Seit fast drei Jahrzehnten ist Lukas Ligeti mit seinem Ansatz der experimentellen interkulturelle Zusammenarbeit in verschiedenen afrikanischen Ländern als Musiker und Komponist aktiv und sucht nach Wegen, Kreativität zu teilen. Seine Expertise und Vernetzung machten ihn jetzt einmal mehr zum Brückenbauer. Im Interview spricht er im Vorfeld der Veranstaltung von Erfahrungen, Zielen und Hoffnungen als Kurator der World New Music Days 2023.
Was ist die ISCM, und was sind die World New Music Days?
Die Internationale Gesellschaft für zeitgenössische Musik oder International Society for Contemporary Music (ISCM) ist das weltweit führende Netzwerk von Organisationen, die sich für neue Konzertmusik (neue Kunstmusik) einsetzen. Sie wurde 1922 in Österreich von 24 der bedeutendsten Komponist:innen der damaligen Zeit, darunter Anton Webern, Béla Bartók, Paul Hindemith, Egon Wellesz und Ethel Smyth, gegründet und hat heute rund 60 Mitgliedsorganisationen in mehr als 50 Ländern der Welt. Ihr Aushängeschild ist ein jährliches Festival für neue Musik, die World New Music Days, das erstmals 1923 stattfand und jedes Jahr in ein anderes Land wandert. Wenn wir uns die ISCM also als die Vereinten Nationen der Neuen Musik vorstellen, sind die WNMD die UN-Generalversammlung.
Die WNMD-Ausgabe 2023, die das hundertjährige Bestehen des Festivals feiert, wird in Südafrika stattfinden, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. Sie sind der künstlerische Leiter. Wie kam es zu all dem?
Ich gehöre dem Vorstand von NewMusicSA an, einer kleinen Organisation, die um das Jahr 2000 von dem südafrikanischen Komponisten Michael Blake gegründet wurde und deren Aufgabe es ist, neue Musik aus und in Südafrika zu unterstützen und zu fördern. NewMusicSA ist auch die südafrikanische Zweigorganisation der ISCM und die einzige ISCM-Mitgliedsorganisation in Afrika. Vor einiger Zeit wurde ich vom Exekutivkomitee der ISCM auf die Möglichkeit angesprochen, dass NewMusicSA die Hundertjahrfeier der WNMD ausrichtet. Die ISCM stellte fest, dass sie noch nie ein Festival in Afrika veranstaltet hatte und dass Afrika unter ihren Mitgliedern unterrepräsentiert ist. Daher wollte sie sich stärker für Afrika engagieren und Komponist:innen von hier stärker einbeziehen. Sie baten mich, die künstlerische Leitung zu übernehmen, da ich als experimenteller Musiker, der an innovativen Projekten mit Musikern aus ganz Afrika arbeitet und gleichermaßen im Musikleben Europas, Amerikas und Afrikas verwurzelt ist, einen ungewöhnlichen Status habe. Anfangs war ich skeptisch, sowohl was die Fähigkeit der NMSA zur Ausrichtung des Festivals als auch was die Notwendigkeit betraf, dass ich die künstlerische Leitung dieser Ausgabe des WNMD übernehmen sollte, aber der Exekutivausschuss überzeugte mich und ich erkannte, dass dies eine große Chance für die neue Musik in Afrika ist.
Sie stammen ursprünglich nicht aus Südafrika. Was ist Ihre Verbindung zu Südafrika und zu Afrika im Allgemeinen?
