Konzipiert als eine Art „Welttheater“ über die „Gattung Mensch“ berühren die sieben Teile von Friedrich Cerhas eindrucksvollem Spiegel-Zyklus auf rein musikalische Art das Verhältnis des Einzelnen zur Menge – und damit ein Lebensthema des Komponisten. Anlässlich der 2011 beim Label Kairos erschienenen CD-Aufnahme der Spiegel mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling äußerten sich Komponistinnen und Komponisten verschiedener Generationen über ihre persönliche Begegnung mit Friedrich Cerhas Zyklus. Wir veröffentlichen die Zitate mit freundlicher Genehmigung von Kairos.
Pierre Boulez (21.12.2009, Paris)
Ich habe Friedrich Cerha immer als eine der wichtigsten Persönlichkeiten seiner Generation betrachtet. Ich habe seine Werke mit viel Interesse verfolgt, wenn ich sie im Laufe ihrer Entstehung lesen oder hören konnte. Es freut mich, dass sie nun auf einem Album erscheinen, das es erlaubt, diese bemerkenswerte Entwicklung zu überblicken. Und ich hoffe, dass man sich auf diese Weise seiner wahrhaften Bedeutung inne wird.
György Kurtàg (26.1.2010, Salzburg)
Friedrich Cerhas Spiegel haben mich tief beeindruckt. Die impulsive Dramatik, die ständigen - manchmal sehr verlangsamten - Gemütsbewegungen ergriffen mich aber derart, dass es mir beinahe entging, das ich schon 80 min Musik hörte. Ich vergaß völlig nachzuhören, wie das entstanden, wie das gemacht ist, ständig sah ich Bilder vor mir, mal große Rothko'sche Flächen, mal Munch-Gemälde, dann auch Turner oder nur wieder seit langem mir vertraute Landschaften, die ineinander übergingen, manchmal unheimlich beleuchtet, dann wieder sich versöhnend. Ich bin dankbar, dass ich dies erleben durfte; Sylvain Cambrelings Aufnahme ist großartig - und wünsche mir die Gelegenheit zu haben, Spiegel einmal auch im Konzert zu hören.
Helmut Lachenmann (02.02.2010, Stuttgart)
Ich habe endlich Cerha's Spiegel-Zyklus - zweimal - gehört! Ja, das sind eindrucksvolle Klanglandschaften, mit souveränem, gleichsam prophetischem Klangsinn komponiert.
Hans Zender (19.02.2010, Freiburg)
Wenn man heute, 50 Jahre zurückblickend, auf die Spiegel des jungen Cerha stößt, so weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: die Meisterschaft in der Handhabung der damals neuen Mittel, das Erscheinen einer deutlich erkennbaren Individualität innerhalb einer Textur, die geeignet wäre, das Individuelle zu nivellieren, oder die spätere Entschlossenheit des Komponisten, die gefundene – schmale – Basis einer kompositorischen Erkennungsmarke so bald wie möglich wieder zu verlassen. Zu verlassen zugunsten einer stilistischen Öffnung zur vollen Weite und Freiheit der vielen Facetten der Moderne, zu einer auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte ganz selbstverständlich einschließenden universalen Haltung eines großen Musikers, dessen Eigenart sich nicht auf die geltenden Formeln unseres Musikbetriebes bringen lässt. Gerade in der Vielfarbigkeit seiner stilistischen Palette verkörpert Cerha in seinem Gesamtwerk den Geist nicht einer doktrinären, sondern einer die Mittel als solche frei nutzenden und immer wieder neu bestimmenden lebendigen Moderne auf einzigartige Weise.
