György Ligeti

Poème Symphonique

Titel
Poème Symphonique
Untertitel
für 100 Metronome
Category
Sonstige
Dauer
25:00
Anzahl Mitwirkende
2
Besetzung
2 oder mehr Spieler unter Anweisung eines Dirigenten
Entstehung
1962
Uraufführung
1963-09-13
Hilversum · Dir.: György Ligeti
Kommentare des Komponisten zum Werk

Die Idee einer mechanisch tickenden Musik verfolgt mich seit meiner Kindheit; sie verbindet sich mit Phantasien eines klingenden Labyrinths und mit jenen ins Unendliche multiplizierten Bildern, die entstehen, wenn man sich in zwei einander gegenüberstehenden Spiegeln betrachtet.

Dieses Stück für einhundert Metronome habe ich 1962, während der Arbeit an Aventures, entworfen. Bei der Ausarbeitung der Spielanweisungen, der »verbalen Partitur«, half mir Franz Willnauer, und er schlug auch den leicht ironischen Titel Poème Symphonique vor. Die Spielanweisungen wurden in der Urfassung 1962 veröffentlicht, inzwischen aber modifiziert.

Die erste Aufführung fand am 13. September 1963 im Festsaal des Rathauses der Stadt Hilversum (Holland) statt und verursachte einen fürchterlichen Skandal. Ich dirigierte, die Metronome wurden von zehn Teilnehmern des Kompositionskurses der Stiftung Gaudeamus »gespielt«. Der Leiter der Stiftung, Walter Maas, hatte einen Metronomhersteller1 überredet, uns einhundert Instrumente zu leihen. Die Mitwirkenden traten im Frack auf, um der Aufführung einen festlichen Charakter zu verleihen.

Bei dieser Aufführung in Hilversum zogen die »Spieler« die Metronome einzeln auf und stellten sie auf verschiedene Geschwindigkeiten ein. Nachdem alle Instrumente in Gang gesetzt waren, verließen die »Spieler« den Saal, sodass die Instrumente allmählich von allein abliefen – erst die auf schnellere Tempi eingestellten, dann nach und nach die langsameren. Nach den Erfahrungen mit weiteren Aufführungen habe ich später den Ablauf insofern verändert, als das gesamte Stück sich nun, ohne sichtbare menschliche Hilfe, selbst »interpretiert«: Die Metronome werden vor Öffnung des Saales in Gang gesetzt, sodass das Publikum nur mit den tickenden Instrumenten konfrontiert ist und der mechanische, automatische Charakter der Musik gewahrt bleibt.

Der Verlauf des Stückes beschreibt einen einzigen großen Bogen, ein rhythmisches Diminuendo. Zu Beginn ticken so viele Metronome durcheinander, dass der Gesamtklang kontinuierlich erscheint. Mit dem Stehenbleiben der ersten Metronome verdünnt sich der statische Klang, und allmählich schälen sich komplexe Rhythmen aus dem gleichförmigen Klangband heraus. Diese rhythmischen Strukturen werden mit dem graduellen Aussetzen von immer mehr Instrumenten deutlicher: je geringer die Komplexität, desto größer die rhythmische Differenziertheit. Gegen Ende des Stückes, wenn nur noch wenige Instrumente ticken, nimmt die Differenziertheit wieder ab, das rhythmische Muster wird immer regelmäßiger, und wenn nur noch ein Metronom tickt, ist das Muster vollkommen periodisch.

Der Formgedanke des Stückes basiert auf dem Wechselspiel zwischen individuellen, determinierten periodischen Rhythmen und einer zusammengesetzten, polyrhythmischen Gesamtstruktur. Zwar ist diese rhythmische Gesamtstruktur auf einer mittleren Ebene indeterminiert, denn das lokale Ergebnis der Addition der verschieden langen Einzelperioden ist zufällig, doch ist sie auf einer höheren Ebene wiederum determiniert, nämlich auf der Ebene der zeitlichen Entfaltung der Gesamtform. Diese Gesamtform besteht aus drei Phasen: Gleichmäßigkeit – allmähliche Strukturiertheit – Gleichmäßigkeit, wobei die anfängliche Gleichmäßigkeit Resultat einer kollektiven Verwischung ist, die Gleichmäßigkeit des Schlusses sich aber aus dem periodischen Ticken des allein übriggebliebenen Metronoms ergibt. Die drei Phasen sind nicht voneinander abgegrenzt, das rhythmische Geschehen geht vielmehr von einer Phase ganz allmählich und weich in die andere über. Dies ist scheinbar ein kontinuierlicher Vorgang, doch besteht er im Detail aus diskontinuierlichen Momenten, da die einzelnen Metronome plötzlich aussetzen. In der verdünnten Phase, wenn nur noch wenige Instrumente ticken, wird die Diskontinuität hörbar, am krassesten beim Verstummen des letzten Metronoms.

