Im Gespräch erklären Martin Funda, Johanna Staemmler und Peter-Philipp Staemmler, was sie an Mozart tatsächlich neu entdecken konnten und was zuerst da war – das Henle oder das Ei.
Mozart gehört nicht unbedingt zu den Komponisten, für die man eine Lanze brechen muss. Sogar das Pflanzenwachstum soll seine Musik angeblich anregen, und sie gilt als heilsam. Hat er damit momentan eigentlich besonders Konjunktur?
JS: Natürlich, Mozart ist ein Bestseller, wenn man so will. Das bezieht sich aber vor allen Dingen auf die „Schlager“: die Zauberflöte, die kleine Nachtmusik, Don Giovanni – das sind Ohrwürmer, die jeder kennt, auch das Klarinettenkonzert. Bei den Streichquartetten ist es anders. Die sind im westeuropäischen Kulturgedächtnis nicht so omnipräsent, und für die lohnt es sich tatsächlich, eine Lanze zu brechen. Das war wahrscheinlich sogar zu Mozarts Lebzeiten schon so, weil er in diesen Kammermusikwerken eine ganz besondere Seite von sich gezeigt hat. Da ging es nicht um die großen Aufträge oder um viel Prestige, sondern um seinen künstlerischen Ausdruck, seine Beziehung zu seinem Lehrer Joseph Haydn und auch um das eigene Musizieren, denn er hat sie ja selber gespielt.
Euer nun fast fertiges „Mozart-Paket“ ist beeindruckend – die Gesamteinspielung, eure eigene Konzertreihe Mozart Exploded und eure Beratungstätigkeit für die neue Mozart-Urtextausgabe des G. Henle Verlags gehören dazu. War diese Kombination eigentlich von Anfang an so geplant?
PPS: Nein. Als erstes kam unsere Idee auf, in Berlin eine eigene Konzertreihe zu gründen, in die wir alle Mozartquartette einbinden wollten. Im gleichen Zuge haben wir überlegt, eine Gesamtaufnahme daraus zu machen, das lag nahe. Und dann ist über Tabea Zimmermann der G. Henle Verlag auf uns aufmerksam geworden und hat uns gefragt, ob wir die Beratung für die neue Edition übernehmen. Insgesamt geht das ungefähr seit 2015.
JS: Die Entscheidungen folgten relativ schnell aufeinander, und dadurch ist es mittlerweile ein großes Gesamtpaket.
MF: Es war ein unfassbares Timing, dass sich der G. Henle Verlag auch circa 2014/15 in Richtung einer neuen Urtextausgabe für die neuen Streichquartette bewegt hat.
Wie plant man eigentlich so etwas – wie seid ihr zum Beispiel die Reihenfolge der Gesamteinspielung angegangen?
PPS: Da muss man schon ein bisschen mit dem Konzertkalender gehen und schauen, wie andere Veranstalter Mozart einflechten in ihre Einladungen an uns. Wir konnten zum Beispiel nicht alles chronologisch machen. Aber bei Mozart sind die frühen und späten Quartette sowieso sehr unterschiedlich. So ist eine bunte Mischung entstanden aus frühen Werken und Spätwerken. Das ist eigentlich besonders reizvoll, auch auf den CDs. Und in den Konzertprogrammen bei unserer Mozart Exploded Reihe haben wir das auch so durchgeführt.
Konntet ihr für eure Probenarbeit auch den direkten Draht zur Forschung über die Kooperation mit dem G. Henle Verlag nutzen, und habt ihr dadurch bestimmte Fragen klären können?
