Köln, WDR, Musik der Zeit (D)
György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580
Das Stück stellt den Versuch dar, Folgen von Tönen, Klängen, Rauschen und Impulsen in der Zeit und, durch vier Lautsprecher, im Raum so zu artikulieren, dass durch ihre Wechselwirkung, Vermischung und Kombination eine musikalische Form entsteht.
Diese Form ist durch einen irreversiblen Auflösungsprozess charakterisiert: Anfänglich homogene und distinkte Strukturtypen verweben sich im Verlauf des Stückes zu immer komplexeren Texturen, indem sie ihre ursprüngliche Individualität einbüßen. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine gleichmäßige Auflösung. Die Form ist durch verschiedene Materialzustände der Strukturen und Texturen artikuliert: Feste, körnige und weiche, klebrige Materialien werden – je nachdem, ob sie sich gegenseitig abstoßen oder verschmelzungsfähig sind – teils in Bruchstücke und Floskeln zersplittert, teils zu dichten, manchmal völlig opaken Massen verknetet.
Bei der Arbeit wurden drei Kompositionsmethoden verwendet – serielle Anordnungen, freie Erwägungen und aleatorische Vorgänge. Die Verteilung dieser drei Methoden variiert je nach dem Niveau der Artikulation. Die größeren Abschnitte sind nach Materialtypus, Zeitdauer, durchschnittlicher Lautstärke und Dichte streng proportioniert. Die Starre der Ordnung lockert sich jedoch in dem Maße, wie die Teile sich verkürzen – die feinsten Partikel schließlich sind der Dauer wie der Tonhöhe und Lautstärke nach global behandelt, denn ihre Verteilung folgt zwar gruppenweise einer Statistik, ist jedoch individuell nicht mehr bestimmbar. In diesem Bereich der kleinsten Teilchen sind die Grenzen, innerhalb derer das menschliche Ohr einzelne Töne noch unterscheiden kann, überschritten, und die rhythmischen Verhältnisse verwandeln sich in Klangfarbe.
Das Stück wurde im elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks von Gottfried Michael Koenig zusammen mit dem Komponisten realisiert, wobei auch Cornelius Cardew behilflich war. Der Titel Artikulation stammt von Herbert Brün.
Einführungstext zur Uraufführung am 25. März 1958 im Rahmen der Konzertreihe Musik der Zeit im Westdeutschen Rundfunk Köln (im Programmheft nicht vollständig abgedruckt).
Bemerkungen zu Artikulation
Das elektronische Stück Artikulation ist eine besonders stark mit Assoziationen befrachtete, also ausgesprochen nichtpuristische Musik. Die musikalischen Strukturen haben sozusagen einen »Materialcharakter«: Es gibt da quasi körnige, brüchige, faserige, trockene, nasse, schleimige, klebrige, gallertartige und kompakte Materialien. Diese erscheinen manchmal gesondert, manchmal miteinander kombiniert, und zwar – je nachdem, ob sie sich gegenseitig abstoßen oder verschmelzungsfähig sind – teils in Bruchstücke und Floskeln zersplittert, teils zu dichten, undurchsichtigen Massen verknetet.
Assoziiert werden jedoch nicht nur Materialcharaktere, sondern auch sprachähnliche Zusammenhänge. Die musikalischen Strukturen sind nämlich wie eine Sprache artikuliert. Selbstverständlich handelt es sich nur um eine »Pseudosprache«, um imaginäre Dialoge ohne jeden »Sinn« und ohne jede Nachahmung real existierender Sprachen. Zustande kommt eine solche Pseudosprache durch Mittel der elektronischen Klangerzeugung: Filtrierte Impulse und sehr kurzes filtriertes Rauschen bilden die »Konsonanten«, Sinustonkomplexe und längeres filtriertes Rauschen bilden die »Vokale«, die – nach verschiedenen Verteilungsstatistiken aneinandergereiht und gruppiert – imaginäre Wörter und Sätze ergeben.
Die ganze Komposition ist nach seriellen Prinzipien entworfen, die jedoch weitgehend undogmatisch angewendet werden. Die Strenge der Konstruktion variiert je nach dem Niveau der Artikulation. Die größeren Abschnitte sind nach Materialtypus, Zeitdauer, durchschnittlicher Lautstärke und Dichte streng reihenmäßig proportioniert. Innerhalb dieser Abschnitte aber ist die serielle Ordnung nach freien Erwägungen gelockert. Und die kleinsten Strukturelemente – die erwähnten phonemartigen Partikel – sind schließlich sowohl der Dauer wie der Tonhöhe und Lautstärke nach global behandelt, denn ihre Verteilung folgt, wie schon erwähnt, zwar gruppenweise einer Statistik, ist jedoch individuell nicht mehr bestimmbar. In diesem Bereich der kleinsten Teilchen ist die Grenze, innerhalb derer das menschliche Ohr einzelne Klänge noch unterscheiden kann, überschritten, und die rhythmischen Verhältnisse verwandeln sich in Klangfarbe.
