György Ligeti

Streichquartett Nr. 1

Titel
Streichquartett Nr. 1
Untertitel
Métamorphoses nocturnes
Category
Kammermusik
Streichquartett
Dauer
21:00
Anzahl Mitwirkende
4
Entstehung
1953
Uraufführung
1958-05-08
Wien · Ramor-Quartett
Kommentare des Komponisten zum Werk

Métamorphoses nocturnes, mein erstes Streichquartett, komponierte ich 1953–54 in Budapest – für die Schublade, denn an eine Aufführung war nicht zu denken. Das Leben in Ungarn stand damals unter totaler Kontrolle der kommunistischen Diktatur, das Land war völlig abgeschnitten von jeglicher Information aus dem Ausland: Weder Kontakte noch Reisen waren möglich, der westliche Rundfunk wurde von Störsendern unterdrückt, Noten oder Bücher konnte man weder schicken noch erhalten. Die totale Isolierung galt nicht nur in Richtung Westen, auch die Ostblockländer waren voneinander abgeriegelt. So entstand in Budapest eine Kultur des »geschlossenen Zimmers«, in der sich die Mehrheit der Künstler für die »innere Emigration« entschied. Offiziell wurde der »sozialistische Realismus« aufoktroyiert, das heißt eine billige Massenkunst mit vorgeschriebener politischer Propaganda. Moderne Kunst und Literatur wurden pauschal verboten, die reiche Sammlung französischer und ungarischer Impressionisten im Budapester Kunstmuseum beispielsweise hängte man einfach ab und lagerte sie im Depot ein. Irrwitzige Zustände herrschten in der Literatur: Nicht genehme Bücher verschwanden aus Bibliotheken und Buchhandlungen – unter vielen anderen wurden auch Don Quijote und Winnie the Pooh eingestampft. Im Bereich der Musik galt der 1945 verstorbene Bartók als der große Nationalkomponist und antifaschistische Held, doch die meisten seiner Werke fielen der Zensur zum Opfer; aufgeführt wurden nur das Konzert für Orchester, das dritte Klavierkonzert und Volksliedbearbeitungen, also die »versöhnlichen«, nichtdissonanten Stücke. Dass alles »Moderne« – ähnlich wie vorher in Nazi-Deutschland – verboten war, verstärkte hingegen nur die Anziehungskraft, die das Konzept der Moderne auf nonkonformistische Künstler ausübte. Geschrieben, komponiert, gemalt wurde insgeheim und in der kaum vorhandenen Freizeit: Für die Schublade zu arbeiten, galt als Ehre.

Mein Streichquartett komponierte ich angeregt durch Bartóks mittlere Quartette (Nr. 3 und 4), die ich aber nur aus der Partitur kannte, da sie nicht gespielt werden durften. Metamorphosen bedeutet hier eine Folge von Charaktervariationen ohne ein eigentliches Thema, doch entwickelt aus einem motivischen Grundkeim: zwei großen Sekunden, die um eine kleine Sekunde verschoben sind. Melodisch und harmonisch beruht das Stück auf der totalen Chromatik, in formaler Hinsicht aber folgt es den Kriterien der Wiener Klassik: Periodik, Imitation, motivische Fortspinnung, Durchführung, durchbrochener Satz. Neben Bartók waren für mich Beethovens Diabelli-Variationen das »heimliche Ideal«. Die Modernität betrifft also Melodik, Harmonik, Rhythmik, doch die Artikulation der Form, der »Discours«, ist traditionell. Diese Bindung an das Ethos der kompositorischen Haltung Haydns und Beethovens bedeutete auch eine moralische Stütze im Widerstand gegen die vorgeschriebene pseudopopulistische Parteikunst. Modernität und Traditionalität empfand ich nicht als gegensätzlich, vielmehr als doppelte Panzerung gegen die erniedrigende Kunstdiktatur. Erst zwei Jahre nach meiner Flucht aus Ungarn wurde dieses Quartett zum ersten Mal gespielt, 1958 in Wien, von dem ebenfalls geflüchteten Ramor-Quartett.

