer Aventures-artig, also nichtbegrifflich, aber die Handlung war bildhaft deutlich und, trotz der nichtverständlichen Texte, verfolgbar.1 In der Zwischenzeit ging Göran Gentele von Stockholm nach New York und wurde Leiter der Metropolitan Opera. Im Frühsommer 1972 sprach ich telefonisch mit ihm – es sollte unser letztes Gespräch sein –, wir planten ein Treffen im Herbst in New York, um alle Einzelheiten der Aufführung festzulegen: Gentele wollte dann von der Metropolitan Opera Urlaub nehmen, um 1974 in Stockholm Oidipus zu inszenieren. Im Juli 1972 starb Gentele bei einem Autounfall auf Sardinien.

Nach Genteles plötzlichem Tod konnte ich eine Zeitlang nicht mehr an die Arbeit an der Oper denken – zu sehr war dieses Projekt von Anfang an mit seiner Person verbunden. Inzwischen, schon 1971, war Bertil Bokstedt Chef der Stockholmer Oper geworden. Es war rührend und rücksichtsvoll von ihm, dass er für meine Trauer Verständnis hatte und mir Zeit ließ, ein anderes Opernprojekt vorzubereiten; denn in den Monaten nach Genteles Tod hatte ich erkannt, dass ich nicht mehr an diesem Oidipus weiterarbeiten konnte. Auch wurde mir allmählich klar, dass sich die Idee der nichtbegrifflichen Texte nicht weiterverfolgen ließ – zu sehr hatte sich diese Art der Textkomposition während der sechziger Jahre abgenutzt. Ich brauchte nicht nur eine klar verständliche Handlung, sondern auch einen ebenso klar verständlichen, gesungenen und gesprochenen Text: Aus der »Anti-Oper« wurde allmählich eine »Anti-Anti-Oper«, also, auf einer anderen Ebene, wieder »Oper«.

Festgehalten habe ich an der Idee des hyperfarbigen, comicartigen musikalischen und dramatischen Geschehens: Charaktere und Bühnensituationen sollten direkt, knapp gehalten, unpsychologisch und verblüffend sein – das Gegenteil einer Literaturoper. Handlung, Situationen, Charaktere sollten durch die Musik zum Leben erweckt werden, Bühnengeschehen und Musik sollten gefährlich-bizarr, ganz übertrieben, ganz verrückt sein: Die Neuartigkeit dieses Musiktheaters sollte sich nicht in Äußerlichkeiten der Aufführung, sondern im Inneren der Musik, durch die Musik manifestieren. Das musikalische Gewebe sollte nicht »symphonisch« sein. Die musikdramatische Konzeption sollte sich, in entschiedener Distanz zum Bereich Wagner–Strauss–Berg, eher an Poppea, an Falstaff, an den Barbiere annähern und doch anders sein – eigentlich keiner Tradition verpflichtet, auch nicht der Tradition der »Avantgarde«.

Auf der Suche nach dem neuen Sujet traf gegen Jahresende 1972 in Berlin-Wilmersdorf das Team der geplanten Stockholmer Aufführung zusammen: der Regisseur und Direktor des Stockholmer Marionettentheaters Michael Meschke, die Bühnenbildnerin Aliute Meczies und der Musikwissenschaftler Ove Nordwall. Wir suchten zunächst einen Stoff bei Alfred Jarry, die Spur Jarry führte zum »absurden Theater«, doch ich wollte ja kein Sprechtheater mit Musik als Zutat, sondern die totale Verschmelzung von Handlung und Musik: Bühnengeschehen durch Musik.

Den Namen Michel de Ghelderode kannte ich damals nicht: Sein Werk ist, zu Unrecht, außerhalb des belgisch-französischen Kulturkreises allzu wenig bekannt. Da meine Vorstellungen um irgendein tragikomisches, übertrieben schreckliches und doch nicht wirklich gefährliches »Jüngstes Gericht« kreisten – Ähnliches hatte ich bereits 1964 im »Dies irae«-Satz des Requiems komponiert: Aufhebung der Angst durch Verfremdung –, erinnerte sich Aliute Meczies plötzlich, dass es ein solches Theaterstück ja gäbe, und sie brachte uns Ghelderodes La Balade du Grand Macabre. Dieses Stück war für meine musikalisch-dramatischen Vorstellungen wie geschaffen: ein Weltuntergang, der gar nicht wirklich stattfindet, der Tod als Held, der vielleicht aber nur ein kleiner Gaukler ist, die kaputte und doch glücklich gedeihende, versoffene, verhurte Welt des imaginären »Breughellandes«. Verschwommen, halb unbewusst erinnerte ich mich dann, dass ich dem Namen Ghelderode doch schon einmal begegnet war: Irgendwann vor Jahren, im verrauchten Darmstädter Schloßkeller, erwähnte der belgische Komponist Jacques Calonne, nach seiner Art so ganz nebenbei, Ghelderode sei etwas für mich, doch dann verschwand seine Stimme im Weinduft und in den Klängen des »Sergeant Pepper«.

