2014 wurde Samir Odeh-Tamimis Mansūr für großen Chor, vier Blechbläser und zwei Schlagzeuger mit großem Erfolg bei den Salzburger Festspielen aufgeführt. Das Werk, das von den Festpielen in Auftrag gegeben wurde, basiert auf Texten von und Betrachtungen über den Sufi-Mystiker Mansūr Al-Hallāğ (858–922), mit dessen Denken sich der Komponist schon in mehreren Werken auseinandergesetzt hat. Der folgende Beitrag von Margarete Zander ist im Programmheft zur Uraufführung erschienen.
Mit tiefen Schlagzeugklängen, die sich aus dem Nichts kaum hörbar von hinten dem Publikum nähern, und dem rhythmischen Gesang weniger Sänger beginnt Mansūr. Bei genauem Hinsehen zeigt sich in diesem schlichten Anfang schon das ganze Stück: Samir Odeh-Tamimi hat den Text auf vier Chorgruppen verteilt. Diese stehen ebenso wie die Instrumentalisten um das Publikum herum im Raum. Die Aufteilung der Stimmlagen und Instrumente ist musikalisch nicht an Spiegelachsen orientiert. Der Komponist spannt mit Stimmen und Instrumenten Dreiecke quer durch den Raum. Wenn sich dann Posaunen und Schlagzeug mit diesen Tönen verbinden, dehnen sie die Tonräume in den gesamten Kirchenraum hin aus. Einzelne Töne setzt er extrem weit oben oder unten, um den (Klang-) Raum zu vergrößern und das Publikum in piano- und pianissimo-Töne einzuhüllen oder es mit einem Mezzoforte oder Forte gefangen zu nehmen.
Die ersten instrumentalen tiefen Klänge bereiten den Boden für das Wesentliche des Stückes, den Text aus dem Garten der Erkenntnis von Mansūr Al-Hallāğ. Gleich in den ersten Takten wird er zitiert: „sie ist nicht er und er ist nicht sie, und nur sie ist er und nur er ist sie“. Schon in diesen auf den ersten Blick noch verwirrenden Versen steckt die ganze radikale Sprengkraft der Botschaft des Mystikers Mansūr Al-Hallāğ. Er forderte dazu auf, nicht weiter nach neuen Definitionen und Bildern für Allah zu suchen. Die wahre Erkenntnis, so Mansūr Al-Hallāğ, findet ihr nur in euch selbst. Für Samir Odeh-Tamimi sind das die zentralen Verse, inhaltlich so dicht und bedeutungsvoll, dass er sie erst einmal quasi allein in den Raum stellt.
Der Sufi-Rhythmus, in dem Mansūr Al-Hallāğ diese Verse geschrieben hat, wird zum rhythmischen Fundament der Musik. Auch wenn Samir Odeh-Tamimi sagt, dass er kein religiöser Mensch sei und er dieses Werk nicht aus religiösen Gründen geschrieben habe, so hat doch dieser Sufi-Rhythmus musikalisch eine große Bedeutung für ihn. Der tänzerische Dreierrhythmus, diese Gangart, die federt, der Rhythmus, der eine weiche Bewegung assoziiert, hat ihn seit seiner Kindheit begleitet. Es ist ein Rhythmus, der lebt, der sich verändert. Er führt ihn zurück zu den Ritualen der Sufi bei den Gebeten, die er als Kind bei seinem Großvater erlebte, der solche Rituale als Sufi-Meister leitete, ein Ritual, das im Verborgenen stattfand und sich in Trance auflösen konnte. Dieser Rhythmus war aber auch im Alltag präsent, wo seine Großmutter permanent wiederholend im Sufi-Rhythmus Verse vor sich hin murmelte oder stumm die Lippen bewegte und dabei einen Kranz mit Perlen durch ihre Finger gleiten ließ. Dieses Einschwingen und ständige Wiederholen des Sufi-Rhythmus kann zu einer Trance führen, die für viele den absoluten Weg der religiösen Erkenntnis bedeutet.