MF: Wir hatten – und haben immer noch – regelmäßig Kontakt mit Wolf-Dieter Seiffert, der schon seit vielen Jahren an dem neuen Mozart-Urtext sitzt. Dadurch hatten wir die Chance, durch seine musikwissenschaftliche Brille zu schauen, den Autografen differenzierter anzuschauen und uns beispielsweise mit der Punkt-Keil-Thematik, zu beschäftigen, die uns natürlich immer wieder verfolgt: wie kann man das interpretatorisch ausarbeiten und differenziert spielen. Die Handschrift ist superklar, wir könnten eigentlich auch vom Autografen her spielen. Das ist wirklich unfassbar im Vergleich zu Beethoven, wo zwischendurch ein großes Chaos herrscht. Bei den Mozart Quartetten hat man das Gefühl, das fließt und strömt heraus, es gibt relativ wenige Fehler, wenige Korrekturen. Man sieht auch schön, ob er das vielleicht auf Reisen zwischendurch einfach mal rausgeschwungen hat. Und wie unheimlich schnell er Dinge komponiert hat. Und dann gab es essentielle Entscheidungen oder Neuerungen dynamischer Art, die uns auch sehr überrascht haben. Falsche Töne wurden ebenfalls entdeckt. In diesen Fällen kam von Seiten des G. Henle Verlags immer die Frage: Leute, kann das sein? Kann man das so spielen? Da kamen wir ins Spiel, um auszuprobieren und zu sagen: Ja, macht Sinn – nein, macht keinen Sinn, es passt nicht in den Kontext.
Musstet ihr euch damit von manchen liebgewonnenen Dingen verabschieden? Denn die alten Ausgaben transportieren ja vielleicht auch eine gewisse Interpretations-Tradition, an die man anknüpft.
PPS: Ich glaube, damit hatten wir gar kein Problem (lacht). Weil wir gerne auch mal etwas anders spielen als es Tradition war. Und das hat uns durchaus die Türen geöffnet: Wir haben Dinge aufgenommen, die wahrscheinlich so bisher noch nie aufgenommen wurden. Deshalb hat für uns die Gesamteinspielung Sinn ergeben – weil wir es eben nicht noch einmal so gespielt haben, wie es vielleicht schon zehn Mal erschienen ist.
JS: : Als Beispiel könnte man das Thema Vorhalte und Verzierungen nennen. Im Dialog mit Reinhard Goebel, der ja ein hervorragender Experte der historischen Aufführungspraxis ist, haben wir uns auf die Suche nach möglichen Interpretationsweisen begeben (Hörbeispiel). Das führt dazu, dass viele aus dem Publikum sagen, ups, so habe ich das ja noch nie gehört. Oft aber nicht negativ belastet, sondern eher mit einer überraschten Haltung. Und eine andere Sache ist die Lebendigkeit in den Details. Je mehr wir eingetaucht sind in die Handschrift von Mozart, desto mehr haben wir festgestellt, dass es wirklich sehr, sehr viele feine Unterschiede in den Details gibt, die aber in den Ausgaben oft glattgebügelt wurden – weil man darauf aus war, dass Parallelstellen immer gleich sind, dass es eine bestimmte Regelmäßigkeit gibt. Aber wenn man danach sucht, warum es diese Unterschiede gibt, diese kleinen Feinheiten und Abweichungen, dann findet man oft dafür musikalische Begründungen, und die machen das Ganze sehr lebendig und abwechslungsreich. Davon haben wir profitiert, das war keine Überwindung, sondern eher eine Erleichterung: Das ist tatsächlich so vielschichtig wie wir das empfinden.
MF: In den letzten Monaten haben wir uns außerdem damit beschäftigt, alle Fingersätze und Bogenstriche zu erstellen, was eine Riesenarbeit ist. Klar, das hat man als Quartett ständig präsent und das ist ein großer Teil der Probenarbeit, aber das auf die Essenz herunterzudampfen ist natürlich ein wichtiger Punkt. Das Ergebnis kann man auch in der Henle App verfolgen, die wir zusätzlich in den nächsten Jahren immer wieder updaten werden.