Nun war Ghelderodes Balade noch immer Sprechtheater und sollte in ein der Musik dienendes Libretto umgestaltet werden. Michael Meschke übernahm die Aufgabe, das Stück zu kondensieren, zu »jarryfizieren«. Schon Ende März 1973 legte er eine erste Fassung vor, die ich mir aber noch konzentrierter wünschte. So schrieb Meschke im Sommer 1973 ein neues Libretto. Die Handlung blieb die Ghelderodes, die Sprache aber war wie von Jarry – sehr intensiv, knapp und direkt. Damals, im Sommer 1973, arbeitete ich noch an Clocks and Clouds, dann im Winter 1973–74 und im Frühjahr 1974 an San Francisco Polyphony. Das war sozusagen die Inkubationszeit für den »Makabren«. Auch musste ich Meschkes Text weiter verändern: Wegen der Eigenart der Musik brauchte ich Verse und Reime, und zwar ganz unbeholfene, in der Art der Friederike Kempner und Julie Schrader, zudem auch fehlerhaftes Latein und falsche Zitate aus der Offenbarung des Johannes. Meschke erlaubte mir großzügig die »Umdichtung« des Librettos. Auch über ein dramaturgisch schlüssiges Ende mussten wir uns noch viel die Köpfe zerbrechen. Wenn durch den Weltuntergang, der wie eine Seifenblase zerplatzt, kein anderer stirbt als eben der Große Makabre, und wenn er tatsächlich der Tod war, dann bricht folgerichtig das »Ewige Leben« aus: Man ist doch im Himmel, und der Weltuntergang hat stattgefunden. Was aber, wenn all das heftige Geschehen nur eingebildet, wenn der Große Makabre nur ein Gaukler war? Dies ist Ghelderodes Auffassung, doch zeigt sein im Ganzen geniales Theaterstück gerade gegen Ende, bei der Lösung des dramaturgischen Knotens, einige Schwächen. Ich entschied mich für eine Abänderung seiner Version: Es bleibt völlig offen, ob der Große Makabre der Tod ist oder nur ein kleiner, wenn auch durch sein Sendungsbewusstsein ins Heroische gesteigerter und verklärter Gaukler, und die Handlung schließt mit einer Art Triumph des Eros: Der Tod und die ganze dunkle Zukunft ist uns egal, es gibt nur »hier und jetzt«.

Die Umgestaltung des Librettos habe ich zum Großteil während des Komponierens vorgenommen: Textänderungen und Verse entstanden stets nach den Erfordernissen der Musik. Nach einigen vorbereitenden Skizzen im Sommer 1974 begann ich die eigentliche Komposition des Grand Macabre im Dezember 1974: Zu Weihnachten waren die ersten Partiturseiten fertig. Die Arbeit dauerte etwa zweieinhalb Jahre. 1975–76 komponierte ich ununterbrochen, nur zwischen Februar und April 1976 schrieb ich parallel noch ein anderes Stück: Monument, Selbstportrait, Bewegung für zwei Klaviere, für die Brüder Kontarsky. Im April 1977 wurde die Arbeit am Grand Macabre abgeschlossen, Ende April lag die letzte Partiturseite in Reinschrift vor.

1 Typoskriptdurchschlag einer Synopsis des Oidipus-Librettos in der Sammlung György Ligeti, Paul Sacher Stiftung.

Geschrieben Anfang 1978 anlässlich der Uraufführung in Stockholm am 12. April 1978. Erstveröffentlichung in: Melos/NZ, 4 (1978), Nr. 2, S. 91–93.