Brian Ferneyhough (02.03.2010, Stanford)
Camera lucida - camera obscura
Früher habe ich immer gedacht, ein maßstabsetzendes Stück Orchestermusik müsste eigentlich mehr Türen schließen als es zu öffnen imstande sei - in diesem Sinne denke ich an z.B. Gruppen oder auch Atmosphères. Was mich insbesondere bei Cerhas Spiegel-Zyklus interessiert hat, war daher in welchem Maße diese stilistisch doch recht disziplinierten Strukturen einen ganz anderen Eindruck vermitteln. Beim Zuhören hat mich sofort die Akribie der Detailfiguration in ihren Bann gezogen, in dem Maße, als die Clusterhaftigkeit der Gesamttextur diese notwendigerweise aus der Nähe vollzogene Wahrnehmung nicht vereitelt, sondern verschärft und vertieft. Schon in Bezug auf die Betitelung des Zyklus hat sich mir ein Vergleich mit dem sogenannten Claude-Glas, jener aus schwarzem Obsidian fabrizierten Spiegelrequisite des bildenden Künstlers des 19.Jhd., aufgedrängt. Dadurch nämlich, dass alles Farbige aus dem im Glas Widergespiegelten gedrängt wird, entsteht der Eindruck einer erhöhten Perspektive: die gewaltige Einschränkung in dem einen Bereich führt unweigerlich zu einer fast „surrealistischen“ Überschärfe sowohl der Gegenstände wie auch der klangräumlichen Verhältnisse, die sie projizieren. So sehe ich die in diesen Kompositionen geborgene Dialektik der Dimensionen.
Georg Friedrich Haas (24.02.2010, Basel)
Friedrich Cerhas virtuos komponiertes Orchesterwerk Spiegel ist ein Meilenstein der Musikgeschichte. Während eineinhalb Stunden entwickelt sich ein Drama aus wechselnden Klangdichten, Dynamik und kontrastierenden Strukturen. Die rationale Kalkulation des Werkes schafft emotionale Sogwirkungen. 1972 – als junger Mann, zu Beginn meines Musikstudiums – konnte ich die Uraufführung des gesamten Zyklus in Graz erleben. Diese Aufführung zählt zu jenen Eindrücken, die mein musikalisches Denken maßgeblich geprägt haben.
Beat Furrer (5.03.2010, Wien)
Ich habe während meiner Studienzeit kaum eine Gelegenheit versäumt, Cerhas Proben und Aufführungen von Baal, Netzwerk, Monumentum oder den Spiegeln, zu besuchen. Seine Konzerte mit der reihe haben mir Tore geöffnet: zur Musik der Wiener Schule, Varèse u. a. Cerha hat mit Haubenstock-Ramati im Musikleben Wiens eine entscheidende Rolle im Prozess jener Öffnung gespielt, die dann Ende der 80er Jahre zur Gründung von Wien Modern geführt hat. Seine Orchester- und Musiktheaterwerke zeugen von einer großartigen Meisterschaft – insbesondere die in den 60er Jahren geschriebenen Spiegel sind wegweisend und radikal was die Entwicklung der Form aus dem Klang selbst betrifft – sie haben bis heute nichts von ihrer Kraft und Frische eingebüßt.
Bernhard Lang (21.12.2009, Wien)
Ich hörte die Spiegel als Musikstudent in den Achtzigerjahren während des Grazer musikprotokolls zum ersten Mal und war davon tief beeindruckt. Ich erinnere mich noch an einen großen, sehr langsam crescendierenden Orchesterklang, der aber in seinem energetischen Zentrum gespiegelt wurde und in ein ebenso langsames Decrescendo mündete. Klang als Fläche, als instrumentales Simulakrum elektronischer Klänge, als Inszenierung von Struktur, das faszinierte an diesen Stücken. Die Programmatik des Spiegels in seiner Mehrdimensionalität verwies auf Webern, aber auch, wie bei Foucaults Diskussion der Hofdamen, auf einen Schritt in Richtung Postmoderne, auf eine Sichtweise des Subjekts als etwas mehrfach gespiegeltes, letztlich Ungreifbares.
Michael Jarrell (24.02.2010, Genf)
Cerhas Spiegel-Zyklus gehört für mich zu den beeindruckendsten Orchesterzyklen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinem Perspektivenreichtum entdecke ich eine große innere Verwandtschaft mit Griseys Les espaces acoustiques. Ein Zyklus von großer Kraft und Eruptivität der in seiner künstlerischen Bedeutung mit Apparitions und Atmosphères vergleichbar ist.
Mark Andre (30.01.2010, Berlin)
Der Spiegel-Zyklus von Friedrich Cerha ist ein ganz faszinierendes Werk. Schon von Beginn des Werks spürt man einen unvergleichlichen Atem. Die Pulsationen lassen die Struktur des Werks an sich in all ihrer Komplexität entfalten. Die Konsequenz der Komposition erzeugt eine riesige Spannung, deren Kraft sehr direkt auf die Wahrnehmung wirkt. Es geht darum, eine vielschichtige Botschaft zu reflektieren und zu bewundern.
