Wenn sie spielen, kann es passieren, dass selbst coole Preisrichter mal ausrasten. Wie jüngst geschehen, schwärmen die Juroren dann von einem „Gewittersturm“, von „krachenden Akkorden“, „wilden Jagden“ und „magischem Glitzer“. Kurz: von „einer abenteuerlichen Reise durch virtuelle Klanglandschaften“. So heißt es in der neuesten Lobrede auf das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher. Denn die beiden haben den begehrten (Jahres-)Preis 2019 der Deutschen Schallplattenkritik gewonnen. Und zwar für die famose CD-Einspielung eines 50-minütigen Mammutwerks: Philippe Manourys „Le temps. Mode d’emploi“ für zwei Klaviere und Live-Elektronik (bei Neos erschienen). Ein Klangtrip mit Sogwirkung. Grau und Schumacher können beides – Klassik und Moderne, fühlen sich bei Schubert genauso zuhause wie bei Stockhausen, gastieren in Paris und Tokio, musizieren mit den besten Orchestern und sind auf Avantgarde-Festivals präsent. Doch das ist nicht alles. Die größte britische Sonntagszeitung, die „Sunday Times“, wählte die CD sogar unter die „100 Best Records of the Year“: in exquisiter Gesellschaft mit Nick Cave und Igor Levit.
Seit über 35 Jahren sind Andreas Grau und Götz Schumacher – aufgewachsen in Reutlingen und Bad Urach – gemeinsam unterwegs. Nach ersten aufsehenerregenden Preisen, etwa 1989 beim Deutschen Musikwettbewerb, und einer steilen internationalen Karriere zählen sie längst zu den besten Klavierduos. Elbphilharmonie Hamburg, Wigmore-Hall London, Madrid, Warschau, München, Porto, Schwetzinger Festpiele – so sieht ihr aktueller Terminkalender aus. Ihr Markenzeichen? Ungewöhnliche Programme. Entdeckerfreude. Lust an der Vielfalt, an prickelnden Kombinationen.
In ihrer Duo-Biografie finden sich Namen von Top-Dirigenten wie Kent Nagano, Auftritte bei den Salzburger Festspielen, aber auch pfiffige Konzertserien wie „Bad boys of the piano“ und musikalisch-literarische Abende mit Klaus Maria Brandauer. Was bei den beiden Pianisten immer wieder fasziniert: die „Telepathie des Zusammenspiels“. Kein Wunder, dass sie sich auch namentlich verschmolzen haben und als „GrauSchumacher“ firmieren.
Real lief es umgekehrt. Anfangs wohnten sie noch „Tür an Tür“, inzwischen „lebt der eine in Tübingen, der andere in Berlin“. Wie lässt sich da gemeinsam üben? Per Video? Nein. Ein neues Stück werde „zunächst einmal getrennt einstudiert“, sagt Grau. Dann gilt es, die beiden Parts in mehreren Arbeitsphasen „zusammenzuführen“. Kann sein, dass da auch unterschiedliche Ansatzpunkte aufeinander treffen. Doch eben dieses „Mehr des Andern“, so Schumacher, sehen sie als „Bereicherung“ auf dem Weg zu einer gemeinsamen Interpretation.
So war es auch bei „Le temps. Mode d’emploi“, einem Stück, das der Komponist Philippe Manoury eigens dem Klavierduo gewidmet hat. „Selten so was Schweres gespielt“, sagt Grau mit großem Respekt. Der Titel bedeutet so viel wie „Gebrauchsanweisung“. Es geht um die „Wahrnehmung von Zeit“, um gepresste und gedehnte Zeit, „um Geschwindigkeit und Stillstand“, erklärt Schumacher. Reale und virtuelle Klänge überlagern sich. So entsteht ein wahrer Klangrausch mit wilden Stürmen und betörenden Ruhephasen – auch ein Beispiel dafür, wie sinnlich neue Musik klingen kann.
Mittlerweile haben mehr als ein Dutzend Komponisten speziell für GrauSchumacher Widmungswerke geschrieben – die illustre Reihe reicht von Wolfgang Rihm über Peter Eötvös bis hin zu Szenestar Brigitta Muntendorf. Gibt es so etwas wie prägende DNA-Werke? Ja, meinen sie unisono: Stockhausens kosmisches „Mantra“ und Bernd Alois Zimmermanns „Dialoge“. Und ganz sicher zählt da auch Schuberts f-Moll-Fantasie dazu. Denn zum Kernrepertoire des Klavierduos, das sich als „stilistisch offen“ versteht, gehören eben auch Bach, Mozart, Mendelssohn, Bartók, Poulenc und mehr.
Und Beethoven: Dessen Neunte spielen sie, pünktlich zum Jubeljahr, am 4. Januar in Tübingen – in einer vierhändigen Fassung von Carl Czerny. Diese Version, so Grau, ermöglicht „einen anderen Blick“ auf das bekannte Werk: „eine neue, durchaus spektakuläre Erfahrung.“ Klavierduo ist für Grau-Schumacher eine Lebensaufgabe. Und immer auch eine spannende Zeitreise durch die Jahrhunderte – die Freude am Entdecken geht weiter.
Otto Paul Burkhardt
erschienen in der Südwest Presse, 27.12.2019