Ich bin in Österreich aufgewachsen, und obwohl ich der Sohn eines großen Komponisten bin (dessen Karriere übrigens durch eine sehr erfolgreiche Aufführung eines seiner Werke bei der WNMD 1960 in Köln in Gang gebracht wurde), hatte ich einen späten Start in die Musik. Doch dann kam ich durch eine Reihe von Zufällen schnell mit afrikanischer Musik in Berührung. Fasziniert von dem, was ich hörte, entwickelte ich meine künstlerische Stimme und versuchte, originelle und unabhängige Antworten auf afrikanische Musikkonzepte zu finden. Das führte zu einer Einladung des Goethe-Instituts, mit Musikern an der Elfenbeinküste zu arbeiten. Diese erste Reise nach Afrika vor fast 30 Jahren führte zur Gründung von Beta Foly, einem experimentellen interkulturellen Ensemble in der Elfenbeinküste. Meine jetzige Band, Burkina Electric, ist daraus hervorgegangen. Diese Erfahrungen brachten mich dazu, einen Ansatz für gemeinsame Kreativität zu entwickeln, den ich als experimentelle interkulturelle Zusammenarbeit bezeichne, und im Laufe der Jahre hatte ich die Gelegenheit, in Ländern wie Ägypten, Ghana, Uganda, Kenia, Simbabwe, Lesotho und Mosambik zu arbeiten. 1997 besuchte ich Johannesburg zum ersten Mal auf einer Konzerttournee, und 2005 wurde ich eingeladen, auf dem Unyazi Electronic Music Festival aufzutreten, das von der NMSA organisiert wurde und das sich als ein großer Meilenstein erwies (zu den weiteren Künstlern gehörten Pauline Oliveros, George Lewis, Halim el-Dabh, Francisco López und viele andere). Dies wiederum führte zu einer Einladung der University of the Witwatersrand, als Composer-in-Residence nach Johannesburg zurückzukommen. Ich kehrte immer wieder zurück und lernte schließlich meine Frau in Johannesburg kennen, promovierte an der Wits, habe seit 2012 ein Haus in der Stadt und bin derzeit außerordentlicher Professor an der Universität von Pretoria.
Worauf legen Sie bei der Programmgestaltung des Festivals den Schwerpunkt?
Das Festival besteht aus drei Komponenten bzw. programmatischen Säulen. Die erste entspricht dem Grundprinzip der ISCM World New Music Days: Mindestens eine Komposition, die von jeder Chapter-Organisation eingesandt wurde, wird aufgeführt. Das ist schon eine Menge – mehr als 60 Werke, ausgewählt aus mehr als 350 Einsendungen durch eine von mir zusammengestellte 15köpfige Jury aus ganz Afrika. In der 100-jährigen Geschichte der WNMD ist dies das erste Mal, dass eine afrikanische Jury die Werke auswählt, die unter der Schirmherrschaft der ISCM aufgeführt werden sollen. Und natürlich repräsentieren diese Werke, darunter mehrere Uraufführungen, eine große Vielfalt aktueller Kompositionstrends weltweit. An dem Festival werden Delegierte der meisten dieser Mitgliedsorganisationen sowie viele der Komponist:innen teilnehmen.
Die zweite Komponente basiert auf der Erkenntnis, dass das WNMD in den letzten 100 Jahren eines der wichtigsten, wenn nicht sogar das wichtigste Festival für zeitgenössische Komposition weltweit war, so dass viele der wegweisenden Werke des 20. und 21. Jahrhunderts dort aufgeführt wurden. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums präsentieren wir eine kleine Retrospektive einiger dieser Highlights. Fast keines dieser Werke wurde bisher in Afrika aufgeführt, so dass dies dem Publikum vor Ort eine Gelegenheit bietet, einen Teil der Musikgeschichte zu hören, dem sie normalerweise nicht ausgesetzt sind.
Die dritte Komponente schließlich ist das, was dieses Festival meiner Meinung nach einzigartig macht: Wir werden einen sehr vielfältigen und eklektischen Überblick über neue, experimentelle, unkonventionelle Musik präsentieren, die derzeit in Afrika und in Verbindung mit Afrika gemacht wird. Und das halte ich für sehr wichtig, denn Afrika wird oft als Ort musikalischer Innovation übersehen. In Wirklichkeit gibt es eine Menge höchst origineller und ungewöhnlicher Musik, die von diesem Kontinent ausgeht. Aber kein Festival hat bisher diese Musik umfassend präsentiert. Und genau das tun wir jetzt.
Im Vorfeld dieses Festivals haben wir das Oluzayo African Music Futures Festival organisiert, das Anfang Juni in Köln, Deutschland, in Zusammenarbeit mit African Futures, einer großen akademischen Konferenz zu afrikanischen Themen, stattfand. Dieses Festival wurde gemeinsam von dem Kölner Konzertveranstalter Thomas Gläßer, dem südafrikanischen Sänger und Elektronikmusiker Nonku Phiri, dem kenianischen Klangkünstler Kmru (Joseph Kamaru), dem spanischen DJ und Kulturprojektmanager Ignacio Priego und mir kuratiert. Wir präsentierten eine breite Palette zukunftsweisender afrikanischer Musik, die mit Mitteln von traditionellen Instrumenten bis hin zu selbstgebauter Elektronik realisiert wurde. Außerdem haben wir vier neue Werke in Auftrag gegeben, die sich auf kreative Weise mit afrikanischen Musiktheorien und -praktiken auseinandersetzen; diese wurden vom führenden deutschen Ensemble für Neue Musik, dem Ensemble Modern, uraufgeführt. Die Komponisten, die wir in Auftrag gegeben haben, wurden im Rahmen eines Aufrufs zur Einreichung von Projektvorschlägen ausgewählt, für den wir mehr als 120 Bewerbungen erhielten, davon etwa die Hälfte aus Afrika und die andere Hälfte aus allen anderen Teilen der Welt. Oluzayo, einschließlich des Konzerts mit dem Ensemble Modern, wird im Rahmen des Afrika-Schwerpunkts des WNMD in Südafrika wiederholt werden.
