von Karsten Witt
Meine erste Begegnung mit Hans Zender,
1978, als Dirigent der Jungen Deutschen Philharmonie, war in vielerlei
Hinsicht prägend. Er war der erste Dirigent, mit dem wir die
„Dramaturgie“ unseres Programms diskutierten. Dass das sinnvoll war,
leuchtete uns natürlich sofort ein, war damals aber noch keine
Selbstverständlichkeit.
Wir entschieden uns für Schönberg op. 16, Brahms Doppelkonzert und Schönbergs Orchesterfassung des Brahms Klavierquartetts g-Moll. Die Aufnahme dieses Werks wurde unsere erste LP bei der Deutschen Grammophon. Zender war auch der erste Dirigent, der aktiv an der Diskussion über die Fortentwicklung unserer Arbeit teilnahm. Es gab damals schon eine große Anzahl von Ensembles aller Instrumentengruppen mit eigenen Probenphasen und Konzerten. Aber nun ging es um Neuland: die Gründung des Ensemble Modern und eines Kammerorchesters, der späteren Deutschen Kammerphilharmonie, die ab 1980 regelmäßig zusammenkommen sollten. Zender gab uns gleich ein Ziel vor, ein großes Projekt, in dem wir die Arbeit aller unserer Ensembles zusammenführen würden: die Aufführung des Gesamtwerks von Anton Webern in dessen 100. Geburtsjahr 1983. Dieses Projekt Opus Anton Webern war sicher das ambitionierteste Projekt, das die Junge Deutsche Philharmonie je durchgeführt hat.
„Der Künstler der Moderne kann und will nicht mehr den ästhetischen Kult des Subjektivismus fortsetzen oder gar das heutige Bedürfnis nach Entertainment bedienen; er kann sich aber ebenso wenig identifizieren mit dem eigentümlichen Wir-Gefühl etwa der kirchlichen Gemeinde oder politischer Gruppierungen. Die Kunst ist ihm ein Mittel geworden, das ihm dabei hilft, sein rationales und gefühlsfixiertes Ich zu überschreiten und einem überindividuellen Selbst näher zu kommen.“ (aus: Waches Hören. Über Musik)
Zender war bis 1984 Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken und Advokat vieler Komponisten, die hierzulande sonst kaum gespielt wurden: neben Varèse, Messiaen, Dallapiccola, Nono, Cage und immer wieder Bernd Alois Zimmermann auch Isang Yun, Earl Brown, Giacinto Scelsi. Dass er dort ein neugieriges Publikum für seine ambitionierten Programme fand, lag nicht zuletzt daran, dass er bei seinen Konzerten regelmäßig engagiert und erklärend das Wort erhob. Zender war nicht nur umfassend gebildet und hoch reflektiert – er konnte dies auch sehr überzeugend kommunizieren. Noch beim letzten Konzert, das ich gemeinsam mit ihm in Saarbrücken besuchte, bei der Uraufführung von Hannya Shin Gyo unter Emilio Pomarico im Mai 2016, konnte man spüren, ein wie treues und interessiertes Publikum er sich hier aufgebaut hatte.
1985 zogen die Mitglieder des Ensemble Modern nach Frankfurt und begannen hier mit der kontinuierlichen professionellen Arbeit. Neben Ernest Bour und Peter Eötvös, Zenders Vorgänger und Nachfolger beim Radio Kamer Orkest des Niederländischen Rundfunks, dessen Chefdirigent er von 1987 bis 1990 war, wurde Zender einer unserer wichtigsten Dirigenten. 1990 führten wir z.B. bei den Salzburger Festspielen ein Programm mit Werken von Kurtág, Webern, Zimmermann und natürlich auch einem eigenen Werk von ihm auf.
Immer mehr rückte in dieser Zeit Zenders Arbeit als Komponist in den Mittelpunkt. Äußerer Ausdruck dieser Schwerpunkt-Verschiebung war die Tatsache, dass er nach Ende seiner Zeit als GMD an der Hamburgischen Staatsoper (1984-87) 1988 eine Kompositions-Professur in Frankfurt annahm. Für uns bedeutete das eine noch engere Bindung. Er wirkte auch bei Komponisten-Seminaren des EM mit. Wir lernten seine Schüler – darunter Isabel Mundry, Hanspeter Kyburz, José María Sánchez-Verdú – kennen. Und er vertraute dem Ensemble Modern Uraufführungen eigener Werke an: 1989 Furin no kyo (in Graz), eines seiner „japanischen“ Stücke, die wir immer wieder spielten, und einige „komponierte Interpretationen“: die Instrumentierung der 5 Préludes von Claude Debussy (1991), Schuberts „Winterreise“ (1993) – zu seiner Überraschung inzwischen eines der meistgespielten zeitgenössischen Werke überhaupt – und 2011 seine 33 Veränderungen über 33 Veränderungen (auf Beethovens Diabelli-Variationen).