Samir Odeh-Tamimi hat dieses körperlich-meditative Ritual mit der philosophischen Erkenntnis von Mansūr Al-Hallāğ verknüpft. Im Sufi-Rhythmus seiner Texte lässt Odeh-Tamimi die Sänger die Worte „sie ist nicht er und er ist nicht sie, und nur sie ist er und nur er ist sie“ rezitieren. In der handschriftlichen Partitur sieht man diese Worte grafisch so auf dem Blatt verteilt, dass man ihre Bewegung im Raum erkennt, die Bewegung durch den Raum, in dem das Publikum sitzt.
Diese vom Rhythmus dominierten Passagen unterbricht der Komponist durch musikalische Zwischenräume in Form von zum Teil wilden, lauten, dichten Klangflächen. Odeh-Tamimi türmt – häufig um den Zentralton fis – Cluster auf, schafft Reibungen durch eng beieinander liegende Töne – f-fis-g – und erzeugt auf diese Weise dichte Spannungsfelder von hoher Energie. Sie unterbrechen für einen Moment den rhythmisch dominierten Fluss des Sufi-Rhythmus, der in Trance münden wird. Sie führen in die Klangwelt von Samir Odeh-Tamimi, wie er sie nach seinen Studien der Musik von Arnold Schönberg, von Younghi Pagh-Paan und vielen anderen Komponisten unserer Zeit für sich entwickelt hat.
Es ist eine Welt, in der ihn seit Jahren die Philosophie von Mansūr Al-Hallāğ begleitet, und so sind unterwegs nicht nur einige Werke mit Texten von Al-Hallāğ, sondern auch viele Skizzen entstanden, die er beim Arbeitsprozess vor Augen hatte und an bestimmten Stellen in Mansūr eingeschoben hat. Beim Prozess des Komponierens haben sich seine Gedanken verdichtet, beim Zurückblicken auf das schon Geschriebene einzelne Töne herauskristallisiert, die er dann gezielt in den Raum gestellt hat. In den Zwischenräumen arbeitet Samir Odeh-Tamimi ohne konkrete Texte, mit Hauchgeräuschen der Stimmen oder offenen Vokalen, die er auf Griechisch geschrieben hat, weil diese Sprache für ihn die archaische Grundform von Sprache verkörpert. Von diesen musikalischen Zwischenräumen aus gibt es immer wieder eine Reduktion auf einen tiefen ruhigen Raumklang, aus dem sich die Stimmen neu erheben können.
Während die Männerstimmen eine Zeit lang sehr dominant durch ständiges Wiederholen über Mansūr Al-Hallāğs Verwirrungen rätseln – „er ist nicht sie und sie ist nicht er“ –, tauchen plötzlich die hohen Frauenstimmen auf. Sie singen von Allah und artikulieren Mansūr Al-Hallāğs Erkenntnis: „der Erkennende ist der Sehende und die Erkenntnis ist ewig, der Erkennende ist durch seine Erkenntnis.“
Dieser arabische Text soll vom Chor wie ein deutscher Text ausgesprochen werden. Samir Odeh-Tamimi erwartet ein inneres Verstehen. Und wer verstanden hat, ist überzeugend in seiner Aussage. Diese Haltung geht auf ein Schlüsselerlebnis zurück, das der Komponist hatte, der seit 24 Jahren in Deutschland lebt. Ihm las jemand ein deutsches Gedicht vor, und auch wenn er nicht jedes Wort direkt hätte übersetzen können, hat er das Geheimnis des Textes verstanden.
In der Originalhandschrift zu Mansūr gibt es wenige Korrekturen. Zum ersten Mal fühlte sich Samir Odeh-Tamimi herausgefordert, die Prozesse, die er beim Komponieren erlebte, nicht durch Ausschneiden, Kopieren und neu Zusammenkleben zu überarbeiten, sondern auch in seiner eigenen Handschrift seinen Erkenntnisgewinn zu dokumentieren, in seiner Handschrift, die seine Logik jetzt wie aus einem Guss zeigt.
Von „legatissimo“ zu „so schnell wie möglich“ schreibt Samir Odeh-Tamimi für die Ausführenden in die Partitur und deutet damit an, dass es hier nicht um reine Tempobeschleunigung geht, sondern um die Veränderung der inneren Haltung, ein Prozess des Loslassens und sich Fallenlassens wie im Sufi-Ritual. Ganz zum Schluss bleiben von den Worten nur einzelne Silben. Der Begriff wird aufgelöst. Es bleibt die Erkenntnis.
Margarete Zander, 07/2014