JS: Es gibt ja tatsächlich viele Hobby-Quartette in Deutschland, und wir sind immer begeistert, wie oft Leute aus dem Publikum hinterher sagen: Wir spielen auch in unserer Freizeit Quartett. Sie haben oft unfassbar viel Ahnung und sind sehr interessiert und hungrig nach Information. Gerade Strichfragen und Fingersatzfragen kommen dann oft. Für eine ganz große Interessengruppe ist die neue Henle App ein tolles Tool, weil man einfach per Klick switchen kann zwischen unserem Vorschlag und dem Blanko-Notenbild.
Und die Leute können es sich dann gleich noch auf der CD anhören. Womit wir bei der jetzt schon hochgelobten Gesamteinspielung sind; deren vorletzter Teil ist gerade erschienen. Wann ist dieses Projekt abgeschlossen?
MF: Es kommt im Frühjahr noch eine Doppel-CD heraus. Und später werden alle CDs noch einmal zusammengefasst in einer Mozart Box auf den Markt kommen. Es ist alles aufgenommen, nur die Tonmeister müssen jetzt ran.
In eurer Konzertreihe hingegen seid Ihr nicht bei Mozart geblieben, sondern ihr habt versucht, Kombinationen mit zeitgenössischen Werken zu finden. Wie seid ihr da vorgegangen?
MF: Uns war es wichtig, zwei Stränge, die uns als Quartett beschäftigen, zu verfolgen: Einerseits die Mozart Quartette und auf der anderen Seite auch immer am Nabel der Zeit zu sein, zeitgenössische Werke zu interpretieren und nach Möglichkeit auch Auftragswerke zu vergeben. Und das dann auch noch mit weiteren Künsten zu verbinden.
JS: Die Grundidee war, dass man diesen Meisterwerken von Mozart wirkliche Meisterwerke gegenüberstellt, die keine Eintagsfliegen sind. Mozart ist DAS Genie, also musste es wirklich etwas Gehaltvolles sein. Angefangen haben wir mit Jörg Widmann (Video), der ja tatsächlich von der Presse hin und wieder als der Mozart unserer Zeit beschrieben wird. Dann hatten wir Gubaidulina, auch eine Person, die sich an die Spitze der zeitgenössischen Komponisten geschrieben hat, und Marko Nikodijevic, ein Star am Komponistenhimmel. Und so haben wir versucht, immer etwas zu finden, was einerseits die Gegenwart widerspiegelt und trotzdem die Brücke schlagen kann zu Mozarts Zeiten, weil wir schauen wollten: Hört man Mozart vielleicht anders nach dem modernen Stück? Das war meistens ein früher Mozart, dann das moderne Stück und dann ein reiferer Mozart.
MF: Es war spannend, Komponisten zu finden wie zum Beispiel Marko Nikodijevic, der in Verbindung mit der Rising Stars Tournee sein erstes Streichquartett für uns geschrieben hat. Aber für uns war auch klar, dass es in dieser Mozart Reihe kommen soll. Die Verbindung mit Mozart, neben ihm zu bestehen, war für Marko Nikodijevic schon auch eine Hürde. Johanna hat tolle Interviews gemacht mit den Komponisten und dabei auch abgeklopft, inwiefern das Oeuvre von Mozart eine Rolle für sie spielt. Das war immer sehr interessant, wie die Komponisten darüber gedacht haben.
JS: Ja, weil man sie fragen konnte. Mozart kann man nicht mehr fragen, aber es ist interessant, was kommt, wenn man die jungen Komponisten heute fragt, was haltet ihr von Mozart, was ist euer Lieblingsstück oder was ist für euch das Besondere an ihm.
Ihr habt nicht nur neu kombiniert und dadurch etwas Ungewohntes geschaffen, sondern durch ganz verschiedene Formate mit Gesprächen, Briefen, anderen Künsten experimentiert. Gab es da Kombinationen, die für euch besonders gut funktioniert haben?