Zur Neufassung der Oper Le Grand Macabre

Als ich diese »Oper« komponierte (1974–77), war ich hinsichtlich der realen (und oft enttäuschend groben) Bedingungen des Opernbetriebs ziemlich naiv. Opernsänger können singen und spielen, doch nicht immer adäquat sprechen (allerdings gibt es einige Ausnahmen: wunderbare Sänger-Schauspieler!). Kabarettisten und Schauspieler wiederum singen nur gelegentlich. In der überlieferten Gattung der Operette (und ihrer anglo-amerikanischen Variante des Musicals) werden zwar Sänger-Schauspieler beschäftigt, nur gibt es in dieser Tradition keine so anspruchsvollen, technisch schwierigen Gesangslinien, wie ich sie im Macabre vorgesehen und komponiert habe. Meine Unerfahrenheit bezog sich also nicht auf die Oper und Operette als solche (ich hatte ja seit meiner Kindheit viele Theater- und Musiktheateraufführungen erlebt – die mitteleuropäische Musikkultur in Klausenburg und Budapest war hochentwickelt), sondern auf die Aufgabenstellung: Schauspieler-Sänger können – mit wenigen Ausnahmen – den gesangstechnischen Anforderungen des Macabre nicht entsprechen.

Meine Zusammenarbeit mit Michael Meschke (wir waren zu gleichen Teilen die Librettisten) war harmonisch, doch Meschke war und ist der große Fachmann für das Marionettentheater, und er legte Wert auf gesprochene Passagen, während mir wichtig war, die in Versen geschriebenen Stellen nach meinen musikalischen und vor allem rhythmischen Vorstellungen zu gestalten. Das als Vorlage dienende Theaterstück von Michel de Ghelderode ist französisch, Meschke hat als Muttersprachen Deutsch und Schwedisch, und unsere Zusammenarbeit ergab ein deutsches Libretto. Doch ist meine Muttersprache Ungarisch, und mein Deutsch ist, gelinde gesagt, holprig. Das war insofern kein Hindernis, als die Uraufführung in Stockholm (am 12. April 1978) ohnehin in schwedischer Sprache stattfinden sollte. (Dass es später sowohl deutsche als auch italienische, französische und englische Aufführungen geben sollte, konnte ich nicht voraussehen.) Die Übersetzung vom Deutschen ins Schwedische hatte Meschke vorzüglich realisiert. Dann kam ich mit meinen Änderungen für die Rhythmisierung, was an sich aber auch kein Problem war, da ich Schwedisch spreche. Dennoch wurde das Resultat ein Zwitter – halb Oper, halb Schauspiel. Selbstverständlich gibt es eine deutsche Tradition des populären Singspiels, etwa die Zauberflöte und den Freischütz, doch der Macabre ist allzu verzwickt und vielschichtig für ein Singspiel. Es gab damals in Stockholm auch insofern Rezeptionsschwierigkeiten, als ein Teil des Publikums – Fachleute und vor allem Kritiker aus der ganzen Welt – kein Schwedisch verstand und deshalb die langen gesprochenen Dialoge als »Leerstellen« empfand. Ich musste einsehen, dass das Stück in dieser Form nicht wirklich lebensfähig war. In den folgenden Jahren habe ich dann, bei jeweils neuen Realisationen, immer mehr Textstellen weggelassen.

Es gibt eine gültige CD-Einspielung der ursprünglichen Opernfassung als Mitschnitt eines Konzerts unter Leitung von Elgar Howarth im Wiener Konzerthaus, das der Österreichische Rundfunk 1987 aufgezeichnet hat (Wergo 6170-2). Um all das, was ich verändert habe, nachzuvollziehen, kann man diese Aufnahme mit der hier vorliegenden neuen Version vergleichen.

Im ersten Bild habe ich nur einige gesprochene Stellen gestrichen, doch im zweiten gibt es auch musikalische Kürzungen. Da auf diese Weise das ganze Stück kompakter geworden ist, habe ich mich entschlossen, es ohne Unterbrechung aufführen zu lassen. Allerdings können Regisseur und Dirigent nach eigenem Ermessen eine Pause einschieben, etwa nach dem zweiten Bild oder im dritten vor dem Einzug Nekrotzars.

