In der Rolle als Dirigent leitete er das Abschlusskonzert mit dem Tonkünstler-Orchester, bei dem Waltraud Meier Mahlers Rückert-Lieder interpretierte und bei dem Brahms‘ 1. Sinfonie erklang – und für das der Komponist Brad Lubman sein neues Orchesterwerk Reflections geschaffen hatte. Auch die Rolle des Türöffners, die er im Gespräch mit Sarah Laila Standke erwähnt, hat er selbst als Lehrender für eine ganze Generation von Studenten übernommen. In Grafenegg stand er wieder jungen Musikerinnen und Musikern auf ihrem Weg ins Terrain der neuen Musik zur Seite, indem er den festivalbegleitenden Kompositionsworkshop INK STILL WET leitete.
Insgesamt waren es drei Kompositionen von Brad Lubman, die in Grafenegg zur Aufführung kamen: Seine Grafenegg Fanfare eröffnete das Festival, und neben den schon erwähnten Reflections erklang am letzten Festivaltag im Prélude-Konzert als Einstimmung auf den Orchesterabend sein Ensemblestück Theater of the Imagination. Eine eher seltene Gelegenheit also, den gebürtigen US-Amerikaner auch als Komponisten kennenzulernen, tritt er doch im Konzertsaal meist am Pult in Erscheinung: Regelmäßig ist er bei den großen Orchestern und wichtigen Solistenensembles in Europa und den USA zu Gast und konzertiert auch mit dem von ihm in New York gegründeten Signal Ensemble. Seine fünf Kompositionsschüler beim Workshop INK STILL WET, die fünf Tage lang mit dem Tonkünstler-Orchester zusammenzuarbeiten konnten, profitierten von diesen vielschichtigen Perspektiven – und von Brad Lubmans immenser Unterrichtserfahrung, besonders als Professor an der Eastman School of Music in Rochester.
Das Gespräch mit Sarah Laila Standke, bei dem er vor allem über seine kompositorische Arbeit und seinen Blick auf die Rolle Neuer Musik in den heutigen Konzertprogrammen Auskunft gab, veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des morgen – Niederösterreichische Kulturzeitschrift in einer gekürzten Fassung.
SLS: Wie kam es, dass Sie sich entschieden, hauptberuflich Dirigent zu werden und das Komponieren eher als Nebenbeschäftigung auszuleben?
BL: Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr genau erinnern, warum das Dirigieren stets die Hauptrolle gespielt hat. Ich hatte immer diesen Antrieb, der durch die Musik kam. Nach dem Studium arbeitete ich zunächst als Schlagzeuger. Dann kam das Dirigieren Neuer Musik bei verschiedenen Ensembles in New York hinzu und plötzlich war ich mitten drin. Gleichzeitig habe ich immer auch komponiert, nebenher sozusagen. Ich sehe mich selbst hauptsächlich als komponierenden Dirigenten, aber das Komponieren ist für mich ein ernsthafter Teil meines Lebens und begleitet mich ständig.
Das heißt, Sie tragen stets musikalische Ideen im Kopf mit sich herum?
Ja. Es wäre interessant zu wissen, woher diese Ideen kommen. Aus dem musikalischen Denken oder aus einem bestimmten Gemütszustand? Häufig entstehen Ideen während Probenphasen, wenn ich die Musik anderer Komponisten höre. Es gab auch eine Phase in der ich daran dachte, mit dem Komponieren aufzuhören, das war Anfang der 1990er Jahre. Mir fiel nichts ein und ich hatte das Gefühl, ich würde nur andere Komponisten, die ich mochte, in meiner Musik imitieren. Zwei Jahre lang komponierte ich daher gar nichts und hörte stattdessen viel Musik von Komponisten, die ich noch nicht kannte. Ich wandte mich Dingen außerhalb der Musik zu, las Werke von John Cage und Samuel Beckett, schaute Kunstfilme an. Und nach dieser Krise hatte ich auf einmal einen unaufhaltsamen Drang, wieder zu komponieren. Anscheinend habe ich ein angeborenes Bedürfnis, etwas zu kreieren.
Was ist das Faszinierende für Sie an Musik?
Als Komponist wurde ich — neben vielen anderen — besonders von Carter, Boulez, Feldman und Reich beeinflusst. In meinen eigenen Werken der letzten Jahre habe ich immer nach einem nicht narrativen Ansatz, einer surrealistischen Form und nach inkongruenten Drehungen und Wendungen gesucht. Allgemein bin sehr interessiert an Struktur und Logik, die man zum Beispiel in den Werken von Bach und Webern, von Boulez und Carter findet, aber auch an Musik, die eine mysteriöse und emotionale Seite hat wie bei Mahler, Schubert und Debussy. Darüber hinaus faszinieren mich Klangfarben, wie man sie in den Werken von sogenannten spektralen Komponisten wie Grisey und Haas hört, obwohl letzterer sich selbst nicht als solchen bezeichnen würde.