Poème Symphonique für hundert Metronome verlangt nach geduldigem Hören, das sich viel Zeit nimmt, um sich allmählich einzuleben in den Vorgang der graduellen Transformation rhythmischer Muster. Es ist gewissermaßen ein Stück Minimal Music avant la lettre.

1 Fa. Rudolf Wittner GmbH & Co. in Isny (Allgäu).

Einführungstext zur Schallplattenedition (zwei Versionen, Aufnahme 1985), Edition Michael Frauenlob Bauer (MFB 008), Frankfurt am Main 1989. Wiederveröffentlichung als Nachwort zur Neufassung der publizierten Aufführungsanweisungen, Mainz etc.: Schott 1996 (ED 8150).

Zum Poème Symphonique

Poème Symphonique für hundert pyramidenförmige mechanische Metronome habe ich 1962 komponiert. Die Partitur – eine Seite in Schreibmaschinenschrift – besteht aus Anweisungen, wie man die Metronome beschaffen, auf- und einstellen sowie aufziehen soll. Sobald die Apparate ticken, entsteht die musikalische Form automatisch, und wenn man die Einstellungsanweisungen streng befolgt, ist das resultierende Musikstück fast immer das gleiche.

Die erste Aufführung von Poème Symphonique fand Anfang September 1963 im Rathaus von Hilversum in den Niederlanden statt. Als Abschlußveranstaltung der Kurse und Konzerte für Neue Musik der Stichting Gaudeamus gab es einen Empfang. Der Bürgermeister von Hilversum, im traditionellen dunkelblauen Festanzug mit einem silbernen Säbel am Gürtel, und der Botschafter Spaniens mit rot-gelb-roter Kokarde hielten jeder eine Festrede; beide sprachen über die hohen spirituellen Werte der musikalischen Kunst. Walter Maas, der Leiter der Gaudeamus-Stiftung und eine legendäre Figur in der Welt der Neuen Musik, hatte die hundert Metronome bei der Firma Wittner in Isny im Allgäu als Leihmaterial bestellt und Leihgebühr, Transport- und Versicherungskosten übernommen. Was ich mit den hundert Metronomen anfangen wollte, danach hatte er nicht gefragt.

Damals, zu Beginn der sechziger Jahre, war ich – ohne dass ich es gewollt hätte – Mitglied der Fluxus-Bewegung. Schon 1960 hatte mir ihr Begründer, George Maciunas, mitgeteilt, dass ich zu Fluxus gehöre, mit dem simplen Argument: »Ligeti, I want you.« Da ich also bereits Mitglied war und außerdem befreundet mit Nam June Paik, einem weiteren bedeutenden Vertreter dieser Kunstrichtung, habe ich in den folgenden zwei Jahren mehrere Fluxus-Stücke entworfen beziehungsweise aufgeführt. Das Metronomstück sollte das letzte sein.

In Hilversum wurde das Stück von zehn Ausführenden in Gang gesetzt, acht Komponisten und zwei Komponistinnen, allesamt Teilnehmer der Gaudeamus-Musikwoche. Meine Anweisung lautete, dass die Ausführenden im Frack beziehungsweise Abendkleid auftreten sollten. So fuhren die acht Komponisten am Nachmittag vor dem Empfang zu einem Frackverleih in Utrecht. Da ich als Dirigent mitwirken sollte, bekam auch ich einen Frack geliefert, zur Anprobe aber reichte die Zeit nicht mehr. Es stellte sich erst am Abend heraus, dass das harte Frackhemd um einige Nummern zu groß war – so passte mein Auftreten dann stilgerecht zu Fluxus.

Die Anprobe konnte nicht stattfinden, weil es ein dringenderes Problem gab: Hundert Metronome befanden sich transportgerecht verpackt in zehn gut zugenagelten Holzkisten, die in einem entlegenen Gang des Rathauses lagerten. Ich stand einsam vor den Holzkisten, allerdings mit Hammer und Zange bewaffnet. Das Öffnen der Kisten war kinderleicht, doch die Metronome (alle nagelneu) wurden sämtlich in aufgezogenem Zustand geliefert, sodass sie zunächst geöffnet und in Gang gesetzt werden mussten, damit sie ablaufen konnten. Selbst auf die schnellstmögliche Pendelzeit eingestellt, dauert das Ablaufen eines vollständig aufgezogenen Metronoms eine gute halbe Stunde, was ich aber damals nicht ahnte. Dann gab es noch eine Schwierigkeit, nämlich dass die Aufziehschlüssel mit einem Klebestreifen fest am Boden eines jeden Apparats hafteten. Ich musste also die hundert Schlüssel erst befreien und dann jeden separat auf die Aufziehwelle aufschrauben.

