Eliahu Inbal feiert am 16. Februar 2021 seinen 85. Geburtstag. Wir gratulieren - und veröffentlichen erneut unsere erstmals 2016 erschienene dreiteilige Interviewserie über Leben und Wirken des Dirigenten.
Neben zahlreichen anderen Schallplatten- und CD-Produktionen ist es insbesondere der Bruckner-Zyklus mit dem hr-Sinfonieorchester, damals noch Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, der Ihnen eine große Aufmerksamkeit verschafft hat und noch heute als legendär gilt. Wie gestaltete sich der Beginn der Zusammenarbeit mit dem Orchester?
Ich fand ein Orchester vor, das viele Möglichkeiten, aber auch Probleme hatte. Insgesamt war die Attitüde, dass man sich nicht in der ersten Reihe sah – und ich wollte sofort in die erste Reihe! Ich musste viele Dinge ändern, und das bedeutete leider auch schmerzliche Einschnitte. Ich war damals sehr enthusiastisch und dachte: Das Orchester macht überhaupt nichts – keine Platten, keine Tournee – das geht nicht. Ich begann mit Plattenaufnahmen. Die großen Zyklen, die wir aufnahmen, waren sehr wichtig für das Orchester, da sie auch international auf Resonanz stießen.
Wie hat sich diese Möglichkeit ergeben?
Noch mit Philips hatte ich Aufnahmen mit dem London Philharmonic und Claudio Arrau gemacht, die ein großer Erfolg waren. Mit Bruckner war es so, dass ich als erster die Erstfassungen der dritten, vierten und achten Sinfonie dirigiert habe, die sonst niemand spielen wollte, weil sie so schwierig sind. Teldec wollte das sofort einspielen, und es wurde eine Gesamtaufnahme daraus. Es folgten viele andere Projekte, darunter die Zyklen von Dvořák und Strawinsky. Denon wurde auf mich aufmerksam, weil ich jedes Mal, wenn ich in Japan zu Besuch war, eine Mahler-Sinfonie dirigierte, mit Riesenerfolg. Sie brachten dann den Mahler-Zyklus mit dem RSO Frankfurt heraus. Ich glaube, es war die erste digitale Gesamtaufnahme, und sie hat sich zigtausendfach verkauft. Später habe ich mit Denon auch die Zyklen von Berlioz und Schostakowitsch, Schumann, Webern und Brahms eingespielt. Das alles, erst die Schallplatten und dann die CDs, hat mich sozusagen auf die Landkarte gebracht. Und das ist mir bis heute geblieben.
Wenn ein Dirigent mit einem Aufnahmeteam aufschlägt und solche großen Einspielungen verwirklichen kann, hat das bestimmt auch einen Einfluss auf sein Verhältnis zum Orchester.
Ja, aber natürlich. Das hat das Orchester enorm entwickelt, auch die Tourneen, die wir mit diesem Repertoire unternommen haben. Als ich zum Orchester kam, herrschte dort eine Provinzstimmung, und das habe ich geändert. Als ich das hr-Sinfonieorchester verließ, war es international bekannt, und sie bewegen sich bis heute auf sehr hohem Niveau.
Auch Ihren Namen als Dirigent haben die Aufnahmen befördert.
Zweifellos. Ich würde es so ausdrücken: Wenn ein Dirigent zum Orchester kommt, ist er entweder unbekannt, dann hängt alles davon ab, wie er sich in den ersten Minuten präsentiert. Oder er kommt mit einer Geschichte an, er hat einen Namen, dann genießt er schon automatisch mehr Autorität. Davon profitiere ich enorm. Es gibt auch natürliche Autorität oder Ausstrahlung, aber die Tatsache, dass ich durch die Schallplattenaufnahmen als ein besonderer Mahler und Bruckner-Interpret gelte, hilft zweifellos.
Ihre Arbeit mit dem hr-Sinfonieorchester in Frankfurt war ja bei weitem nicht Ihr einziger langjähriger Chefposten. Wie ist es nun für Sie, als Gastdirigent diese Orchester zu leiten, mit denen Sie so eng verbunden sind?