Ich muss erwähnen, dass wir zwar Musik aus weiten Teilen des Kontinents vorstellen, uns aber auf die Regionen südlich der Sahara beschränken. Nordafrika steht dem Nahen Osten, der arabischen Welt, kulturell näher und ist nicht Teil unseres Programms, da es sonst einfach zu viel geworden wäre. Es ist an der Zeit, dass Afrika seinen Platz am Tisch des globalen Diskurses über neue und experimentelle Musik einnimmt. Mit diesem Festival sagt Afrika südlich der Sahara: Wir sind angekommen, auch wir tragen einen Teil zur neuen Musik der Welt bei.
Was macht besonders Spaß und was sind die Herausforderungen bei der Organisation eines solchen Festivals, speziell in Südafrika?
Ein solches Festival zu programmieren, erfordert sehr viel Recherche, und ich bin mit viel Musik in Kontakt gekommen, die ich vorher nicht kannte. Ich hatte zwar schon einen ziemlich guten Überblick, da ich schon lange in verschiedenen Teilen des Kontinents gearbeitet habe, aber es gibt immer wieder neue Inspirationen zu entdecken! Es ist auch eine große Freude, mit meinem Organisationsteam zu arbeiten. Die Arbeit mit ihnen allen ist angenehm, und ich lerne dabei viel.
Südafrika ist definitiv ein schwieriger Veranstaltungsort, nicht zuletzt, weil in diesem Land noch nie ein vergleichbares Festival für neue Musik stattgefunden hat – das bereits erwähnte Unyazi Festival von 2005 kam dem noch am nächsten, war aber kleiner und hatte einen engeren Fokus. Es gibt auch infrastrukturelle Herausforderungen, z. B. die häufigen Stromausfälle, die in den letzten zehn Jahren leider zum Alltag in Südafrika gehören.
Die größte Herausforderung ist das Budget. Wir haben großzügige Unterstützung von einer Reihe staatlicher Stellen in Südafrika erhalten, z. B. dem Ministerium für Sport, Kunst und Kultur, und von privaten südafrikanischen Stiftungen wie dem Oppenheimer Music Trust und der Rupert Foundation, auch von der deutschen Regierung und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen und Einzelpersonen. Aber es ist immer noch ein großer Kampf, ein so großes Festival zu finanzieren, und wir werden unsere Spendensammlung bis zur letzten Minute fortsetzen. Wir hoffen immer noch, dass sich einige Einzelpersonen genug für die Kreativität in Afrika interessieren, um uns zu unterstützen.
Wann und an welchen Veranstaltungsorten findet das Festival statt?
Das Festival läuft vom 24. November bis zum 3. Dezember 2023, wobei die Veranstaltungen im November in Johannesburg und die im Dezember in Kapstadt stattfinden. Entsprechend der Vielfalt der Musik, die wir präsentieren, nutzen wir eine breite Palette von Veranstaltungsorten. In Johannesburg beispielsweise eröffnen wird das Festival im Linder Auditorium, dem wichtigsten symphonischen Veranstaltungsort der Stadt, und gehen dann an andere schöne Orte wie das Keorapetse William Kgositsile Theatre an der Universität von Johannesburg, das Centre for the Less Good Idea, ein vom Künstler William Kentridge gegründeter Ort, und das Johannesburg Holocaust Centre. Wir veranstalten auch Clubkonzerte zu später Stunde, z. B. in Joburgs angesagtem Stadtteil Braamfontein und in der historisch bedeutenden Township Soweto. Die Veranstaltungsorte in Kapstadt sind ähnlich vielseitig und reichen von der eher touristischen Victoria & Alfred Waterfront über die Youngblood Gallery bis hin zu Museen wie der Norval Foundation. Und die Musiker:innen, die an diesen Orten auftreten, sind erfahrene Interpret.innen und Improvisator:innen aus Südafrika, anderen afrikanischen Ländern und der ganzen Welt.