Die Gesamtform ist durch einen irreversiblen Auflösungsprozess charakterisiert: Die anfänglich distinkten Strukturtypen verweben sich im Lauf des Stückes zu immer komplexeren Texturen, je mehr sie ihre ursprüngliche Individualität einbüßen. Im Bereich der Pseudosprache manifestiert sich das in einer Art fortschreitender »Sprachverwirrung«: Anfänglich unterschiedliche Sprachtypen vermischen sich graduell, sodass am Ende nur noch ein einziger Typus bleibt, der alle früheren in sich vereinigt. Dieser Auflösungs- und Vermischungsprozess ist aber trotz seines fortschreitenden Charakters keineswegs gleichmäßig: Verdichtungen und Verdünnungen des musikalischen Geschehens, plötzlich auftretende Kontraste der Dynamik, der Materialtypen und der Art ihrer Verquickung artikulieren den Gesamtverlauf der Form.
Artikulation habe ich von Januar bis März 1958 im elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks, zusammen mit Gottfried Michael Koenig, realisiert. Auch Cornelius Cardew war bei der Realisation behilflich. Der Titel des Stückes stammt von Herbert Brün. Die Uraufführung fand am 25. März 1958 in Köln statt.
Geschrieben im April 1958 (?), nach Angaben des Autors vermutlich für eine Sendung des Westdeutschen Rundfunks Köln; ein Sendetermin ist dort aber nicht nachweisbar.
Über Artikulation
Zwar habe ich eine Abneigung gegen alles ausgesprochen Illustrative und Programmatische, doch bedeutet das nicht, dass ich mich gegen von Musik hervorgerufene Assoziationen wehre. Im Gegenteil: Klänge und musikalische Kontexte erwecken in mir stets die Empfindung von Farbe, Konsistenz und sichtbarer wie auch tastbarer Form. Und umgekehrt: Farbe, Form, materielle Beschaffenheit, ja sogar abstrakte Begriffe verknüpfen sich in mir unwillkürlich mit klanglichen Vorstellungen. Dies erklärt das Vorhandensein von so zahlreichen »außermusikalischen« Zügen in meinen Kompositionen. Klingende Flächen und Massen, die einander ablösen, durchstechen oder ineinanderfließen – schwebende Netzwerke, die zerreißen und sich verknoten – nasse, schleimige, klebrige, gallertartige, faserige, trockene, brüchige, körnige und kompakte Materialien – Fetzen, Floskeln, Splitter und Spuren aller Art – imaginäre Bauten, Labyrinthe, Inschriften, Texte, Dialoge, Insekten – Zustände, Ereignisse, Vorgänge, Verschmelzungen, Verwandlungen, Katastrophen, Zerfall, Verschwinden: All das sind Elemente dieser nichtpuristischen Musik.
Einführungstext
zu einer Aufführung am 28. Oktober 1960 im Rahmen der Konzertreihe Das
neue Werk im Norddeutschen Rundfunk Hamburg.
Abdruck aus:
György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher
Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music
2007, Bd. 2, S. 165-169. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music
GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014
Ligeti Project Vol.5 Baladǎ Şi Joc / Cello Sonata / Artikulation / Aventures, Nouvelles Aventures / Musica Ricercata / Big Turtle Fanfare / Régi Magyar Társas Táncok
Sarah Leonard (soprano); Linda Hirst (mezzo-soprano); Omar Ebrahim (baritone); Max Bonnay (accordion); David Geringas (violoncello); Peter Masseurs (trumpet); Asko Ensemble; Schönberg Ensemble; Reinbert de Leeuw (conductor)
Teldec Classics, 8573-88262-2, 2004
György Ligeti – Continuum · Zehn Stücke für Bläserquintett · Artikulation · Glissandi · 2 Etüden · Volumina
Bläserquintett des Südwestfunks Baden-Baden; Antoinette Vischer (cembalo); Zsigmond Szathmary, Karl-Erik Welin (organ); Elektronisches Studio des Westdeutschen Rundfunks, Köln
Wergo, WER 60161-50; 1996
Ligeti: Kammerkonzert / Ramifications (Version für Streichorchester) / Ramifications (Version für 12 Solostreicher) / Zehn Stücke für Bläserquintett / Artikulation
Helmut Müller (bassoon); Hans Lemser (clarinet); Kraft-Thorwald Dilloo (flute); Karl Arnold (horn); Helmut Koch (oboe); Ensemble “Die Reihe”; SWR Orchestra; Kammerorchester Des Saarländischen Rundfunks; Bläserquintett Des Südwestfunks Baden-Baden; Friedrich Cerha , Ernest Bour, Antonio Janigro (conductors)
Wergo, WER 60059, 1971 (Germany); Clave, 18-5010 S, 1974 (Spain)