Es war schon September, doch die Sonne verbreitete noch immer glühende Hitze. Ich war vollkommen durchgeschwitzt, allein und in Panik: Wie sollte diese ganze Vorbereitung bis zum Beginn des Empfangs beendet werden, wie sollten die hundert Metronome, noch bevor die Gäste eintrafen, im Festsaal des Rathauses auf Podeste gestellt und mit schwarzen Stofftüchern abgedeckt werden, damit das Publikum nicht ahnen konnte, welche Art von Musikstück zur Aufführung kommen würde? Irgendwie schaffte ich es in letzter Minute, und schon kamen die zehn Interpreten und nahmen in Windeseile die Metronome mit. Ich wurde schnell von Komponistenkollegen mit einem breiten Frotteetuch abgetrocknet und musste, halbwegs trocken, auch gleich in den vorbereiteten Frack schlüpfen. Allerdings kannte sich niemand mit den ungewohnten Knöpfen, Spangen und der zu bindenden Schleifenkrawatte aus.

Mittlerweile waren Lastwagen mit Aufnahmekameras des holländischen Fernsehens eingetroffen. Das Kamerateam traf emsige Vorbereitungen, ohne zu wissen, was es eigentlich aufnehmen sollte. Alle waren sehr beschäftigt, nur ein einziger Mann stand ganz still da und half nicht mit. Ich fragte ihn, was er tue. Er erklärte, seine einzige, ihm von der Gewerkschaft zugewiesene Betätigung sei das Auffinden von Steckdosen in der Wand, andere Arbeiten seien ihm streng verboten. Da er aber die Steckdosen bereits ausfindig gemacht habe, dürfe er nun nichts mehr tun; das Anschließen der Kabel selbst sei die Aufgabe eines anderen Spezialisten.

Nach den Festreden verlief die Uraufführung wie vorgesehen. Da das Publikum nichts von Fluxus wußte und für die eingeladenen Notabilitäten und Bürger Hilversums damals auch John Cage noch gänzlich unbekannt war, gab es nach dem letzten Metronomschlag zunächst beklemmende Stille. Dann folgten bedrohliche Protestschreie. Der Erbauer des Rathauses, der große, damals schon sehr alte niederländische Architekt Willem Marinus Dudok1, war selbst anwesend und völlig entsetzt.

Zwei Tage später – ich war noch Gast bei Walter Maas in dem kuriosen, einem geöffneten Flügel ähnelnden Haus der Stiftung – saßen wir vor dem Fernsehapparat und warteten auf die angekündigte Sendung der Filmaufnahmen. Stattdessen folgte eine Fußballübertragung. Empört rief Walter Maas sofort bei der Fernsehanstalt an. Es stellte sich heraus, dass die Ausstrahlung auf dringenden Wunsch des Hilversumer Senats untersagt worden war – obwohl es in den liberal regierten Niederlanden eine Zensur eigentlich nicht gab. Jahre später konnte ich den Film sehen, in Stockholm, bei einer internen Vorführung von Sveriges Radio. Das schwedische Fernsehen beabsichtigte, die Aufnahme zu senden, und hatte den Film aus Hilversum auch erhalten, aber auf der Schachtel stand: »Nur zum internen Gebrauch – für Sendungen nicht zugelassen«.

Der Happeningcharakter ist freilich nur ein Aspekt des Stückes. Mir schwebten zahlreiche sich überlagernde Gitter vor, Moiré-Gebilde, die dann wechselnde rhythmische Strukturen ergeben würden. Auch war zu Beginn der sechziger Jahre die Informationstheorie in Mode, und es wurde viel über »Informationsästhetik« gefaselt. So dachte ich, ich produziere ein rhythmisches Gitter, das zu Beginn so dicht ist, dass es fast kontinuierlich wirkt: Das bedeutet Verwischung und Unordnung. Dazu brauchte ich eine genügend große Menge von Metronomen – hundert war nur eine geschätzte Zahl. Nicht im Traum jedoch hatte ich daran gedacht, dass jemand die hundert Geräte tatsächlich zur Verfügung stellen würde. Dazu bedurfte es der Hartnäckigkeit und zutiefst liebenswürdigen Naivität von Walter Maas – kein anderer hätte das bewerkstelligen können.

