Schon seit Beginn ihrer Karriere besticht Sarah Wegener durch Vielseitigkeit: Mühelos wechselt die Sopranistin zwischen Stilepochen und Genres – von Bach-Oratorien zu Orchesterliedern von Strauss, von Klassik und Romantik bis zu Opernuraufführungen. Dass sie nun in der Rolle der Sieglinde debütiert, zeigt einmal mehr, dass sich ihre „wunderbar warme, volle Sopranstimme“ (Süddeutsche Zeitung) allzu starr ausgelegter Stimmfach-Grenzen entzieht. Trotzdem war selbst sie überrascht, als die Partie, die oft mit Mezzosopranistinnen besetzt wird, an sie herangetragen wurde. „Meine Reaktion war: Nein, Sieglinde, das geht nicht. Zum Glück habe ich es ausprobiert! Schon nach ein paar Seiten wusste ich: Doch, diese Partie muss es sein. Obwohl –oder vielleicht sogar weil – sie so tief liegt.“
Für Kent Nagano ist Sarah Wegener ohnehin eine Idealbesetzung im zweiten Teil seiner historisch informierten Ring-Tetralogie, die der Dirigent als ein beispielloses Projekt realisiert: Musikforschung und künstlerische Umsetzung gehen bei seinen „Wagner-Lesarten“ Hand in Hand. Konzertante Vorstellungen mit dem Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln stehen in Prag, Köln, Hamburg, Dresden, Amsterdam und Luzern an.
„Das Projekt beschäftigt sich mit einer historischen Sichtweise, die sich auf viele Ebenen bezieht. Unter anderem spielt das Orchester auf Originalinstrumenten“, erklärt Sarah Wegener, für die es die zweite Produktion als Teil der Wagner Lesarten ist – 2021 sang sie die kleinere Partie der Freia und schwärmt darüber: „Ich habe mich schon beim Rheingold so über den Klang begeistert. Da gibt es ja volle Bläsersätze, das Walhall-Motiv zum Beispiel, und das klingt mit den Naturinstrumenten so weich, rund und schön – einfach golden.“
Die Stimmen müssen sich entsprechend auf die tiefere Stimmung von 435 Hertz einstellen. „Man kann das kaum vorher üben und muss sich deshalb ganz auf die Begegnung mit dem Orchesterklang einlassen“, sagt die Sopranistin. „Das erinnert mich sehr an die modernen Opern, die ich gemacht habe – einen Spektralklang von Georg Friedrich Haas zum Beispiel kann man auch nicht beim Üben am Klavier erzeugen.“ Auch an die Diktion stelle diese spezielle Wagner-Interpretation besondere Anforderungen. „Es geht darum, nicht nur jeden einzelnen Satz deutlich zu sprechen, sondern jede Silbe, jeden einzelnen Konsonanten. Das Ziel ist, dass jede und jeder im Saal alles versteht“, so die Sängerin.
Dass sie ein in Bezug auf Wagner noch recht unbeschriebenes Blatt ist – wie übrigens die meisten Sängerinnen und Sänger im Ensemble – komme ihr dabei sogar zugute. Und sie genießt die vom künstlerisch-wissenschaftlichen Produktionsteam ausgehenden Impulse, die ihr Rollenstudium bereichern: „Der Theater- und Literaturwissenschaftler Dominik Frank von der Uni Bayreuth zum Beispiel versorgt uns mit Hintergrundinfos darüber, was einzelne Szenen oder Bilder bedeuten, und dadurch verändert sich auch der Zugriff, der Zugang zur Rolle. Ich merke zum Beispiel: So schüchtern, wie ich dachte, ist die Sieglinde gar nicht.“ In dem Prozess, ganz bei „ihrer“ Sieglinde anzukommen, seien schon erste Proben wegweisend gewesen. „Das war eine Art Zen-Moment für mich“, beschreibt Sarah Wegener. „Ich habe mit dem Korrepetitor Volker Krafft ein ganzes Wochenende durchgearbeitet – und anstatt erschöpft zu sein, hat mein kompletter Körper pulsiert. Ich liebe diese Körperlichkeit, die das Ganze hat.“
Ein anderer Aha-Moment in der Entdeckung und Entfaltung ihres stimmlichen Potentials liegt inzwischen schon einige Jahre zurück. „2017 habe ich zum ersten Mal Mahlers 8. Sinfonie gesungen, unter Eliahu Inbal in der Elbphilharmonie. Das war ein Meilenstein für mich, weil ich da etwas entdeckt habe, das ich zuvor nicht kannte: Ich wusste nicht, dass meine Stimme so extrem viel Power hat. Ich kann mit größter Freude über Menschenmassen hinwegsingen. Das kann ich manchmal selbst gar nicht fassen. Ich habe das Werk mittlerweile vielleicht um die 15mal aufgeführt, unter anderem auch mit Kent Nagano, und es wird immer noch extremer. Es gibt da einen hochdramatischen Moment in mir – trotz lyrischer Stimme.“