Das dritte Bild habe ich insofern wesentlich verändert, als die beiden Minister, die in der ersten Fassung Sprechrollen waren, nun gesungene Partien sind. Durch die Vertonung des Textes wird diese Teilszene wesentlich länger als vorher. Der Rest des dritten Bildes ist fast unverändert geblieben. Die »große, bedrohliche« Verkündigung des Weltendes durch Nekrotzar habe ich in der ursprünglichen gesprochenen Form belassen, denn die Tragik (und Komik) des großartigen Versagens, vor allem im betrunkenen Zustand, hätte nur mit Gewalt eine gesungene Melodie vertragen.

Neugestaltet ist das abschließende vierte Bild: Den ehemals gesprochenen Dialog von Piet und Astradamors »im Himmel« habe ich für Gesangsstimmen auskomponiert. Die nachfolgenden Passagen dagegen habe ich stark gekürzt, da das vierte Bild in der ursprünglichen Fassung in zu viele Episoden zerfiel. Doch wurden die gegenseitigen Beschimpfungen der Minister und Mescalinas als gesprochene (das heißt geschriene) Passagen belassen: Hier schien mir stilisiertes Sprechen adäquater als eine Vertonung. (Zwar werden einzelne Wörter und Sätze während des ganzen Stückes als Kontrast zum Gesungenen immer noch gesprochen beziehungsweise als Sprechgesang vorgetragen, doch wegen der melodischen Kontinuität handelt es sich nur um »Sprachsplitter«: Das Stück als Ganzes entspricht nun viel eher einer Oper als einem Singspiel.) Gestrichen habe ich den Dialog von Piet und Astradamors nach dem Verschwinden Nekrotzars. Auf diese Weise folgt das Wiedererscheinen des Liebespaares unmittelbar nach dem Todeskanon Nekrotzars.

Die abschließende Passacaglia war in der früheren Version ungelenk. In der neuen – nunmehr endgültigen – Fassung ist sie um einiges länger, und sie mündet in eine Art »Pedal«, mit eigenartigen, glockenähnlich orchestrierten Akkorden. Ursprünglich war dieses Ende nicht nur abrupt, sondern enthielt auch eine nicht gelungene Steigerung. Jetzt klingt die Oper in einem allmählichen Diminuendo aus, das dem Beleuchtungswandel der Szene entspricht: Ein irreal-fahles Licht breitet sich aus, wie von einer anderen Welt.

Neben den hier angegebenen Änderungen, die Form und einzelne Details betreffen, gibt es in der neugefasten Partitur Hunderte von »versteckten« Änderungen. Wohl war ich in den siebziger Jahren längst kein Anfänger mehr, doch habe ich seither, in knapp zwanzig Jahren (die Neufassung entstand 1996 in etwa zehn Monaten), viel Erfahrung gesammelt: kompositorisch, dramaturgisch und vor allem die Orchestrierung betreffend. Und ich habe mehrere Aufführungen des Macabre gehört, mit sehr unterschiedlichen darstellerischen und akustischen Bedingungen. Die Orchestrierung ist jetzt insgesamt »schlanker«, viele Verdopplungen von Instrumentalstimmen wurden gestrichen. Radikal verändern musste ich die tiefen Partien der Posaunen (stellenweise auch der Kontrabasstuba), denn meine instrumentaltechnischen Erwartungen waren damals allzu optimistisch. Selbstverständlich war schon in der ersten Fassung alles spielbar, die Frage war nur, mit welchem Probenaufwand. In der »groben Opernpraxis« gibt es immer viel weniger Proben als nötig, und die Posaunisten spielten manchmal den zweiten Oberton statt des tiefen Pedaltons. So habe ich diese »schwarzen« Untiefen für Kontrabässe und Kontrafagott uminstrumentiert. Vor zwanzig Jahren waren Kontrafagotte, die bis zum tiefen B hinunterreichen (eine Oktave tiefer als die Fagotte), noch nicht überall vorhanden, heute aber kann man von perfektionierten Instrumenten ausgehen. Auch der Umfang der Bassklarinette wurde nach unten erweitert – all das habe ich jetzt ausgenutzt. Auf diese Weise ist vieles besser spielbar geworden, es gibt keine »utopischen« Stellen mehr.

