Die Geschichte des Livre pour quatuor beginnt 1948. Ursprünglich auf sechs Sätze angelegt, stellt Pierre Boulez den vierten Satz nie fertig. Er hadert mit dem Stück, fertigt verschiedene Partituren an – das dauert. Zudem beschäftigt er sich bereits mit anderen Stücken und hat eigentlich keine Zeit, das Streichquartett für den Druck oder gar eine Uraufführung vorzubereiten. 1955 werden schließlich die Sätze Ia, Ib und II vom Marschner Quartett in Donaueschingen uraufgeführt. Zum 60. Geburtstag des Komponisten sind 1985 zum ersten Mal alle im Druck erschienen Sätze zusammen zu hören, aufgeführt vom Arditti Quartet. Die Vervollständigung des „Livre” gehört zu den Projekten, die Irvine Arditti über Jahre hinweg verfolgt; sie findet nun durch Philippe Manoury und Jean-Louis Leleu 2018 ein glückliches Ende. Als eine Geschichte über Herausforderungen, Spurensuche und geklaute Koffer schildert Philippe Manoury die Arbeit als musikalischer Rekonstrukteur:
Alles begann mit einem Anruf von Irvine Arditti, der mich fragte, ob ich den vierten Satz von Pierre Boulez‘ Livre pour quatuor (1948/49 komponiert) vervollständigen könnte. Daniel Barenboim hatte er bereits um die Uraufführung im Pierre Boulez Saal in Berlin gebeten. Ich antwortete, dass ich mich mit der Sache genauer beschäftigen müsse um einschätzen zu können, welcher Aufgabe ich mich stellen würde. Boulez hatte sicher seine Gründe, das Projekt nicht weiter zu verfolgen. Seine Gedankengänge und Arbeitsschritte nachzuvollziehen war keine ganz einfache Aufgabe.
Zunächst hatte ich Zugang zu einer mit Füller geschriebenen Partitur. Ein beeindruckendes, dicht beschriebenes Dokument. Auf großen Seiten hatte Boulez einen ersten Entwurf erarbeitet, bestehend aus kompakten Blöcken, die aussahen, als seien sie aus dichtem, unbearbeitetem mineralischen Material. Die vielen Elemente, auf engem Raum gedrängt, sich zum Teil überlappend, ließen mich an Gemälde von Jackson Pollock oder Gerhard Richter denken. Irvine Arditti hatte mich gewarnt: Es gab keine Angaben zu Tempo, Nuancen, Phrasierung, nur Tonhöhen und Rhythmen. Die letzteren waren „unspielbar“ und so war klar, dass erst das bereits Vorhandene in einen spielbaren Zustand gebracht werden musste, bevor überhaupt eine Vervollständigung möglich war. Das Streichquartett entstand etwa zeitgleich mit der Zweiten Klaviersonate, die ich sehr gut kenne, und ich entdeckte hier und da Gemeinsamkeiten. Da ich Boulez‘ Vorliebe für komplexe Ableitungen kannte, war mir schnell bewusst, dass ich eine Reihe von Quellen konsultieren muss um der Sache auf die Spur zu kommen und herauszufinden, wie er zu seinem Material gekommen war. Eine Frage ging mir nicht aus dem Kopf: Wie kann man so viel Musik schreiben ohne die kleinste Angabe zu Tempo, Dynamik, zum Ausdruck im Allgemeinen zu machen? Diese ungeklärte Frage brachte mich zu der Einsicht, dass in diesem Fall meine Intuition keine große Hilfe sein würde. Schließlich reizte mich allerdings das Projekt durch seine schiere Komplexität, und ich rief Irvine Arditti an und sagte ihm, dass ich die Herausforderung annehme.
