Wir treffen Carlotta Dalia vor ihrem Duokonzert mit ihrem Partner, dem Geiger Giuseppe Gibboni, in Potsdam – und frisch zurückgekehrt von einer Konzertreise nach Brasilien. „Dort ist die Gitarre, wie in ganz Südamerika, sehr populär; man spielt dort vor allem sieben- oder achtsaitige Instrumente“, erklärt sie. Aber auch die klassische Konzertgitarre sei viel selbstverständlicher als in Europa im Konzertsaal vertreten. „In Sao Paulo gibt es in jeder Spielzeit eine Gitarrenreihe.“
„Die Gitarre ist ja ein sehr junges Instrument“, fährt sie fort und bezieht sich damit auf die heute gebräuchlichen Konzertgitarren, die auf die von Antonio de Torres im 19. Jahrhundert gebauten Instrumente zurückgehen. „Auch die Kompositionen für das Instrument sind entsprechend jung. In dieser kurzen Zeit hat die klassische Gitarre eine große Entwicklung durchgemacht – und ich habe das Gefühl, das haben wir noch nicht genug gezeigt.“ Folglich bietet das Instrument für sie die Chance, dem Publikum sogar mit Kernrepertoire neue Hörerfahrungen zu bieten.
Festmachen kann man dieses Kernrepertoire vor allem an einer Person: „Andres Segovia hat die Gitarre im Konzertsaal verankert. Castelnuovo-Tedesco, Villa-Lobos, Mompou und viele andere Komponisten schrieben für ihn Gitarrenkonzerte und Solowerke. Segovia war auch der erste klassische Gitarrist, der Transkriptionen aus der Barockzeit anfertigte. Er hat die Basis gelegt“, sagt Carlotta Dalia, die ihr Rezital in Sao Paulo rund um mit Segovia verbundene Solowerke gestaltet hat – auf einem Instrument, das der meisterhafte Gitarrist selbst mehrere Jahre spielte. Die von Hermann Hauser I gebaute Gitarre aus dem Jahr 1939, auf der sie regelmäßig konzertiert, wurde ihr von der Stiftung Adopt a Musician zur Verfügung gestellt.
„Das ist eine große Verantwortung und auch eine große Emotion“, so die Gitarristin, die die Beschäftigung mit historischen Instrumenten für essenziell hält. „Die für mich erste Gitarre mit einem wichtigen Vorbesitzer war die von Ida Presti, mit der ich ihre Kompositionen aufgenommen habe.“ Die 1967 mit nur 42 Jahren verstorbene Französin, deren 100. Geburtstag 2024 begangen wird, gilt vielen als beste Gitarristin des 20. Jahrhunderts. „Das war wirklich emotional, denn diese Gitarre klingt wie die Aufnahmen von Ida Presti. Es ist vielleicht offensichtlich, dass das so sein muss, aber wenn man es unter den eigenen Fingern hört, ist es schon verblüffend. Ich fand auf dieser Gitarre viele Lösungen, Fingersätze, die ich auf einer anderen Gitarre ganz anders gemacht hätte. Ich hatte das Gefühl, mit diesem speziellen Ohr, diesem Geist, dieser Phrasierung zu spielen.“
„Ich habe auch schon die Gitarre von Paganini gespielt, eine Gennaro Fabricatore. Ein wunderbares Instrument, aber dünn wie eine Rockgitarre, die Form ist sehr klein, die Bundstäbchen sind am unteren Ende verkürzt – alles ist anders. Aber man kann all diese Instrumente spielen, und sie sagen viel aus, um die poetische Bedeutung des Komponisten wirklich zu verstehen.“ Diesen Schritt zu überspringen sieht sie kritisch. „Wir müssen auf modernen Instrumenten spielen“, räumt sie ein, auch mit Blick auf ihre sehr geschätzte moderne Konzertgitarre von Matthias Dammann, ebenfalls eine Leihgabe aus einer Sammlung. „Nicht, dass man Paganini nicht auf der Dammann spielen kann. Aber man sollte sich trotzdem an diesen Klang und diese Herangehensweise erinnern und eine gute Balance finden.“