Wenn ich zu einem Orchester zurückkehre, mit dem ich lange gearbeitet habe, ändert sich sofort der Klang, sobald ich vor den Musikern stehe. Sie wissen, was ich damals wollte – das geschieht bei La Fenice, beim Konzerthausorchester Berlin, in Frankfurt, beim Tokyo Metropolitan, bei der Tschechischen Philharmonie. Es ist so, als käme ich zu meiner Familie zurück. Dieser Kontakt bleibt. Und man redet dort vom Inbal-Klang.
Diese Orchester unterscheiden sich ja in ihrem individuellen Klang sehr stark. Haben Sie also einen Inbal-Konzerthausorchester-Klang in Ihrem Kopf und einen Inbal-Fenice-Klang, oder möchten Sie bei allen Orchestern das Gleiche erreichen?
Das ist ein interessanter Aspekt, denn jedes Orchester hat seine Eigenheiten. Dazu komme ich mit meiner Vorstellung. Es gibt einen Inbal-Klang. Der kann aber nicht überall derselbe sein, weil ich zum Beispiel in Tokio das Japanische nicht wegnehmen will. Ich möchte die Qualitäten, die Besonderheiten, den Charakter jedes Orchesters erhalten und davon profitieren – und dazu noch meinen Inbal-Klang verwirklichen, und natürlich meine Interpretation.
Wie kommen Sie zu Ihrer Interpretation – wie finden Sie Ihren Schlüssel zu einem Werk?
Es gibt dabei Dinge, die leicht zu verstehen sind: Dass man die Partitur analysiert, die Struktur, das ist für alle Dirigenten gleich. Aber dann kommt der spirituelle und emotionale Gehalt. Der Sinn der Musik: was will die Musik erzählen, was will sie bedeuten. Hier kommt die Person Inbal ins Spiel, und ich muss im Einklang mit der Partitur sein. Nehmen wir zum Beispiel die 4. Sinfonie von Bruckner. Die habe ich oft dirigiert, aber jetzt nehme ich die Partitur wieder von neuem und erforsche, was sie mir sagt und was das für mich bedeutet. Jedes Mal treten neue Aspekte hervor, weil die Zeit sich verändert, weil ich mich verändere, weil die Probleme der Welt andere sind. Das findet sich in der Musik wieder. Und natürlich gibt es da nicht richtig und falsch. Das ist individuell, und das macht die Interpretation aus. Ein anderer Dirigent wird etwas anderes in der Musik entdecken. Das ist gut so, sonst wäre es langweilig.
Wir haben indirekt auch über die Orte Ihres Lebens geredet – heute leben Sie in Paris. Das erscheint nicht unbedingt selbstverständlich: Ihre Frau ist Deutsche, Ihre Kinder sind teilweise in Deutschland aufgewachsen.
Das ist vielleicht etwas Sentimentales. Studentenjahre sind sehr wichtig, sehr prägend – damit verbinden sich Liebeserlebnisse und natürlich die Materie selbst, die man studiert hat. Der Wunsch, irgendwann wieder in Paris zu leben, war sehr stark. Ich war lange in Deutschland, bis 1990. Ich wäre danach vielleicht nach Israel zurückgegangen, aber das war nicht im Sinne meiner Frau. Deswegen also Paris.
Sie geben rund um Ihren Geburtstag sehr viele Konzerte. Erfüllen Sie sich oder erfüllen die Orchester Ihnen damit besondere Wünsche?
Ich bin glücklich über meine momentanen Erfahrungen. Dass ich neuen Orchestern begegne, die ich noch nicht kannte, und dass ich immer wieder zurückkehre zu vielen Orchestern, das macht mir Freude. Was ich mir noch wünsche, ist ganz banal: Gesundheit und ein langes Leben – dass ich noch lange meine Kinder sehen kann, und Enkelkinder...
Das wünschen wir Ihnen auch von Herzen!
Nina Rohlfs 01/2016