Welche Rolle spielt die Neue Musik heute im Allgemeinen in den Konzertsälen und in den Köpfen der Menschen?
Ich denke, dass Neue Musik eine andere Rolle spielen sollte als sie es tut. Für viele ist sie immer noch eine Art Merkwürdigkeit. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden tag ein, tag aus immer nur Thunfischsalat essen. Das wäre doch schrecklich. Dann würden Sie die italienische oder die indische Küche nie kennenlernen. So ähnlich verhält es sich mit der Musik. Das Standardrepertoire ist toll und erhebend, aber wenn Sie nur das kennen würden, wären Sie doch sehr eingeschränkt. Die Rolle der Neuen Musik sollte sein, die Weltoffenheit der Menschen zu bewahren. Denn wenn man offen ist für neue Musik, neue Kunstformen, wird man auch offen gegenüber den Menschen sein, egal aus welchem kulturellen Hintergrund sie stammen. Ich denke, das ist sehr wichtig und das kann uns die Neue Musik lehren. Die meisten Leute sagen bei Neuer Musik zunächst, dass sie sie nicht hören wollen, dass sie fürchten, sie nicht zu verstehen. Aber vielleicht gibt es gar nichts zu verstehen, man muss einfach nur zuhören. Vielleicht werden sie sie lieben, vielleicht hassen. Vielleicht hören sie die gleiche Musik in zehn Jahren noch einmal und mögen sie dann, wer weiß? Es bedeutet allerdings viel Arbeit. In den 1970er Jahren ging es bereits in die richtige Richtung, aber dann hat die Entwicklung einen Rückschritt gemacht. Heute geht es wieder vor allem um Ticketverkäufe und nicht um L’Art pour l’art. Doch es gibt viele junge, neu gegründete Ensembles, besonders in New York, die alle möglichen Arten von Neuer Musik mit großer Begeisterung aufführen. Ich finde, wir müssen die immer gleichen Konzertprogramme, in denen die Neue Musik vergeblich zu finden ist, aufmischen. Auch die Werke, die in Auftrag gegeben werden, bewegen sich häufig in einer Art Sicherheitszone. Es sind fantastische Werke und Komponisten dabei, aber meiner Meinung nach ist es die Aufgabe der Konzertveranstalter, der Interpreten und der Dirigenten, nicht nur diese Musik, die sozusagen etwas hörerfreundlicher ist, anzusetzen, sondern eben auch die ganzen anderen Strömungen.
Wie könnte man das Ihrer Meinung nach ändern? Wie könnte die Neue Musik wieder Einzug in die regulären Konzertprogramme halten? Müssen sich, provokant gefragt, die Komponisten ändern oder muss sich das Publikum ändern?
Das Publikum muss sich ändern, nur wie kann das gehen? Viele Veranstalter versuchen mittlerweile, ein jüngeres Publikum, zum Beispiel Schulkinder, zu erreichen, und sie mit Neuer Musik vertraut zu machen. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung und dies könnte das Leben eines Acht- oder einer Fünfzehnjährigen komplett auf den Kopf stellen. Der Komponist Steve Reich hat einmal erzählt, wie ihm mit 14 Jahren ein Freund Strawinskys Le Sacre du Printemps, Bachs 5. Brandenburgisches Konzert und etwas von John Coltrane vorgespielt hat. Und Steve Reich sagte, dies sei für ihn gewesen, als hätte ihn jemand durch sein eigenes Haus zu einer Tür geführt, die er zuvor noch nie wahrgenommen hatte und diese für ihn geöffnet. Wie ein Zimmer, das schon immer da gewesen ist, aber das man nie bemerkt hat. Es hat nur jemanden gebraucht, der einen in die richtige Richtung führte.
Warum, glauben Sie, haben manche Leute eine gewisse Scheu vor Neuer Musik?
Ich denke, der Mensch ist grundlegend ängstlich. Es gibt diese Grundzüge des Menschlichen. Die Menschen möchten ein Teil von etwas sein, sie möchten dazugehören. Und wenn dies fehlt, dann sagen sie: Ich möchte nicht in ein Konzert mit klassischer Musik gehen, ich verstehe einfach nicht, was da passiert. Warum haben die Musiker im Orchester diese uralten Anzüge an und was muss ich da überhaupt tun? Dann geht diese Person vielleicht lieber in einen Nachtclub. Vielleicht sollte der klassische Konzertbesucher einmal mit dem im Nachtclub tauschen, um die dortige Energie zu spüren und keine Angst zu haben, etwas Neues zu wagen. Wer weiß, ob wir einen Weg dorthin finden. Ich denke jedoch, dass wir diese Grenzen zunächst überwinden müssen.