Mein Zweites Streichquartett komponierte ich 1968; die Uraufführung fand im Dezember 1969 mit dem LaSalle-Quartett in Baden-Baden statt. Von den Stilmerkmalen meines ersten Quartetts blieb nur der Gebrauch der totalen Chromatik übrig: In den fünfzehn Jahren, die zwischen den beiden Quartetten liegen, hatte sich die Achse meines Lebens und meines kompositorischen Denkens um 180 Grad gedreht. Im Februar 1957 kam ich nach Köln, erlernte die Technik der elektronischen Klangerzeugung und bekam Kontakt zu den westeuropäischen Komponisten meiner Generation. Ich lernte viel von Stockhausen, Boulez und Koenig und von anderen Komponisten der Köln-Darmstadt-Paris-Avantgarde. Auch Webern und Debussy prägten mich entscheidend, doch gab ich die Bindung an Bartók nicht auf.

Gegen Ende der fünfziger Jahre entwickelte ich meine eigene Kompositionstechnik, die »Mikropolyphonie«. Es handelt sich dabei um eine Synthese meiner Kompositionserfahrungen mit vielschichtigen Klängen, wie sie im Kölner Studio für elektronische Musik realisiert werden konnten, und meiner Kenntnisse der Polyphonie von Ockeghem, Josquin Desprez und Palestrina, die ich mir noch in Budapest angeeignet hatte. Komplexe mikropolyphone Stimmengewebe realisierte ich zunächst in Orchesterstücken, erst dann, im Laufe der sechziger Jahre, versuchte ich die Anzahl der Stimmen zu reduzieren: Das Zweite Streichquartett markiert einen Endpunkt in dieser Entwicklung. Jeder der fünf Sätze ist eine andersartige Realisation derselben Grundidee, nämlich des Ausformens von Bewegungsstrukturen aus polyrhythmischen Stimmenbündeln. In dieser Musik gibt es keine motivische Technik mehr, keine Konturen, nur noch klingende Gewebe – manchmal zerfasert, fast flüssig (wie im ersten und letzten Satz), ein andermal körnig, maschinell (wie im mittleren Pizzicato-Satz). Beeinflusst war ich unter anderem von Cézannes Malweise: Wie kann Farbe die Konturen ersetzen, wie können kontrastierende Volumina und Gewichte Form erzeugen?

Einführungstext (1995) für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 1, »String Quartets and Duets«, SK 62306), 1996.

Streichquartett Nr. 1 Métamorphoses nocturnes

Das erste Wort des Untertitels bezieht sich auf die Form: Es handelt sich um eine Art Variationenform, nur gibt es kein »Thema«, das dann variiert würde, vielmehr erscheint ein und derselbe musikalische Grundgedanke in stets neuen Verwandlungsformen – deshalb eher Metamorphosen als »Variationen«. Das Quartett besteht aus einem einzigen Satz, einem Satz allerdings von großen Dimensionen – er dauert mehr als zwanzig Minuten. Doch kann man die Form auch als eine Folge von vielen kurzen Sätzen auffassen, die ohne Pause ineinander übergehen oder einander abrupt ablösen. Der intervallische Grundgedanke, der stets in neuen Transformationen erscheint, besteht aus zwei großen Sekunden, die im Abstand einer kleinen Sekunde aufeinanderfolgen.

