György Ligeti

Clocks and Clouds

Titel
Clocks and Clouds
Untertitel
für 12stimmigen Frauenchor und Orchester
Category
Chor und Orchester
Dauer
13:00
Anzahl Mitwirkende
38 + Chor
Besetzung
4 Soprane · 4 Mezzosoprane · 4 Alt (ad lib. 12 Soli)Orchester: 5 (1. auch Afl. 3.-5. auch Picc.) · 3 · 5 (5. auch Bassklar.) · 4 (4. auch Kfg.) – 0 · 2 · 0 · 0 – Glsp. · Vibr. – Cel. · 2 Hfe. – Str. (0 · 0 · 4 · 6 · 4)
Entstehung
1972
Uraufführung
1973-10-15
Graz · ORF-Symphonieorchester und ORF-Chor · Dir.: Friedrich Cerha
Auftraggeber
musikprotokoll Graz ORF Studio Steiermark
Audio
Copyright

György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580

Kommentare des Komponisten zum Werk

Der Titel des Werkes bezieht sich auf einen Aufsatz des österreichisch-englischen Philosophen Sir Karl Raimund Popper »Über Wolken und Uhren«, einen Aufsatz, der von exakt messbaren Vorgängen in der Natur (»Uhren«) und unbestimmten, nur statistisch beschreibbaren Vorgängen (»Wolken«) handelt.1 Meine Komposition hat zwar nichts mit dem Inhalt des Popper‘schen Aufsatzes zu tun, doch gefiel mir Poppers Titel und erweckte in mir musikalische Assoziationen an einen Formvorgang, in dem rhythmisch und harmonisch präzise Gestalten allmählich in diffuse Klangtexturen übergehen und umgekehrt, wobei also das musikalische Geschehen hauptsächlich aus Prozessen der Auflösung von »Uhren« in »Wolken« und der Kondensation und Materialisation von »Wolken« in »Uhren« besteht. Diese Vorgänge sind nicht linear, der Übergang von »Uhren« zu »Wolken« und zurück ist unregelmäßig und vertrackt, auch gibt es ständig Überlappungen und Aneinanderschichtungen von musikalischen Vorgängen, sodass »Uhren« innerhalb von »Wolken« ticken und »Wolken« gleichsam von innen heraus die »Uhren« aushöhlen und verflüssigen.

Da die rhythmische »pattern transformation« mit einer harmonischen Hand in Hand geht, verwandte ich ein harmonisches System, das einen chamäleonhaften Wechsel zwischen nichttemperierten und temperierten Intervallen und Harmonien erlaubt. Sämtliche Bläser und Streicher sind fähig, nicht genau determinierte Intonationsabweichungen vom fixierten Referenzsystem der gleichschwebenden Temperatur auszuführen – doch ist die Flöte das bevorzugte Instrument für genau determinierte Abweichungen, da bei diesem Instrument in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Untersuchungen über ungewohnte Griffmöglichkeiten durchgeführt worden sind. (In der Notenschrift verwende ich eine Mischform aus Tonhöhennotation und Tabulatur, indem nicht genau notierbare Tonhöhenabweichungen durch die Angabe des jeweiligen Griffes präzisiert werden.) So bildet in Clocks and Clouds eine Gruppe von fünf Flöten das instrumentale Rückgrat für die Ausführung von genau festgelegten Mikrointervallen beziehungsweise Intonationsabweichungen. In engster Kombination mit den Flöten stehen fünf Klarinetten sowie ein zwölfstimmiger Frauenchor (ad libitum zwölf Solostimmen)2: Diese Kombination ergibt eine besonders weiche und helle dominierende Klangfarbe, die für die Gestaltung der »verflüssigten« Texturen geeignet ist – die präzisen rhythmischen »patterns« werden dagegen von fixiert und temperiert gestimmten Instrumenten mit schnell abklingendem, daher auch rhythmisch deutlichem Klang realisiert: zwei Harfen, Glockenspiel, Vibraphon und Celesta. Die übrigen Instrumente sind: drei Oboen, vier Fagotte, zwei Trompeten, vier Bratschen, sechs Celli und vier Kontrabässe. Während die Intonationsabweichungen der Flöten durch die Tabulatur bestimmt sind, spielen die übrigen Bläser und die Streicher unpräzise Abweichungen – auch der Frauenchor hat Mikrointervalle zu singen, die aber in der Intonation durch die Bläser, hauptsächlich durch die Flöten, gestützt werden. Der »Text« der Singstimmen ist nichtsemantisch und im Internationalen Phonetischen Alphabet notiert. Die vorgeschriebenen Lautkombinationen haben rhythmische und farbliche Funktion und dienen der abwechselnden Verschmelzung beziehungsweise Verselbständigung der Singstimmen.

Clocks and Clouds habe ich dem Andenken meines unvergessenen Freundes Harald Kaufmann gewidmet: Unsere Gespräche brachten mich oft auf neue musikalische Gedanken, sein früher Tod hinterlässt eine nie wieder ausfüllbare Lücke in meinem Leben.