Das Libretto des Macabre enthält viele Elemente der abstrakten Dichtung. 1962–65 hatte ich die beiden »abstrakt-konkreten« Sprach-, Gesangs-, Geräusch- und Musikstücke Aventures und Nouvelles Aventures komponiert, ohne zu ahnen, dass diese beiden Stücke einmal den Ausgangspunkt des in den siebziger Jahren komponierten Macabre bilden würden.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 8, »Opera – Le Grand Macabre [1997 Version]«, SK 62312), 1999.

Le Grand Macabre – Synopsis

Das Stück spielt im total heruntergekommenen und dennoch sorglos gedeihenden Fürstentum Breughelland im »soundsovielten Jahrhundert«.

Erstes Bild

Ein verlassener Friedhof, üppige Vegetation. Piet vom Fass, stets leicht alkoholisiert (von Beruf »Weinabschmecker«) und daher stets heiter, eine Art realistischer Sancho Pansa, erblickt das wunderschöne Liebespaar Amanda und Amando, die einem Botticelli-Bild entstiegen sein könnten. Sie sind auf der Suche nach einem ungestörten Ort, wo sie sich heimlich lieben können, doch das scheint im stets tumultuösen Breughelland schwerlich zu gelingen. Während Piet das Paar gierig betrachtet, erscheint plötzlich Nekrotzar, aus einem sich öffnenden Grab aufsteigend. Nekrotzar, der Große Makabre, ist eine sinistre, zwielichtige, demagogische Figur, humorlos, hochtrabend, mit unerschütterlichem Sendungsbewusstsein. Piet, der keinen Schrecken kennt, mokiert sich über Nekrotzar, doch dieser verkündet, er selbst sei »der Tod« und werde noch heute Nacht, mit Hilfe eines Kometen, die ganze Welt vernichten. Er befiehlt Piet, aus dem Grab seine Requisiten – Sense, Trompete, Umhang – zu holen und ihm überhaupt als Knecht zu dienen. Die Frage, ob Piet dazu bereit sei, wird gar nicht erst gestellt – Nekrotzar ist der Herr und daran gewöhnt, dass man ihm widerspruchslos gehorcht. Amanda und Amando ziehen sich währenddessen in das leerstehende Grab zurück und werden das Weltende ungestört verschlafen. Nekrotzar nimmt sich Piet als Pferd und reitet, wild die Trompete blasend, auf seinem wiehernden Knecht zur fürstlichen Hauptstadt. Aus dem Grab erklingt das Duett des Liebes- paares.

Zweites Bild

Im Hause des Hofastrologen Astradamors. In einer abstrusen Kombination aus Observatorium, Laboratorium und Küche herrscht eine unbeschreibliche Unordnung: Fernrohr, Messgeräte, Sternkarten, Folianten und Präparate sind mit Küchengeräten, schmutziger Wäsche und Essensresten vermengt und mit Spinnennetzen überzogen. Herrin ist Mescalina, die Astradamors uneingeschränkt in ihrer Gewalt hat. Zu Beginn der Szene peitscht Mescalina ihn aus, attackiert ihn mit einem Spieß, hält ihm, als er hilflos am Boden liegt, eine grässliche Spinne vor den Mund. Danach muss Astradamors in die Sterne gucken. Währenddessen schläft Mescalina – Rotwein schlürfend – ein und träumt, dass die Göttin Venus ihr endlich einen besseren Mann schickt. Tatsächlich erscheint Venus und mit ihr Nekrotzar, auf Piet reitend. Mit Freude erkennt Astradamors seinen treuen Zechkumpan Piet. Nekrotzar geht auf die schlafende Mescalina zu, umarmt sie brutal und beißt ihr schließlich wie ein Vampir in den Hals. Mit einem grässlichen Schrei sinkt sie leblos zu Boden – Astradamors jubelt. Nekrotzar befiehlt, die Leiche aus dem Weg zu räumen, und Astradamors und Piet bringen Mescalinas Körper in den Keller, der mit dem Grab des ersten Bildes identisch ist.

Finale: Nekrotzar verkündet siegessicher das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt. Alle drei brechen zum fürstlichen Palast auf. Astradamors kehrt noch einmal zurück und zerstört in triumphierender Wut die gesamte Einrichtung:

»Endlich einmal Herr im eigenen Haus« – Vorhang.

