Nach Donaueschingen, wo Oh cristalina… im Rahmen des Eröffnungskonzertes der Musiktage am 17. Oktober 2014 vom SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und dem SWR Vokalensemble Stuttgart aus der Taufe gehoben wird, ist es von hier aus ein Katzensprung. Mit freudiger Spannung blickt Hans Zender dem Ereignis entgegen: „Seitdem ich nicht mehr dirigiere, genieße ich es, mich einfach hinzusetzen und zuzuhören“, sagt er, zumal er die Uraufführung in der Hand von Emilio Pomárico weiß, „einer meiner Favoriten, wirklich.“
„Ich habe einen Hang zu Chor- und Gesangsmusik, und es ist für mich immer der Höhepunkt des Komponierens, wenn ich Stimmen und Orchester zusammen verwenden kann“, erklärt Hans Zender. Ein Blick in sein Werkverzeichnis bestätigt dies – allein schon die sein ganzes Schaffen durchziehende Werkreihe der Cantos ist umfangreich und umfasst Stücke für Stimmen und Instrumente in unterschiedlichen Besetzungen. Oh cristalina… gehört allerdings zu einem eigenen Zyklus; der Komponist wollte ihn nicht den Cantos zurechnen. „Das sind vier unabhängige kurze Stücke, die zehn bis 25 Minuten dauern und als Einzelstücke oder nun auch zusammen aufführbar sind.“ Das erste dieser Stücke nach dem Cántico espiritual des spanischen Mystikers San Juan de la Cruz, Adónde? Wohin? entstand vor fünf Jahren, uraufgeführt in Berlin vom Klangforum Wien. Es folgten Oh bosques! / O Wälder (Uraufführung 2010 vom Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) und Por qué? / Warum? (März 2014, SWR Vokalensemble). „Das neue Stück enthält Texte vom Anfang des Cántico espiritual, die ich nicht verwendet hatte, denn ich hatte für die ersten Stücke einfach sporadisch hineingegriffen, wenn eine Strophe mir sehr gefallen hat. Die ersten 13 oder 14 Strophen sind nun, wenn auch in der falschen Reihenfolge, komplett – und das Gesamtwerk stellt sich erst nachträglich als ein Zyklus heraus, denn das war nicht geplant“, erklärt der Komponist.
Es verwundert allerdings nicht allzu sehr, dass ihn der Heilige Johannes vom Kreuz nicht so schnell losließ. „Für mich ist das einer der ganz großen Lyriker der Weltliteratur, und ich habe ihn seit Kindsbeinen sehr verehrt, mich aber lange nicht getraut, ihn anzufassen.“ Sein wohl bekanntester Text, der 1578 entstandene Cántico espiritual, ist eine sehr freie Paraphrase des Hohelieds der Liebe. Für Hans Zender ein thematisch vertrautes Terrain, hat er doch in seinem Canto VIII das komplette Hohelied auf Hebräisch und Deutsch verwendet. „Und das ist nun das Perfekteste an Balance in der Lyrik, was ich kenne“, sagt er zu San Juan de la Cruz’ Werk. „Man lässt sich als Komponist, wenn auch natürlich nicht eins zu eins, vom Rhythmus und dem Klang des Gedichtes führen. Bei San Juan de la Cruz ist es nicht nur der Duktus der spanischen Sprache, sondern auch eine sehr interessante metrische Konstruktion, die zwischen sieben und elf Silben pro Zeile changiert. Und dieses Pendeln zwischen sieben und elf hat mich rhythmisch sehr interessiert, das ergibt einen ganz seltsamen Schwebezustand.