„Komponieren heißt, von der Geschichte gestellte Fragen beantworten. Die Antworten sind die Stücke – nicht etwa Theorien oder Absichtserklärungen… Komposition ist ebenso in die Zukunft projizierte Neuschöpfung wie auch Interpretation der gesamten Vergangenheit der Musik – ob der Komponist das will oder nicht.“ (aus: Waches Hören. Über Musik)
1990 waren wir ein Jahr lang Nachbarn am Rande des Taunus, mit Blick auf Frankfurt. Ich hatte den Eindruck, dass er mit der Abgabe seiner festen Dirigierpositionen und der Konzentration auf das Komponieren zu größerer Gelassenheit gefunden hatte. Daneben blieb er aber als Gastdirigent aktiv. Am Wiener Konzerthaus dirigierte er regelmäßig das Ensemble Modern, das Klangforum, das RSO Wien und später auch das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dessen ständiger Gastdirigent er von 1999 bis 2010 wurde.
Egal ob als Dirigent, Komponist oder Lehrer, Zender war vor allem ein bedeutender Denker, der das Gespräch immer wieder auf die Grundfragen der Existenz führte. Happy New Ears. Das Abenteuer, Musik zu hören war der Titel seines ersten Buchs, das 1991 bei Herder erschien. „Happy New Ears“ heißt auch eine Konzertreihe, die Zender gemeinsam mit dem Ensemble Modern 1993 an der Oper Frankfurt begann, in der Musik nicht nur gespielt, sondern auch reflektiert wird. Und den Slogan von John Cage benutzten Hans Zender und seine Frau auch für einen Preis, der von ihrer gemeinsamen Stiftung, zusammen mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Konzertreihe musica viva und BR-Klassik, seit 2011 alle zwei Jahre vergeben wird. Mit diesem Happy New Ears-Preis wird jeweils ein Komponist und ein Publizist ausgezeichnet. Für Zender war immer klar, dass gelingendes Hören nicht nur von der Qualität des Gehörten, sondern auch von der Haltung des Hörenden abhängt.
Hans Zender hat sein Leben lang engagiert Stellung bezogen, ob als Dirigent, als Lehrer oder als künstlerischer Leiter einer Institution. Musik denken und Nachdenken über Musik gehörten für ihn untrennbar zusammen. Gespräche mit ihm kreisten häufig um philosophische Themen, insbesondere den Zusammenhang von und die Differenz von Musik und Sprache. Daher war es für mich besonders beglückend, dass zu seinen Gesprächspartnern zwei meiner Philosophie-Lehrer gehörten: der Begründer der Dialogischen Logik, Kuno Lorenz in Saarbrücken (bei dem ich in Hamburg Sprach-Philosophie) und Albrecht Wellmer (bei dem ich in Konstanz Gesellschafts-Theorie studiert hatte), dessen Versuch über Musik und Sprache 2009 erschien. Ein Briefwechsel mit ihm ist in Zenders Buch Waches Hören (Hanser 2014) enthalten.
„Wer sich in einer Zeit vollständiger Kommerzialisierung vor der Zerstörung des Künstlerischen bewahren will, sollte sich keine Illusionen über die Randständigkeit der Neuen Musik innerhalb des Gesamtspektrums der Kulturindustrie machen, wenn er nicht in hybridem Größenwahn oder in einer selbstzerstörerischen Frustration landen will. Von hier aus betrachtet, ist ein schöpferisches Dasein heute gefährlich, denn die Gesellschaft lässt den schöpferischen Menschen im Stich wie kaum je zuvor.“ (aus: Waches Hören. Über Musik)
In den letzten Jahren litt Zender schwer darunter, dass er wegen seiner fortschreitenden Erblindung nicht mehr komponieren konnte. Seiner Geistesschärfe und Kreativität – auch seinem unbestechlichen Ohr – tat das aber keinen Abbruch. Er konzentrierte sich nunmehr auf das Studium – per Computer – und das Diktat philosophischer Texte. 2016 erschien bei Alber der Band Denken hören – Hören denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens. Im Frühjahr 2019 folgte bei Herder Sehen Verstehen SEHEN. Meditationen zu Zen-Kalligraphien (gemeinsam mit Michael von Brück). Und zwei Wochen vor seinem Tod erschien bei Herder sein letztes Buch: Mehrstimmiges Denken. Versuche zu Musik und Sprache.