Inwiefern glauben Sie, dass dieses Festival für die neue Musik, für Afrika und für die Welt wichtig ist? Wie würden Sie sich wünschen, dass der Rest der Welt neue Musik aus Afrika wahrnimmt?
Überall In ganz Afrika gibt es aufgeschlossene Musiker:innen, die mit ihren Werken Konventionen in irgendeiner Weise in Frage stellen. Aber im Gegensatz zu Europa oder Amerika oder zum Beispiel Indonesien hat Afrika keine große Tradition des bewussten musikalischen Experimentierens, was zum Teil an der starken Rolle der Gemeinschaft in der afrikanischen Musik liegt. Aber natürlich ist das Experimentieren in der afrikanischen Musik möglich und kann enorm produktiv sein, und es ist wahrscheinlich, dass viele der musikalischen Elemente, die wir heute als „traditionell“ ansehen, auf bestimmten Ideen einzelner Personen beruhen. Und seien wir ehrlich: Forschung und Entwicklung in der Musik ist nirgendwo kommerziell erfolgreich, nicht einmal in Europa, wo sie von Regierungen und großen Institutionen stark unterstützt wird. In Afrika ist institutionelle Unterstützung schwer zu bekommen, so dass Musiker:innen, die etwas Ungewöhnliches machen, oft keine Unterstützung finden.
Kulturinstitute aus anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich unterstützen zwar afrikanische Musiker:innen, aber ehrlich gesagt fördern diese Institutionen in vielen Fällen ein Bild von Afrika, das die klischeehaften Eindrücke der Menschen im Westen verstärkt. Natürlich gibt es überall Klischees, und nicht nur hat der Westen ein bestimmtes Bild von Afrika. Afrika hat auch ein bestimmtes Bild vom Westen, und obwohl solche Eindrücke meist ein Körnchen Wahrheit enthalten, sind sie insgesamt oberflächlich. Die meisten Menschen halten Afrika nicht für einen Kontinent der musikalischen Innovation, oder überhaupt jeglicher Innovation. Aber sie irren sich. Auch wenn die technologische Infrastruktur Afrikas schwach sein mag, gibt es auf dem Kontinent doch zahlreiche innovative Trends, selbst im Bereich der Technologie, wie z. B. das mobile Bankensystem M-pesa in Kenia. Und vergessen wir nicht, dass Afrika in der globalen Popmusik eine Vorreiterrolle spielt: Afrikanische Elemente, die von den Sklaven nach Amerika gebracht wurden, stehen im Zentrum von Blues, Jazz, Rock und Pop und sind so unverzichtbar, dass sie oft als selbstverständlich angesehen werden.
Unterm Strich wird also kreative, experimentelle Musik in Afrika zu wenig gefördert und ist daher in der Welt zu wenig bekannt. Und das ist eine Schande, denn die afrikanische Kultur steckt voller aufschlussreicher Konzepte, wie wir Musik schaffen, über sie nachdenken und sie hören können. Die Bedeutung dieses Festivals liegt in der einmaligen Gelegenheit, die Generalversammlung der Vereinten Nationen für Neue Musik zum ersten Mal in Afrika abzuhalten. Das afrikanische Publikum wird Musik hören, mit der es noch nie in Berührung gekommen ist. Das Publikum aus dem Rest der Welt wird Musik hören, die es noch nie gehört hat. Menschen werden sich treffen, diskutieren, Ideen austauschen, Verbindungen knüpfen. Wir bauen neue Gemeinschaften für eine globalisierte Welt der neuen Musik auf.
Wenn man über Musik in Afrika spricht, muss man sich bewusst machen, dass es sich um einen kulturell enorm vielfältigen Kontinent handelt. Selbst in einem mittelgroßen afrikanischen Land gibt es mehrere Dutzend einheimische Sprachen. In Südafrika gibt es elf offizielle Sprachen – und das sind nur die, die für politische oder geschäftliche Zwecke verwendet werden! Die Musik ist ebenso vielfältig. Wenn also Musiker:innen aus verschiedenen Teilen Afrikas zu unserem Festival kommen, bringen wir nicht nur Afrika und die Außenwelt näher zusammen, sondern fördern auch den innerafrikanischen Dialog und Austausch in großem Maße.