“ Musikalisch verzichtet Hans Zender dieses Mal auf historische oder geographische Verortungen des Textes – das 16. Jahrhundert oder die reiche iberische Musiktradition sind nicht sein Thema. „Aber was natürlich untergründig wirkt, ist ein gewisser Chromatizismus, oder genauer gesagt: Die Mikrotonalität versucht, die Vokale von San Juan de la Cruz in ihrer unglaublichen Farbigkeit fortzusetzen. Und das ist der eigentliche musikalische Einstieg für mich – diese Mikrotonalität, die mich seit den 90er Jahren in meiner Arbeit sehr beschäftigt, nun hier artifiziell in einem sehr engmaschigen Netz noch einmal zu bringen.“
Im Gegensatz zu vielen spektralistisch arbeitenden Komponisten, die von einem Grundton ausgehend Obertöne erfahrbar machen und dafür harmonische Beschränkungen in Kauf nehmen, im Gegensatz auch zum späten Luigi Nono, der mittels mikrotonaler Differenzierung immer kleinere Intervalle aneinandersetzte, beschreitet Hans Zender einen eigenen Weg in die Mikrotonalität. „Natürlich berührt sich das irgendwo, weil man fetischisiert ist von diesen Klängen, die uns neu begegnen. Denn das sind ja wirklich neue Klänge!“, erklärt der Komponist. „Bei mir geht es jedoch verglichen mit Nono um das Gegenteil: Ich versuche, die Intervalle, die in unserem Tonsystem durch die temperierte Stimmung verschmutzt sind, rein darzustellen, indem ich mit Zwölfteltönen arbeite. Ich habe also zweiundsiebzig Töne pro Oktave, sechs mal zwölf. Wenn ich nun zum Beispiel bei einer großen Terz einen Zwölftelton abziehe, erhalte ich ein reines Intervall, ebenso, wenn ich bei einer kleinen Septe zwei Zwölfteltöne, also einen Sechstelton abziehe. Und wenn ich beim Tritonus einen Viertelton, also drei Zwölftel abziehe, dann habe ich einen reinen Tritonus.“
„Durch diese Technik erscheinen die starken Intervalle wie frisch geputzt“, setzt er fort. „Für mich hat das etwas zu tun mit Luftverschmutzung und Meeresverschmutzung. Wenn man die Giftstoffe entzieht, in unterschiedlichen Quanten, dann kann man wieder zu einem reinen Gewässer kommen. Das ist für mich ein großes Ziel gewesen in meiner gesamten Harmonik der letzten 25 Jahre.“ Vorbildlich für diese Aufmerksamkeit auf reinen Intervallen war für Hans Zender immer das Spiel von Spezialisten für Alte Musik. „Ich wollte das genauso in der Neuen Musik haben, allerdings mit einer sehr viel komplexeren Harmonik“, sagt er. Unter keinen Umständen mochte er dem reinen Klang die Errungenschaften atonalen Komponierens opfern – und widmete das erste Stück des Zyklus’ Arnold Schönberg. Zunächst mag diese Widmung sogar paradox erscheinen, erforderte Schönbergs zwölftöniges Komponieren doch gerade die perfekte Temperierung der Halbtonskala. Auf prophetische Weise hatte der Komponist allerdings in seiner Harmonielehre schon 1911 die neue Auseinandersetzung mit den Welten der Obertöne vorausgesagt und das temperierte System mit einem „auf unbestimmte Zeit geschlossenen Waffenstillstand“ verglichen.