1 Karl R. Popper, Of Clouds and Clocks. An Approach to the Problem of Rationality and the Freedom of Man, St. Louis, MO: Washington University Press 1966; deutsche Fassung: »Über Wolken und Uhren«, in: ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 230–282.

2 Nach Erfahrungen mit mehreren Aufführungen habe ich mich für die Fassung mit zwölf Solostimmen entschieden, sodass die Chorfassung entfällt (Anm. 2002).

Einführungstext zur Uraufführung im Rahmen des Musikprotokolls im Steirischen Herbst am 15. Oktober 1973 in Graz.

Zu Clocks and Clouds

Dieses Stück für zwölf Frauenstimmen1 und Orchester aus dem Jahr 1973 ist wichtig für meine stilistische Entwicklung, die sich damals sehr schnell vollzogen hat. Wenn man nach dem Kammerorchesterstück Melodien von 1971 unmittelbar anschließend Clocks and Clouds hört, so kommt man in eine andere Welt, obgleich nur zwei Jahre dazwischen liegen. Melodien basiert noch ganz auf dem gleichschwebend temperierten Zwölftonsystem, während Clocks and Clouds ein mikrotonales Stück ist. Eine Vierteltonstimmung gibt es schon in Ramifications (1968–69) für zwei abweichend skordierte Streichergruppen. Im Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester (1972) habe ich dann nicht mehr vierteltönige, sondern unregelmäßige Mikrointervalle verwendet, die durch »Bartolozzi‘sche« Griffe angegeben sind. Diese Technik ist in Clocks and Clouds noch weiter entwickelt in Richtung auf eine »diatonische« Mikrointervallik: Die Vokalstimmen passen sich der schwankenden Intonation der Flöten, Klarinetten und Oboen an.

Der Titel stammt aus einem Aufsatz des Philosophen Karl Popper und lautet im Original Of Clouds and Clocks.2 Clouds steht für nichtpräzise statistische Vorgänge und Clocks für die ganz genau messbaren. Ich fand den Titel schön und bezeichnend für meine kompositorischen Vorstellungen. Der Gegensatz zweier musikalischer Strukturtypen, des Nebelhaft-Verschwommenen (in Apparitions und Atmosphères) und der uhrwerkartigen Präzisionsmechanik (etwa in Continuum und schon im Poème Symphonique für hundert Metronome von 1962) ist charakteristisch für meine gesamte Musik. Clocks and Clouds besteht nun aus einer fortwährenden Transition zwischen Uhrengeticke und Nebelgewebe. Die Uhrwerke werden allmählich aufgelöst und in Nebelschwaden umgewandelt. Und hinzu kommt noch diese mikrotonal-konsonante Harmonik, die dem Stück eine merkwürdig leuchtende Färbung verleiht.

1 Ursprüngliche Besetzung: zwölfstimmiger Frauenchor oder zwölf Solostimmen ad libitum.

2 Karl R. Popper, Of Clouds and Clocks. An Approach to the Problem of Rationality and the Freedom of Man, St. Louis, MO: Washington University Press 1966; deutsche Fassung: »Über Wolken und Uhren«, in: ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 230–282.

Werkkommentar von 1988 (Auszüge aus einem Gespräch mit Detlef Gojowy), zuerst veröffentlicht in: Für György Ligeti. Die Referate des Ligeti-Kongresses Hamburg 1988 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 11), hrsg. Von Constantin Floros, Hans Joachim Marx und Peter Petersen unter Mitwirkung von Manfred Stahnke, Laaber: Laaber-Verlag 1991, S. 349–363, hier S. 355–357.

Über Clocks and Clouds

Clocks and Clouds für zwölf Frauenstimmen und Orchester habe ich 1973 komponiert. Die Besetzung des Orchesters umfasst fünf Flöten (auch drei Piccolos), drei Oboen, fünf Klarinetten (die fünfte auch Bassklarinette), vier Fagotte, zwei Trompeten, Glockenspiel, Vibraphon, Celesta, zwei Harfen, vier Violen, sechs Celli und vier Kontrabässe. Dieses Werk ist nicht chromatisch, sondern verwendet eine – durch Mikrointervalle eingefärbte – diatonische Melodik und Harmonik. Ich suche stets nach neuen Konstruktionsmitteln. Der Titel stammt, leicht abgewandelt, aus einem wissenschaftstheoretischen Aufsatz von Karl Popper. Bei Popper geht es um exakt determinierte (»Uhren«) und um globale, statistisch erfassbare Ereignisse (»Wolken«) in der Natur. In meinem Stück sind die Uhren beziehungsweise Wolken poetische Assoziationsgebilde. Periodische, polyrhythmische Klangkomplexe verschmelzen zu diffusen, flüssigen Zuständen und umgekehrt. Der abstrakte »Text« des Stückes ist im Internationalen Phonetischen Alphabet notiert und dient der rhythmischen Artikulation und den Klangfarbentransformationen.

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project III, 8573-87631-2), Hamburg 2002.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 261-265. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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