Drittes Bild

Spiel vor dem Vorhang. In Breughelland regiert der verfressene, babyhafte Fürst Go-Go. Er wird tyrannisiert von seinen beiden korrupten Ministern, den Führern der miteinander verfeindeten Weißen und Schwarzen Parteien, die sich jedoch in ihrer Gesinnung in nichts voneinander unterscheiden. So werden die Staatsgeschäfte ziemlich verworren geführt: Der regierende Fürst hat nichts zu sagen, und die beiden Minister befinden sich im Dauerstreit, drohen ständig mit ihrer Demission, um sich dann wieder kurz zu versöhnen und von neuem zu zerstreiten. Außerdem zwingen sie den Fürsten zu Haltungs- und Reitübungen (wozu ein hölzernes Spielzeugpferd dient) und zum »achtunggebietenden Tragen der Krone«. Die Verfassung des Landes deklarieren sie zum leeren Papier, doch nötigen sie Go-Go zugleich, immer neue Dekrete zur Erhöhung der Steuern ins Unendliche zu unterschreiben. Fürst Go-Go ist hungrig; er denkt an nichts anderes als ans Essen. Auf ein Zeichen der Minister geht endlich der Vorhang auf.

Hinter dem Vorhang erscheint eine riesige Anhäufung von Speisen und Getränken. Wir befinden uns im Thronsaal: Reste von früherem Pomp und Prunk. Go-Go weist zum ersten Mal die Minister ab, akzeptiert ihre Demission und stopft sich den Mund voll. Schneller Auftritt des Chefs der Geheimen Politischen Polizei (»Gepopo«) mit seinem Gefolge: komische und gespenstische Detektive, Folterknechte und Henker. Der Polizeichef übergibt Go-Go eine chiffrierte Nachricht und warnt ihn vor der Ankunft einer aufgebrachten, demonstrierenden Menschenmenge. Man hört die Angst- und Wutschreie des Volkes. Der fahle, rötliche Schein des Kometen dringt durch die Fenster in den Saal. Vom Balkon des Thronsaals aus versuchen die Minister, mit beschwichtigenden Reden die Menge zu besänftigen, doch das Volk ruft nach dem Fürsten. Dieser spricht schließlich zum Volk und verprügelt die pausenlos demissionierenden Minister. Plötzlich erscheint wieder der Polizeichef samt gespenstischem Gefolge, jetzt als riesige, behaarte Spinne getarnt, dann sich in einen Polypen verwandelnd. Die neueste chiffrierte Nachricht warnt vor der Ankunft einer rätselhaften, drohenden Gestalt. Der Polizeichef flieht in Panik, doch statt der gefährlichen Gestalt erscheint lustig jodelnd Astradamors, immer noch frohlockend, dass er seine Gattin losgeworden ist. Inzwischen sind auch die Minister weggelaufen. Go-Go und Astradamors singen und tanzen miteinander. Plötzlich heult eine Alarmsirene auf, dann noch eine. Go-Go wird wieder zum Kind, er fleht um Hilfe, und Astradamors versteckt ihn unter dem Esstisch.

In finster-grandiosem Pomp erscheint Nekrotzar, auf Piet reitend, Trompete blasend und die Sense schwingend. In seinem Gefolge höllische Gestalten, maskierte Musiker, groteske Monstren wie aus einem apokalyptischen Bild von Breughel oder Bosch. Siegessicher und großmäulig verkündet er, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe, und deklamiert verdrehte, verzerrte Zitate aus der Offenbarung des Johannes. Hoch oben, hinter dem Publikum, ertönen die »himmlischen Posaunen«. Diese Fanfare wird unverändert immer wiederkehren, in höchst einfältiger Form. Das Volk fleht Nekrotzar an: »Töte alle anderen, doch mich, mich, mich, töte mich nicht! « Nun aber gerät Nekrotzar in den Sog des allzu irdischen Treibens der Breughelländer. Piet reicht ihm ein Glas Rotwein, und Nekrotzar glaubt in seiner megalomanen Besessenheit, das Blut seiner Opfer zu trinken, das er zur Stärkung braucht, damit er seine »heilige Pflicht« erfüllen kann. Immer wieder schenken ihm Piet und Astradamors nach, immer maschineller verläuft die Saufszene. Auch Go-Go bekommt ein Glas Wein nach dem anderen unter den Tisch gereicht, und schließlich geraten alle vier betrunken ins Taumeln. Nekrotzar zählt seine Untaten auf. In der konfusen Erzählung taucht plötzlich die Erinnerung an eine schreckliche Megäre auf, mit Peitsche, Stecken, Spieß und grausiger Spinne. Alle sind nun im Rausch miteinander versöhnt: Piet stellt die beiden Herrscher – Zar Nekro, Zar Go-Go – einander vor. Plötzlich eine Explosion, Angstschreie und der bedrohlich nahe Schein des Kometen. Auf Nekrotzars: »Wo bin ich? Wie spät?« meldet Piet im teilnahmslosen Ton eines Rundfunkansagers, dass es in »zehnzig« Sekunden Mitternacht wird. Nekrotzar gerät in Panik: »Wo ist meine Sense? Meine Trompete? Mein Pferd?« Es gibt kein anderes Pferd als Go-Gos hölzernes Schaukelpferd, das Nekrotzar mit großer Mühe besteigt. Er verkündet, dass er jetzt die Welt zerschmettern werde, und fällt betrunken vom Sattel.