Nachdem dieser Waffenstillstand über Jahrhunderte von den meisten Seiten eingehalten wurde, versetzen Hans Zenders Werke den Hörer in neue Klangwelten. „Meine Musik verlangt, dass man ganz genau hinhört – und dann anfängt, die Harmonik überhaupt neu zu entdecken. Das ist der Wunschtraum“, erklärt der Komponist. Kristallklar soll diese Harmonik sein. „Deshalb hat mir der Titel Oh cristalina... so gefallen. Er kommt in dem Text vor und bezieht sich auf den Klang, der mir als Ideal vorschwebt – nicht nur bei diesem Stück, aber hier besonders. Denn der Klang ist für mich eine Spiegelung dessen, was San Juan de la Cruz in seiner Art zu dichten sucht. Das lässt sich schwer beschreiben, ich bin kein Sprachwissenschaftler – aber ich habe bei ihm das Gefühl, dass er in seiner Dichtung eine ganz außerordentliche Form von Purheit erreicht. Er beschreibt die geistige Welt nicht wie eine Projektion oder wie eine Konstruktion oder als subjektive Empfindungswelt, sondern er beschreibt sie als Wirklichkeit. Und das sind wir heute nicht gewohnt: Wir erleben in der modernen Literatur, dass die Begriffe und Bilder dekonstruiert oder ausgelöscht werden, in einer Art negativer Dialektik. Aber es gibt natürlich die Möglichkeit, genau das umzukehren. Und das ist eigentlich mein Weg, alles wieder neu zusammenzusetzen, nur auf eine sehr viel differenziertere und feinere Weise – harmonisch, formal, in jeder Beziehung.“
Solch ein Streben nach Ganzheit begegnete Hans Zender auch thematisch im Cántico espiritual: „Es geht um die Beeinflussung des Physischen, dafür steht hier die Braut, durch das Geistige, den Bräutigam. Durch den immer dichter werdenden Kontakt, der schließlich zur Verschmelzung führt, wird die Braut in diesem dichterischen Bild frei, sie fliegt als Taube auf. Und in dem Moment sagt der Bräutigam ihr: Du darfst nicht wegfliegen. Das kommt gerade in diesem neuen Stück vor: ‚Vuélvete paloma‘, kehr deinen Flug um. Du musst, damit wir uns wirklich treffen, am Boden bleiben und die ganze Mühe der Arbeit leisten.“ Und augenzwinkernd ergänzt er: „Man kann nicht einfach wegfliegen und alles mit dem Gefühl machen wollen, sondern man muss bis zum letzten alles selber bauen, wenn man so will, aber dann fliegt es.“
Auch das neue Stück kann natürlich erst nach einem intensiven Probenprozess vom Boden abheben, in dem die Sänger und die Instrumentalisten anfangs den Umgang mit den mikrotonal veränderten Intervallen lernen müssen. Dass die Einstudierung recht gut zu bewältigen ist, verdankt sich vor allem der Tatsache, dass die „bereinigten“ Intervalltöne Terz, Septe und Tritonus stets gleichzeitig mit ihrem Grundton erklingen. „Das heißt, die Aufführenden haben immer die Möglichkeit, mit ihrem eigenen Ohr zu kontrollieren: Bin ich jetzt rein? Und das lernen sie tatsächlich innerhalb kurzer Zeit“, bestätigt der Komponist. Erleichternd kommt hinzu, dass Hans Zenders Tonsprache für die Musiker des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg und des Vokalensembles Stuttgart des SWR alles andere als fremd ist. Denn nicht nur als Dirigent war er dem SWR Orchester lange Zeit eng verbunden, auch viele seiner Werke wurden vom Orchester aufgeführt. „Das Vokalensemble hat ja auch gerade das vorletzte Stück des Zyklus’ uraufgeführt, und das war wieder einmal unglaublich gut. Ich bin in dieser Hinsicht reich gesegnet mit diesen beiden Klangkörpern. Umso schlimmer ist natürlich, dass der eine davon aufgelöst wird. Da herrscht im Moment eine Kunstfeindlichkeit in den Rundfunkanstalten, die ganz fürchterlich ist“, bedauert er. „Es ist ja bei weitem nicht überall so wie hier beim Südwestfunk Orchester, wo die Musiker so interessiert an Neuer Musik sind, dass sie sich selber investieren: Sich in ihrer Freizeit zusätzlich mit den Stücken beschäftigen, Kammermusik machen von Komponisten, die sie in Donaueschingen spielen, sogar einen Preis vergeben an das Orchesterstück, das sie für das beste halten. Das ist natürlich ein Paradies, das es auf der Welt nicht noch einmal gibt.“
Nina Rohlfs 10/2014