Man sollte beim Anhören dieses ersten Streichquartetts nicht den vertrauten Ligeti-Stil erwarten, der sich erst um 1958 in Stücken wie Artikulation und Apparitions deutlich ausgeprägt hat. Das Quartett aus den Jahren 1953–54 gehört dagegen noch zum »prähistorischen« Ligeti. Wohl zeigen sich hier schon Merkmale meiner späteren Musik, doch ist die gesamte Faktur »altmodisch«: Es gibt noch deutliche melodische, rhythmische und harmonische Gebilde und Taktmetrik. Es handelt sich weder um tonale noch um radikal atonale Musik. Stilistisch rangiert das Stück in der Bartók-Tradition, was nicht verwunderlich ist, wenn man sich meine Situation als Komponist in Ungarn Anfang der fünfziger Jahre vergegenwärtigt: Die Wiener Schule ebenso wie die nachwebernsche Entwicklung der Nachkriegsjahre waren in Ungarn gänzlich unbekannt, man lebte in einer künstlerischen Isolation, als ob die Kriegsjahre noch andauern würden – das »Modernste« am musikalischen Horizont war der chromatische Stil Bartóks. Trotz der Nähe zu Bartók, besonders in der Rhythmik, und einiger Anklänge an Strawinsky und Berg ist dieses Erste Streichquartett, wie ich glaube, ein durchaus persönliches Werk. Nur sollte man es nicht nach den Maßstäben der westeuropäischen Nachkriegsmusik, sondern nach den ganz andersartigen der musikalischen Situation in Osteuropa beurteilen. Ich selbst habe jahrelang die Aufführung des Ersten Quartetts wie auch der anderen Kompositionen aus meiner ungarischen Zeit verboten. Wenn ich jetzt manche dieser Stücke zur Aufführung freigebe, so deswegen, weil ich inzwischen einen eigenen musikalischen Stil entwickelt habe und meinen Jugendwerken gegenüber toleranter geworden bin. Verleugnen will ich sie jedenfalls nicht.

Einführungstext zu einem Konzert im Rahmen der Berliner Festwochen am 5. Oktober 1970.

Zum Streichquartett Nr. 1 Métamorphoses nocturnes

Das erste Streichquartett entstand 1953–54, unmittelbar nach den Sechs Bagatellen für Bläserquintett, doch lässt sich ein gewisser stilistischer Wandel zwischen den beiden Werken feststellen. Die im wesentlichen diatonisch-modale Sprache der Bagatellen verwandelte sich in ein stärker chromatisches und weniger tonales musikalisches Idiom. Stilistisch ist der noch »prähistorische« Ligeti, da ich erst Mitte der fünfziger Jahre, nach der Vollendung des Quartetts, eine wirklich persönliche Sprache entwickelt habe. Doch finden sich hier bereits einige Elemente des späteren Ligeti: etwa Passagen, in denen eine Art unheimlicher Maschinerie zu ticken scheint, und – besonders im vorletzten Abschnitt – statische, schillernde Klanggewebe. Dennoch ist die musikalische Sprache dieses Quartetts traditionell, aufgrund der tonalen Schwerpunkte oder Zentren in einem durchweg nichttonalen chromatischen Material, besonders aber aufgrund des musikalischen Denkens in wohlgebildeten Themen und motivischer Entwicklung und der Formkonstruktion mit Hilfe von Variationen und Reprisen.

Die Gesamtform des Stückes ähnelt tatsächlich einem Variationenzyklus, obwohl es kein reales Hauptthema gibt, das variiert werden könnte. Stattdessen fungiert ein motivischer Kern – zwei aufsteigende große Sekunden im Abstand einer aufsteigenden kleinen Sekunde – als Basis der harmonischen und melodischen Entwicklung jeder Variation. Da die Globalform nicht wirklich, vielmehr nur annäherungsweise einer traditionellen Variationenfolge entspricht, gab ich dem Stück den Titel Metamorphosen, wobei das Adjektiv »nächtlich« den allgemeinen Charakter, die Stimmung des Ganzen andeutet. Die Metamorphosen des motivischen Kerns vollziehen sich in kontrastierenden Abschnitten, gewissermaßen kurzen Sätzen, die ohne Unterbrechung aufeinanderfolgen. (Es gibt allerdings eine kurze Pause in der Mitte des Quartetts, zwischen einer langsamen choralartigen Passage und einer stark kontrastierenden Walzervariation.) Die Reihung kontrastierender Abschnitte verwandelt sich im Verlauf des Stückes stufenweise in eine rondoartige Form mit einem unregelmäßigen Ritornell, das aus einer Transformation des originalen Motivkerns gebildet ist. Die Gesamtanlage ist also nicht nur eine Variationenfolge, sondern auch eine Art Entwicklungsform. In den beiden vorletzten Abschnitten artikulieren sich die oben erwähnten Charaktere – maschinelle Mechanik in wahnwitzigem Prestissimo und schillernd statisches Gewebe. Ihnen folgt eine Reprise der melodischen Form der ersten »Metamorphose«.

Einführungstext zu einer Aufführung im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik am 23. April 1978.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 160-164. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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