Carlotta Dalias grobe Faustregel für die Instrumentenwahl lautet momentan entsprechend: Die schwierig zu spielende Hermann Hauser Gitarre mit ihrer einzigartigen Klangqualität für Solokonzerte und Aufnahmen, die kraftvollere Dammann Gitarre, meistens sogar unverstärkt, für Kammermusik und Orchesterkonzerte – wie jüngst mit dem Swedish Chamber Orchestra, mit dem sie Caselnuovo-Tedescos Gitarrenkonzert Nr. 1 interpretierte. „Castelnuovo-Tedesco, Paganini, Guiliani, Carulli… Es gibt im klassischen Repertoire so viele wunderbare Konzerte für Gitarre und Orchester“, schwärmt sie. „Klar, wir Gitarristen kennen diese Werke in- und auswendig. Aber für viele andere Menschen sind sie komplett neu!“
„Im Grunde kann man auf der Gitarre fast jedes Repertoire spielen, zum Beispiel auch Ravel und Debussy. Ich habe mit Giuseppe gerade Tartinis Trillo di Diavolo transkribiert. Das Repertoire dieser Zeit, der basso continuo Part, passt wunderbar für Gitarre. Vielleicht ist dieser Klang sogar näher am Cembalo als ein modernes Klavier.“ Auch die ursprünglich für Laute komponiert Musik, darunter die Lautensuiten von Bach, spielt dabei für sie eine wichtige Rolle, ebenso wie – quasi am anderen Ende der Repertoire-Skala – die Neue Musik.
Unabhängig vom Repertoire ist es für Carlotta Dalia ein wichtiges Ziel, sich nicht an ein Spezialpublikum zu wenden. „Ich wünsche mir, dass die Gitarre immer mehr Teil der normalen Saisonprogramme wird.“ Dafür sieht sie Handlungsbedarf sowohl im Konzertbetrieb als auch bei den Musikerinnen und Musikern selbst. „Einige unserer besten Gitarristen haben fast nur auf Gitarrenfestivals gespielt“, erklärt sie.
Schon bei den für sie prägenden Lehrern hat Carlotta Dalia verschiedene Rollenverständnisse beobachten können. „Aniello Desiderio ist für mich der Lehrer, der mir vor allem Intuition und Gefühl vermittelt hat. Er ist ein Genie. In seinen Konzerten – ich mache keine Witze – weinen die meisten Leute am Ende, ob Gitarristen oder nicht. Er nimmt dich mit, wohin er will. Er könnte der Maurizio Pollini der Gitarre sein – als er jung war, spielte er mit den Berliner Philharmonikern.“ Ganz andere Facetten vermittelte ihr Carlo Marchione: „Er ist derjenige, dem ich mein Wissen verdanke, auch über Transkriptionen und die Herangehensweise an das Repertoire, er steht für eine neue Denkweise, den Geist, für Ideen – ein universaler Musiker.“ Noch davor hatte sie Unterricht bei Alessandro Benedottelli und damit auch Zugang zu dessen Kollektion historischer Gitarren, die sie spielen durfte – schon damals wurde der Grundstein ihres Interesses an älteren Instrumenten gelegt.
Ein Unterricht ganz im Gegensatz zu den ersten Worten also, die Carlotta Dalia als Kind im Zusammenhang mit dem Instrument ihrer Träume hörte, denn die lauteten: „Nicht anfassen!“ Die Gitarre im Haus ihrer Eltern, die alt und marode in einem Instrumentenkoffer schlummerte, die E-Gitarre der Tochter ihrer Babysitterin – Sehnsuchtsobjekte, die nicht berührt werden durften. Als sie bei einer Kindergruppen-Aufführung mit Handglocken sage und schreibe einen Ton spielen durfte – die Lehrerin begleitete Bruder Jakob ausgerechnet auf der Gitarre – war die Frustration nicht mehr auszuhalten, wie sie lachend erzählt. Ihre Eltern hatten ein Einsehen und gewährten Unterricht. Seitdem hat Carlotta Dalia zum Glück die Gitarre nicht mehr losgelassen.
Nina Rohlfs, 11/2023