Donaueschingen · Donaueschinger Musiktage · Sinfonie-Orchester des Südwestfunks · Dir.: Ernest Bour
Sostenuto espressivo
György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580
Was die Großform betrifft, ist Lontano (fern, entfernt) mit Atmosphères verwandt. Beide gehören dem kontinuierlichen Typus an. Die harmonische und polyphone Technik greift teilweise auf den »Lacrimosa«-Satz aus dem Requiem und auf Lux aeterna zurück, doch sind die kompositorischen Fragestellungen und Lösungen hier ganz anders: Die Qualität Klangfarbe schlägt um in die Qualität Harmonik, harmonisch-polyphone Verwandlungen erhalten den Anschein von Klangfarbentransformationen. Die »harmonische Kristallisation« innerhalb des Sonoritätenbereichs führt zu einem intervallisch-harmonischen Denken, das sich von der traditionellen Harmonik – auch von der atonalen – insofern grundsätzlich unterscheidet, als eine direkte Sukzession oder Verknüpfung von Harmonien hier nicht stattfindet. Es handelt sich um eine allmähliche Metamorphose von intervallischen Konstellationen, das heißt: bestimmte harmonische Gebilde wachsen gleichsam in andere hinüber, innerhalb eines harmonischen Gebildes erscheint andeutungsweise die nächste harmonische Konstellation, diese durchdringt und trübt allmählich die frühere, bis jene nur mehr in Spuren zurückbleibt und das neue Gebilde sich voll entfaltet hat.
Technisch wird dies mit polyphonen Mitteln erreicht: Die fiktiven Harmonien sind Ergebnis der komplexen Stimmenverwebung, die allmähliche Trübung und das Neu-Herauskristallisieren ist das Resultat diskreter Veränderungen in den einzelnen Stimmen. Die Polyphonie selbst ist fast unmerklich, ihr harmonisches Ergebnis jedoch stellt das eigentliche musikalische Geschehen dar: Geschrieben ist die Polyphonie, zu hören die Harmonik.
Die harmonischen Kristallbildungen haben mehrere Schichten: Im Inneren der Harmonien sind Unterharmonien eingeschlossen, in diesen wiederum Unterhamonien, und so weiter. Es gibt nicht einen einzigen harmonischen Wandlungsverlauf, sondern mehrere simultane Verläufe mit verschiedenen Geschwindigkeiten, die durchschimmern, einander überlagern und durch mannigfaltige Brechungen und Spiegelungen eine imaginäre Perspektive hervorbringen. Sie entfaltet sich dem Hörer allmählich, wie wenn man aus grellem Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer tritt und die Farben und Konturen nach und nach wahrnimmt.
Als ich die ersten Vorstellungen von den zarten, ineinanderwachsenden, gleichsam flüssigen Kristallbildungen hatte, verbanden sie sich in mir mit einem Gefühl großer räumlicher und zeitlicher Ferne. Während des Komponierens dachte ich immer wieder an eine Stelle bei John Keats:
»The same that oft-times hath charm’d magic casements, opening on the foam of perilous seas, in faery lands forlorn.«1
1 Das Zitat von John Keats stammt aus seiner Ode to a Nightingale von 1819.
Ausgekoppelter Werkkommentar (siehe »Bericht zur eigenen Arbeit«, in dieser Ausgabe, Bd. 2, S 75–77) aus dem Einführungstext (mit dem Titel »Anlässlich Lontano «) zur Uraufführung am 22. Oktober 1967 in Donaueschingen, in: Begegnung, Sonderheft (= Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1967), Amriswil 1967, o. S. [S. 15–17].
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 245-246. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014