Man kann dem Geiger Ilya Gringolts
eine Wunderkindkarriere nachsagen und liegt damit noch nicht einmal so
falsch: Nachdem er als Grundschulkind in Sankt Petersburg die harte
Schule der Violinpädagogin Tatiana Liberova durchlaufen hatte, wurde,
wie es die Legende will, Itzhak Perlman durch ein von Hand zu Hand
weitergereichtes Video auf ihn aufmerksam. Einige Zeit später war Ilya
Gringolts Perlmans Schüler an der Juilliard School in New York, machte
durch Wettbewerbserfolge – besonders als jüngster Preisträger in der
Geschichte des Premio Paganini – von sich reden und spielte als von der
BBC geförderter New Generation Artist regelmäßig in berühmten Sälen wie der Londoner Wigmore Hall.
Doch für ein fluffiges Wunderkind-Image war Ilya Gringolts vielleicht
schon von zartem Alter an zu kantig. Schon immer hat er gern eigene
Akzente gesetzt, wie seine eindrucksvolle Diskografie zeigt. Ehe er als
20jähriger einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon unterzeichnete,
hatte er für das Label BIS Records schon Werke von Berio, Ysaÿe und
Paganini aufgenommen. Für sein Debütalbum bei der DG spielte er
Violinkonzerte von Tschaikowsky und Schostakowitsch ein – mit dem Israel
Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Itzhak Perlman. Seine
neueste CD, eine hochgelobte Gesamtaufnahme der 24 Capricen von
Paganini, erschien im November 2013 bei Orchid Classic.
Eine Spezialität des Geigers sind seine Aufführungen barocken
Repertoires mit Barockgeige und -bogen. Er wechselt sogar manchmal im
selben Konzert vom modernen aufs historische Instrument. In seiner
undogmatischen Art erklärt er: „Es ist einfach leichter, Barockmusik auf
historischen Instrumenten zu spielen, weil die Musik für sie
geschrieben wurde. Der dünnere Klang einer Barockvioline zum Beispiel
mischt sich viel besser mit dem Cembalo, und ein flacherer Steg
ermöglicht mehr polyphone Freiheit in Bachs Solowerken. Ein flexiblerer
und leichterer Barockbogen macht außerdem schnelle Verzierungen leichter
handhabbar.“ Mit Begeisterung und Neugier nähert sich Ilya Gringolts
aber auch Neuer Musik. In letzter Zeit ist er vor allen ein sehr
gefragter Interpret für die Konzerte von u.a. Schönberg, Adams,
Weinberg, Ligeti und Prokofiev. Das Einstudieren zeitgenössischer
Kompositionen ist ihm aber ebenso ein Herzensanliegen.
Langweilig wird es dem Musiker, inzwischen in Zürich ansässig und Vater
dreier Kinder, also weder in Bezug auf Repertoire noch auf Besetzung:
Neben regelmäßigen Auftritten als Solist mit namhaften Orchestern, neben
Solorezitalen und Kammermusikprojekten hat er sich 2008 mit der
Gründung des Gringolts String Quartets einen weiteren musikalischen
Wunsch erfüllt. Unter den Höhepunkten der aktuellen Spielzeit zählen
Konzerte mit den Bamberger Symphonikern, bei den Salzburger Festspielen
(mit Quartett), im Concertgebouw Amsterdam und im Musikverein Wien, um
nur einige zu nennen. Nur eine Leidenschaft, von der er 2011 in einem
Interview erzählt, kommt doch arg kurz: „Ich habe seit meinen
Hochschultagen kaum in großen Sinfonieorchestern gespielt, was ich immer
sehr mochte. Besonders, wenn man irgendwo hinten in den zweiten
Violinen sitzt, mitten im Orchester, wo man diesen Stereoeffekt genießen
kann – das ist fantastisch.“ Doch dass an Ilya Gringolts ein zweiter
Geiger verloren gegangen ist, kann sein Publikum gewiss verschmerzen.
Nina Rohlfs, 04/2012