JS: Für mich hat jede Kombination auf ihre Art funktioniert. Wir hatten eine Episode, die den Schwerpunkt Tanz hatte. Dafür haben wir Briefe herausgesucht, in denen Mozart über seine eigenen Tanzeskapaden schreibt: wie er im Haus des Tanzmeisters lebt und wie viele Stunden er gestern Abend Menuette getanzt hat oder wie langsam oder schnell die Italiener die Menuette tanzen. Diese Briefe haben wir von der Schauspielerin Nina Horvath lesen lassen. Dazu kam die Tänzerin Manaho Shimokawa, die zu den Menuetten getanzt hat, aber modern dance. Dann kam das Gubaidulina Streichquartett, was auch für sich spannend ist, weil das Streichquartett während des Spielens immer weiter auseinanderrutscht. Da findet also auch eine räumliche Erfahrung statt. Die Lücke, die dadurch entstanden ist, wurde von der Tänzerin gefüllt (Video der Aufführung). Das war vielleicht eine der experimentellsten Episoden. Wir hatten auch eine, wo hinterher der Komponist Marko Nikodijevic noch elektronische Musik aufgelegt hat und die Leute tanzen konnten.
PPS: Was auch gut funktioniert hat, war die Episode mit den Jagdquartetten, die wir auch in New York aufgeführt haben: Widmann Jagdquartett mit Mozart Jagdquartett. Sozusagen zwei verschiedene Richtungen der Jagd gegenüberzustellen.
JS: Dann hatten wir noch eine Episode mit Lichtinstallationen, wo verschiedene Schnipsel aus den Briefen hinten an die Bühne gebeamt liefen. Das Thema war Zerbrechlichkeit. Das Stück eines spanischen Komponisten, das wir aufgeführt haben, hieß auch Fragil, es war ganz sphärisch. Der ganze Abend war ein bisschen mystisch. Wir hatten so viele unterschiedliche Erlebnisse, dass ich mich gar nicht entscheiden könnte, welches besonders gut funktioniert, denn es lebt von der Abwechslung.
In dem, was ihr erzählt, klingt sehr stark an, wie wichtig euch eine besondere Beziehung zum Publikum ist, das ihr oft sehr direkt ansprecht. Fehlt euch das manchmal in den „normalen“ Konzerten?
JS: Es gibt natürlich auch die Konzerte, wo man das Publikum nicht so persönlich einbezieht, und auch das kann ein schöner Austausch und eine wunderbare Kommunikation sein. Aber wir genießen es doch besonders, wenn es so ist wie bei unserer eigenen Reihe. Das ist wirklich von A bis Z unsere Werkstatt: Wir gestalten die Programmhefte, wir holen sie von der Druckerei ab, wir entwerfen sie mit Hilfe teils selber. Und wir gestalten das Programm, wir richten mit dem Lichttechniker das Licht ein. Ich glaube, das projiziert sich, dass einem wirklich jeder Millimeter des Abends so vertraut ist. Dazu kommt: Berlin ist unsere Heimatstadt. Viele Leute kennen uns schon lange, und einige kommen zu jeder Episode von Mozart Exploded, weil sie das Projekt wachsen sehen wollen. Wenn man mit jedem Konzert auf noch mehr gemeinsame Erfahrungen zurückschauen kann, ist das etwas wahnsinnig Schönes. Und außerdem auch hilfreich für uns: zu spüren, wie nehmen die Leute das auf. Wir fragen oft, ob man den Mozart vielleicht anders gehört hat, wenn dazwischen zum Beispiel Gubaidulina kam, und dieses Feedback ist für uns essentiell.
Warum ist euer Mozart eigentlich explodiert?
JS: Wir wollten darauf anspielen, dass eine gewisse Hörerwartung und auch ein gewisses Bild, das man von ihm hat, explodiert. Wir haben gesagt, es ist eigentlich die Mozartkugel, die explodiert: dieses Süßliche, dieses Gefällige. Das wollen wir explodieren und sich neu zusammensetzen lassen in der Reflektion mit der zeitgenössischen Musik.
Interview: Nina Rohlfs, November 2021