Einher ging diese Entwicklung mit dem Bedürfnis, das tiefere Register stärker einzubeziehen. „Ich habe gemerkt, wie sehr die Höhe von der Tiefe profitiert: Wenn ich einen superoffenen Bruststimmton singen kann, kommt das hohe C von allein. Das habe ich immer weiter ausgebaut – ich habe tiefe Lieder gesungen von Alma Mahler, die eigentlich für Mezzosopran sind, oder bin einfach nicht mehr davor zurückgeschreckt, Repertoire auszuwählen, das diesen Aspekt meiner Stimme fordert. Denn wieso soll ich nicht das volle Potential verwenden?“ So ist sie im April mit dem Real Orquesta Sinfónica de Sevilla unter Marc Soustrot auch mit den Kindertotenliedern zu hören – und zwar in der Version für Mezzosopran. „Das ist mal etwas ganz anderes“, freut sie sich. „Da gibt es keine hohen Töne, mit denen man brillieren kann, aber wenn ich in der tieferen Lage singe, bin ich ganz bei mir selbst. Das tut einfach gut.“
Sicher hat ihr auch die Neue Musik geholfen, diese Potentiale zu entdecken. Große Erfolge feierte sie zum Beispiel mit den Opern von Georg Friedrich Haas, und mit Heinz Holliger ist sie nach wie vor regelmäßig mit neuen Werken zu hören, die ihr immer wieder große Flexibilität abverlangen. „Interessanterweise hat mir diese moderne Klangwelt geholfen, sofort einen Zugang zu allem zu finden – auch zu Wagner oder Mahler. Normalerweise sagt man, Mahler hilft, einen Zugang zu Neuer Musik zu finden, aber bei mir ist es andersherum. Die Neue Musik öffnet die Ohren, man geht in die Breite und die Weite. Und in ihr steckt die gesamte Entwicklung dessen, was vorher war.“
Fragt man Sarah Wegener, ob sie diese breite Repertoireentwicklung bewusst geplant habe, winkt sie lachend ab. „Das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber ich würde sagen, das passiert aus dem Herzen heraus“, sagt sie. Doch mitnichten ist diese Herangehensweise mit Beliebigkeit zu verwechseln: Sarah Wegener folgt mit sehr feinen Antennen ihrer Intuition und versucht, sie ernster zu nehmen als von außen an sie herangetragene Erwartungen. „Als ich zum ersten Mal Mahlers Achte sang, haben sich zum Beispiel viele gewundert, weil sie mich vielleicht mit der Matthäuspassion gehört hatten oder mit Mozarts Et incarnatus est. Da kann man sich nicht vorstellen, dass so eine Kraft in mir steckt. Ich wusste aber, dass ich das kann, und da muss man manchmal sagen: Bäm, hier bin ich, ich mache das.“
Weniger anstrengend ist Sarah Wegeners individueller Weg dadurch sicher nicht, und auch für die Sieglinde stellt sie sich einem strikten Vorbereitungsprogramm. „Es ist zwar ein großer Vorteil für mich, diese Partie erst einmal konzertant singen zu können und mich völlig auf Körper und Stimme konzentrieren zu dürfen“, sagt sie. „Aber die Sieglinde ist trotzdem kein Spaziergang. Krafttraining an Geräten hilft mir da sehr viel. Ich hätte das nie gedacht, aber es ist ein anderes Singen.“ Für Sarah Wegener ein weiterer Baustein in Sachen Stimmpflege und Stimmgesundheit – Aspekte, die für sie sowieso immer im Mittelpunkt stehen. „Ganz wichtig ist, dass man mit den Konsonanten stützt – eine gesunde Art zu singen. Das Vertrauen zu haben, dass das groß genug ist, ist manchmal schwierig, aber essentiell“, erklärt sie.
Nicht zu unterschätzen sei auch die Regeneration. „Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ich Mahler 8 gesungen habe – kann ich dann am nächsten Morgen schon eine Probe für Händel machen? Ich sage, klar kann man das, man sollte aber nicht.“ Sie fährt fort: „Ich stehe dazu: Regeneration gehört mit zum Beruf, genauso wie Stimmpflege – dass man weiß, was man machen kann, wenn man stimmlich müde ist. Man darf nicht vergessen, der ganze Kehlkopf ist von Muskeln umgeben. Wenn man weiß, wie man die entspannen kann, ist schon viel geholfen.“ Den Terminkalender zu überfrachten lässt sich also schwerlich mit den Erfordernissen einer gesunden Stimme in Einklang bringen, schildert sie. „Ich trage ja die Verantwortung. Ich muss, wenn ich Engagements annehme, ständig vorausschauend bedenken, ob ich garantieren kann, Bestleistung zu bringen.“
Denn halbe Sachen macht Sarah Wegener in keinem ihrer Projekte und Engagements, und nach ihren Wünschen für die Zukunft gefragt, antwortet sie entsprechend: „Ich möchte einfach bei mir sein, aus dem Herzen musizieren und nichts tun, wo ich mich klein machen muss. Ich möchte in meiner ganzen Größe strahlen dürfen und Menschen erfreuen.“ Ob mit Orchesterliedern, für die sie besonders brennt, ob mit Liederabenden mit ihrem Begleiter Götz Payer, bei denen sie oft eine spezielle Verbindung zum Publikum spürt – vor allem aber mit der Musik, die gerade in diesem Moment ansteht, wie nun die Sieglinde. „Der erste Akt fängt ja an im Pianissimo, mit einer Art Sprechgesang, es knistert. Und am Ende dieses Akts gibt es ein Outburst von Linie und Gesang, da freue ich mich so drauf“, begeistert sie sich und wiederholt: „Ich freue mich SO darauf.“
Interview und Text: Nina Rohlfs, 2/2024
Mehr Information und Termine: Wagner-Lesarten/The Wagner Cycles