Sobald einige Metronome abgelaufen sind, schälen sich wechselnde, von der Dichte des Tickens abhängige rhythmische Muster heraus, bis am Ende ein einziges, langsam tickendes Metronom übrigbleibt, dessen Rhythmus dann ganz regelmäßig ist. Die gleichmäßige Unordnung zu Beginn heißt im Jargon der Informationstheoretiker (und in der Thermodynamik) »maximale Entropie«. Bei den sich graduell ergebenden, unregelmäßigen Gitterstrukturen ist die Entropie reduziert, da unvorhergesehene Ordnungsmuster aus der anfänglichen Uniformität herauswachsen. Wenn dann ein einziges Metronom übrigbleibt, das vollkommen vorhersehbar weitertickt, ist die Entropie wieder maximal – meint die Theorie.

Seit 1963 wurde Poème Symphonique oft aufgeführt. Auf die Fluxus-Zeremonie habe ich später völlig verzichtet, da sie überflüssig ist. Das Stück kann von wenigen Mitwirkenden – sogar von nur einem – vorbereitet werden. Dann sollen die Metronome in Gang gesetzt werden, bevor das Publikum den Konzertsaal betritt, sodass das Stück wirklich wie ein Automat abläuft: Metronome und Publikum werden ohne jede menschliche Vermittlung miteinander konfrontiert.

1 Willem Marinus Dudok (1884–1974), Stadtbaumeister von Hilversum ab 1927, baute das Rathaus 1928–31.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 5, »Mechanical Music«, SK 62310), 1997.

Aufführungsanweisungen

Zur Aufführung von Poème Symphonique werden hundert Metronome und zwei oder mehrere »Spieler« benötigt. Es sind vorzugsweise pyramidenförmige mechanische Metronome zu verwenden. Elektrische oder elektronische Metronome dürfen nicht eingesetzt werden.

Vor der Aufführung teilen die Spieler die hundert Metronome in gleich große Gruppen auf. Jeder Spieler übernimmt die Verantwortung für seine Gruppe von Metronomen.

Die Vorbereitung der Aufführung erfolgt unter Ausschluss des Publikums. Es ist daher ratsam, das Stück am Anfang eines Konzerts oder gleich nach der Pause aufzuführen.

Alle Metronome sollen vor der Aufführung vollkommen abgelaufen sein und in nicht aufgezogenem Zustand auf das Podium gebracht werden. Es ist darauf zu achten, dass vor der Aufführung niemand die Gelegenheit hat, ein Metronom aus Versehen aufzuziehen, denn die musikalische Form wäre dadurch zerstört. Es ist zweckmäßig, die Metronome auf geeignete Resonatoren zu stellen. Am besten eignet sich ein hohles Holzpodest. Auch Holztische oder -stühle können verwendet werden, eventuell zwei Flügel, doch ohne Stoffbedeckung.

Die Metronome sollen auf verschiedene Geschwindigkeiten eingestellt werden – etwa von MM 144 bis MM 50 – mit beliebigen Zwischenstufen. Die Metronome werden so platziert, dass die schnelleren vom Publikum aus gesehen hinten, die langsameren aber vorne stehen.

Das Aufziehen der Metronome um vier halbe Umdrehungen (einhundertachtzig Grad) sichert die adäquate Aufführungsdauer von fünfzehn bis zwanzig Minuten. Es muss darauf geachtet werden, dass kein Metronom zweimal aufgezogen wird.

Sämtliche Metronome werden möglichst gleichzeitig in Bewegung gesetzt. Sobald alle Metronome ticken, entfernen sich die Spieler vom Podium. Sie nehmen im Saal verteilt Platz, während das Publikum, das draußen, hinter verschlossenen Türen gewartet hat, hereingelassen wird, um sich so schnell und so leise wie möglich zu seinen Plätzen zu begeben. Es soll absolute Ruhe im Publikum herrschen, bis das letzte Metronom aufgehört hat zu ticken.

Die 1962 in Zusammenarbeit mit Franz Willnauer formulierte Urfassung der Aufführungsanweisungen, inzwischen für obsolet erklärt, erschien erstmals – unter dem Stichwort »Symphonie (für 100 Metronome). Partitur« – in: Humor am Rand der Notenlinien. Karikatur Parodie Satire im Zeichen der Musik, hrsg. von Lothar Knessl, Salzburg: Residenz o. J. [1965], S. 104–108. Die vorliegende Neufassung, geschrieben für eine Aufführung am 5. Mai 1990 im Rahmen des Festivals »Hommage a` György Ligeti« in Gütersloh, publizierte der Verlag Schott in Mainz 1996 als Sonderpublikation (ED 8150).

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 190-196. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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