Ich bat daraufhin Robert Piencikowski um Rat, der als großer Boulez-Spezialist lange bei der Paul Sacher Stiftung in Basel gearbeitet hat, wo die Skizzen und Manuskripte aufbewahrt werden. Er riet mir, den Musikwissenschaftler Jean-Louis Leleu zu kontaktieren, der bereits eine sehr gründliche Studie über das Livre pour quatuor durchgeführt und gerade ein Buch veröffentlicht habe, das die von mir gesuchten Informationen enthalte. Was ich tat. Im Laufe meiner Diskussionen mit Jean-Louis Leleu wurde klar, dass das Vorhaben noch komplexer war, als ich es mir vorgestellt hatte. Dieser vierte Satz – ich begann ihn jetzt wahrzunehmen – war aus den Trümmern der anderen Sätze dieses Quartetts aufgebaut. Ich musste also die anderen Sätze untersuchen, um seinen Sinn zu erfassen. Um ein Beispiel zu geben: Ich musste wissen, dass eine bestimmte Passage dieses Satzes vom Ende des ersten Satzes stammt, aber in einer rhythmischen Umkehrung und mit umgekehrten Instrumentalteilen auftrat. Mir erschien immer mehr, dass Boulez‘ Kompositionsweise zu dieser Zeit den Techniken der Tonbandmontage entlehnt war, die er auf das Schreiben von Musik übertrug. Pierre Boulez würde bald einen hitzigen Aufenthalt in Pierre Schaeffers Experimentalclub verbringen, wo man Tonbänder in Schnipsel schnitt, um sie in einer anderen Reihenfolge wieder aneinanderzukleben. Ein Club, dessen Tür er schnell hinter sich zudonnern und den er als „Flohmarkt der Klänge“ bezeichnen würde. Nichtsdestotrotz gibt es hier eine Annäherung – nicht in der Praxis, aber in der Theorie – zwischen den von Boulez verwendeten Schreibmethoden und jenen Schnitttechniken. Dies ist auch der Grund, warum diese Partitur unspielbar blieb.
Ich kämpfte mich Stück für Stück voran durch das Labyrinth dieses „musikalischen Dschungels“ und begann mit der Rekonstruktionsarbeit, immer gut beraten durch die Erkenntnisse, die Jean-Louis Leleu mit mir teilte und ohne die ich nicht in der Lage gewesen wäre, diese Arbeit in so kurzer Zeit zu bewältigen. Ich hatte ungefähr ein Drittel des Satzes fertig, als mir während einer Zugfahrt mein Koffer mit meinem Manuskript gestohlen wurde. Ich war am Boden zerstört. Fast zwei Monate Arbeit waren für die Katz. Ich musste unbedingt eine Lösung finden, das Verlorene wiederherzustellen, und von all den Ideen, die ich in Betracht zog, brachte eine zu meiner großen Überraschung DIE Lösung. Ich musste alle Skizzen dieses Satzes anschauen! Ich wusste von Leleu, dass es eine Partitur gab, die Boulez selbst geschrieben hatte, um den Satz spielbar zu machen. Ich beschloss, einen Tag in der Sacher-Stiftung zu verbringen, um die Skizzen und Manuskripte dieses Satzes zu studieren. Mir wurde alles gezeigt, was existierte, und zu meiner großen Freude stieß ich schließlich auf die berüchtigte Partitur – die aber leider unvollständig ist! Boulez hatte (vielleicht 1951, laut Leleu) mit der Aufgabe begonnen, an der auch ich gearbeitet hatte, und – Ironie des Schicksals – sie genau dort abgebrochen, wo ich angelangt war, als mein Manuskript gestohlen wurde! Ich konnte also von dort aus weitermachen und diese erste Aufgabe abschließen.
Offen war noch die Frage der Tempi, der Dynamik und Phrasierung. Ich schlug Jean-Louis Leleu vor, dass er die Tempi bestimmen sollte, weil er den Ursprung jedes Elementes dieses Satzes kannte und sich deshalb vorstellen konnte, wie man die damit verbundenen Tempi einrichten sollte. Ich habe dann die Dynamik im Sinne einer polyphonen Klarheit gestaltet, um verschiedene Schichten voneinander unterscheidbar zu machen. Die Intuition hat sich doch noch in dieses Werk hineingeschlichen, ist es doch in der Musik unmöglich, rein durch logisches Schlussfolgern vorzugehen.
Ist diese Rekonstruktion nun so geraten, dass sie Boulez gefallen hätte? Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die er mir gegenüber bezüglich Friedrich Cerhas Orchestrierung von Alban Bergs drittem Akt der Lulu machte, eine Orchestrierung, die er manchmal als zu respektvoll den Quellen gegenüber ansah.
So wie ich Pierre Boulez kannte, darf ich hoffen, dass er es doch eher geschätzt hätte, auf welche Weise ich es ihm gegenüber an Respekt fehlen ließ!
Philippe Manoury, März 2018