Marcelo Toledo (05.03.2010, Wien)
Manches Mal manifestiert sich das Werk eines Künstlers innerhalb eines Prozesses, der außerhalb des intrinsischen Mechanismus der jeweiligen Kunstform, zum finalen Produkt führt. In diesen Fällen wird uns eine völlig neue Welt präsentiert. Im Spiegel-Zyklus erweckt Cerha den Eindruck, sein monumentales Orchesterwerk nicht auf Basis einer musikalischen Sprache, sondern aus einer, der Tradition der Malerei, Skulptur, Architektur, Geologie oder jedem anderen Gebiet, in dem die visuelle Vorstellung an ihre Grenzen geführt wird, verbundenen Sprache erschaffen zu haben. Die Spiegel sind zeitlich transformierte, fundamentale Klangformen, Texturen, Farben und Klangdichten. Musik, die auf ähnliche Weise in den Raum ragt, wie visuelle Künstler und Architekten Volumen, Texturen, Formen und Proportionen in einer Ebene skizzieren. Die Spiegel sind, auf ihre eigene Art und Weise, der endgültige Ausdruck eines von Varèse bezeichneten organisierten Klanges. Die Tatsache, dass sich Cerha zwei Jahre nach der Entstehung der sieben Spiegel bereits in neue musikalische Welten vorwagte, könnte einen zusätzlich glauben lassen, dass die Existenz dieser Stücke lediglich ein weiterer Aspekt seines Werkes seien. Wir können uns sicher sein, dass diese sieben Stücke jedoch gemeinsam mit Charles Ives’ unvollendeter Universe Symphony, Varèses Arcana, Stravinskys Le sacre du printemps und wenigen anderen Orchesterwerken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert aus einer Tradition der Utopie der modernen Musik herausragen.
Rebecca Saunders (26.01.2010, Berlin)
Was mich fasziniert, ist die extreme Plastizität, mit Masse und Gewicht des Orchesterklangs umzugehen. Cerha´s Spiegel ist für mich der öffnende Blick auf eine außergewöhnliche Klangwelt. Wir betreten unbekannte Landschaften von visionärer Kraft. Der gesamte Zyklus besitzt in seinem architektonischen Verlauf eine außergewöhnliche Klarheit. Die Aufmerksamkeit des Hörens wird durch eine seltsam, unvergleichliche Qualität gefesselt.
José M. Sánchez-Verdú (24.02.2010, Berlin)
Ein Stern aus der Ferne: Friedrich Cerha
Als Student, in Spanien, war für mich der Name Cerhas wie ein Stern aus der Ferne: viel Glanz, und gleichzeitig sehr weit… Von Cerha als Dirigent hatte ich verschiedenen Aufnahmen mit seinem Ensemble die reihe gehört; das Kammerkonzert von Ligeti bleibt bei mir immer in Verbindung mit seinem Namen. Und gleichzeitig war dieser Name untrennbar mit Alban Berg und Lulu verbunden. Cerha war eine Spiegelung von Wien und seiner Kultur. Und das in vielen Perspektiven. die reihe war für mich eine Referenz von etwas Großem, das dieser Komponist und Dirigent in Wien immer lebendig weiter geleitet hatte. Viel später kam er mir näher, und so habe ich auch einige Kompositionen von ihm kennengelernt und habe endlich mehr über seine Persönlichkeit erfahren, unter anderem als Kompositionslehrer einiger meiner Kollegen, darunter auch ein Spanier. Aber dann war Cerhas Name wie ein Nachbar in meiner eigenen Welt, ein Name der Kultur Österreichs und Europas. Glanz, Bewusstsein, Engagement, Interpretation und Kreativität waren unter diesem Namen Cerha zusammengefasst. Der Stern und sein Schein waren ganz nah. Das Universum der Musik braucht Sterne wie diesen.
Bernhard Gander (15.12.2009, Wien)
... ich hatte das Vergnügen, die Spiegel erst heuer - etwa 50 Jahre nach deren Entstehung - als Gesamtes zu hören. Erschreckend erfrischend wirkt es auf mich. Das Stück erzeugt eine derart klangliche und emotionale Sogwirkung, welche andere Stücke aus dieser Zeit, die mit ähnlichen Materialien arbeiten, nicht imstande sind hervorzubringen. Das ist für mich eine der herausragenden Fähigkeiten von Cerhas Musik, klangliches Material nicht einfach Klang sein zu lassen, sondern es zu formen und sich stets zu Eigen zu machen...