Viertes Bild

Derselbe verwahrloste Friedhof wie im ersten Bild. Morgengrauen, dichter Nebel. Piet und Astradamors glauben, sie seien tot, und wähnen sich im Himmel.

Taumelnd erscheint Go-Go, er fühlt, dass er am Leben ist, fürchtet aber, er sei der einzige noch lebende Mensch auf Erden und alle anderen seien Leichen. Unversehens tauchen drei rüde Haudegen – Ruffiack, Schobiack und Schabernack – auf, mit einem Karren voller erbeutetem Plündergut. Sie verhaften Go-Go als »Zivilisten« und schicken sich an, ihn zu töten. Vergebens fleht Go-Go, er sei doch ihr Fürst. Plötzlich steht Nekrotzar in seiner ganzen hageren Länge da: Er lag betrunken unter der Beute auf dem Karren. Als er den Fürsten erkennt, lassen die drei Haudegen von Go-Go ab und stehen stramm.

»Hab’ ich nicht gerade die ganze Welt vernichtet?«, fragt Nekrotzar. Geschwächt von Enttäuschung und Alkohol, möchte er sterben: »Wo, wo ist mein Grab?« Doch plötzlich erscheint aus der Gruft die scheintote Mescalina und stürzt sich voller Zorn mit dem Spieß in der Hand auf ihn. Zwei Haudegen halten Mescalina fest, damit sie Nekrotzar nicht aufspießt, und der dritte führt die beiden Minister herbei, die mit einem Strick gefesselt sind. Die Minister flehen feige und speichelleckerisch um Gnade, hatten sie doch immer nur das Wohl des Volkes im Auge. Sie und Mescalina beschuldigen sich gegenseitig, die astronomischen Steuern erfunden, die Inquisition eingeführt und die Beseitigung des Fürsten geplant zu haben. Die Diskussion führt zu einer allgemeinen Schlägerei, bis alle am Boden liegen.

Piet und Astradamors spazieren herein, sich immer noch im Himmel wähnend. Doch der Fürst ruft: »Willkommen, Freunde!« und gibt ihnen Wein zu trinken.

»Wir haben Durst: ergo wir leben«. Das reicht Nekrotzar: »Ergo … ihr lebt«, ruft er tief enttäuscht. Aus Gram beginnt er zu schrumpfen, wird allmählich zur Kugel, immer kleiner, verschwindet schließlich spurlos im Boden. Währenddessen lichtet sich der Nebel, und die Sonne geht langsam auf. In ziemlich zerzaustem Zustand kommt das Liebespaar, vom Sonnenlicht geblendet, aus dem Grab hervor.

Finale (Passacaglia)

Amanda und Amando wissen nichts vom vermeintlichen Weltuntergang. »Für uns ging die Welt auch unter, doch gleich war’n wir wieder munter … Die Todesangst ist eine Qual für andere: Uns ist’s egal!« Die Schlussverse singen alle außer Nekrotzar: »Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’. Und wenn er kommt, dann ist’s soweit … Lebt wohl so lang in Heiterkeit!« Die gesamte Passacaglia wird gemessen-elegant von allen Beteiligten getanzt. Das Sonnenlicht wird fahler und geht in ein überirdisches Licht über. Dann fällt langsam Schnee und bedeckt die Personen auf der Bühne.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 8, »Opera – Le Grand Macabre [1997 Version]«, SK 62312), 1999.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 266-276. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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