Klaus Lang (04.02.2010, Wien)
Ich habe die Spiegel als Student im Unterricht zum ersten Mal gehört und war total beeindruckt von der Idee von Klangblöcken, sehr skulptural konzipiert, wie Objekte. Ligeti etwa gibt Atmosphères oder Lontano eine poetische Konnotation. Bei Cerha hingegen genieße ich die pure Musik, das Eintauchen in ein reines Klangerlebnis, wobei es nicht darum geht, dass es irgendwo hinführt, in eine finale Botschaft. Cerha verzichtet konsequent auf die Illustration von Stimmungen.
Elena Mendoza (22.12.2009, Berlin)
Ich habe Cerhas Spiegel dank KAIROS kennengelernt und bin sofort begeistert gewesen. Ich frage mich, warum ich diesem Meilenstein der 60er Jahre - Avantgarde nicht schon viel früher begegnet bin, denn er hätte mir viel klarer einen Weg zu meiner eigenen musikalischen Sprache suggerieren können als die kompositionstechnisch vergleichbaren Orchesterwerke von Ligeti und Penderecki (Atmosphères, Threnos...). Bei Cerha ist das neu erfundene Material kein Thema per se, sondern Mittel zum Zweck, um eine dramaturgisch hoch spannende musikalische Erzählung zu gestalten. Cerha spielt phantasievoll mit dem Material, führt es zu ungeahnten Zielen, sucht expressive Wendungen, er ist genauso ein Meister der organischen Übergänge wie der scharfen Kontraste. Von den kompositorischen Verfahren im Zeitgeist der 60er Jahre nimmt er sich, was er braucht, um Klänge für sein musikalischen Diskurs zu gestalten: innen hoch differenziert, in der großformalen Perspektive dramaturgisch überwältigend. Ein Appell an die Sinfonieorchester: Spielt öfter mal diesen lebendigen, jede Minute spannenden Orchesterzyklus! Er bietet eine reale Chance für viele unbedarfte Hörer, Sprachen der Avantgarde zu verstehen und sich zu Eigen zu machen.
Johannes Maria Staud (31.12.2009, Wien)
Cerhas Spiegel-Zyklus, dieser gigantische Steinbruch der Ideen und Texturen, diese Goldmine entfesselter Klanglichkeit und unerhörter Wendungen, dieses Kaleidoskop schillernder Schattierungen und orgiastischer Klangballungen ist ein Werk, dessen Sogwirkung einen nicht mehr loslässt, wenn man einmal in seine Fänge geraten ist. Wie in einem Spinnennetz umkreist Cerha den Hörer mit seinen verführerischen und suggestiven Klängen und entführt ihn in einen architektonisch großzügig dimensionierten, eigengesetzlichen Kosmos, der zweifelsfrei einen Meilenstein in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Was mich heute nach wie vor verblüfft, ist, wie frisch und unverbraucht, visionär und mitreißend diese Musik rund fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung noch immer klingt. Die kompositorische Kompromisslosigkeit und Ökonomie, die Innovation in Notation und Orchestration gehen einher mit einem unglaublichen Reichtum an zarten und irisierenden, sich zusammenballenden und eruptiven, bizarren und unvergesslichen Momenten.
Hèctor Parra (14.01.2010, Barcelona)
Ein intensives Hören des Zyklus Spiegel von Friedrich Cerha führt uns an die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Verständnisses aller klingenden Gegenstände. Die Masse von Frequenzen enthält sehr oft modale Spektren, die sich in konstanter Evolution zum Chaos befinden. Oder, im Kontrast dazu, in Richtung von Harmonizität und kraftvoller Abstraktion führen. Eine überwältigende Kraft, die Raum und Zeit vereint, als ob sie die physikalische Realität von Einsteins Relativitästheorie wiederspigeln würde. Eine gekrümmte Welt weitet sich ab dem allerersten akustischen Reiz aus: immens, bewegend, majestätisch, voller Mysterium. Cerhas Spiegel erlauben durch ihre tiefe und weitgreifende Natur, wie auch durch ihre klingende Raum-Zeit, die Emergenz und Interaktion unserer damit verbundenen Emotionen im tiefsten architektonischen Sinn unserer Kreativität.