Also: Der Rest der Welt sollte Afrika als einen Ort der Vielfalt, der Ideen und der Komplexität sehen. Es ist ein komplizierter Kontinent, der wächst und sich neu formt. Es ist vielleicht einfacher zu sagen, wie die Welt Afrika nicht sehen sollte. Sie sollte Afrika nicht als einen Kontinent des Krieges, des Hungers und der Krankheiten sehen. Ja, diese Dinge gibt es in Afrika, aber es gibt sie auch in anderen Teilen der Welt. Sie sollte Afrika auch nicht auf eine Art und Weise sehen, die die Afrikaner oder das, was sie tun, essentialisiert. Es ist zum Beispiel nicht produktiv, Afrika als den „schwarzen Kontinent" zu sehen. Sicherlich ist die überwiegende Mehrheit der Afrikaner schwarz, aber es gibt auch wichtige nicht-schwarze Gemeinschaften – und welche Erkenntnisse über Menschen gewinnen wir letztendlich, wenn wir sie nach ihrer „Rasse“ klassifizieren? Die Hautfarbe eines Menschen sagt nichts über seine Gedanken oder seinen Charakter aus. Und so ist es auch unproduktiv, Klischees auf Afrikaner anzuwenden, wie etwa, dass sie „Rhythmus im Blut haben". Nachdem ich jahrzehntelang auf dem Kontinent gearbeitet habe, kann ich Ihnen versichern, dass es in Afrika Menschen gibt, die musikalisch begabt sind, und solche, die weniger begabt sind, genau wie überall auf der Welt. Und ich kann Ihnen ebenfalls versichern, dass die afrikanische Musik weit mehr als nur Rhythmus zu bieten hat. Es ist ein Kontinent voller Melodien, Harmonien, Klangfarben und tief empfundener musikalischer Emotionen, genau wie überall auf der Welt. Es ist also viel produktiver zu erkennen, dass wir als Menschen unser gemeinsames Raumschiff Erde teilen und viel, viel mehr gemeinsam haben als das, was uns voneinander unterscheidet. Diese Erkenntnis hilft auch, den Kulturschock abzubauen. Wir können immer Gemeinsamkeiten, eine gemeinsame Basis finden. Daher ist experimentelle Musik in Afrika nicht von vornherein kontraintuitiv, und unser Festival wird zeigen, wie musikalische Traditionen und Experimente aus Afrika und dem Rest der Welt kreativ und produktiv miteinander kommunizieren können. Wir bauen auf unseren Gemeinsamkeiten und unseren Unterschieden auf, um uns und die Welt besser zu verstehen.
Da Südafrika das Gastgeberland ist, wird es eine starke Rolle bei der Musik spielen, die auf dem Festival präsentiert wird. Wie ist der aktuelle Zustand der Musikszene in Südafrika? Im übrigen Afrika?
Südafrika ist insofern einzigartig, als es eine lebendige Vielfalt sowohl afrikanisch als auch europäisch geprägter Kulturen aufweist. So sind zum Beispiel Konzertmusik und Oper in der europäischen Tradition ebenso allgegenwärtig wie verschiedene afrikanische Musiktraditionen, die in diesem Teil des Kontinents oft chorisch sind. Das Land verfügt auch über eine sehr aktive Jazz- und eine starke Popszene, wobei verschiedene Subgenres der House-Musik besonders populär sind, was in Afrika eine Besonderheit darstellt. Im Rest des Kontinents sind die beliebtesten Tanzrhythmen lose an die Rumba angelehnt, allerdings oft in einer sehr technisierten Form. In den letzten Jahrzehnten sind die Musiker:innen in Afrika immer mutiger und experimenteller geworden. Konzeptuellere Kunstformen wie die Klangkunst haben sich nicht nur in Südafrika durchgesetzt, sondern unter anderem auch in Nigeria, einem Land, das seit kurzem die Weltbühne mit Afrobeats, einem neuen Genre der afrikanischen Popmusik, überschwemmt. Überall auf dem Kontinent, vor allem aber in Ostafrika, ist die elektronische Tanzmusik immer offener für ungewöhnliche Ausdrucksformen geworden.
Aber es gibt auch viele Probleme. Südafrika ist ein Land mit starken politischen Spannungen, und die Musikszene – selbst die Neue Musik Szene – ist davon nicht ausgenommen. Ein Grund dafür, warum dieses Festival so wichtig ist, ist dass wir alle an einen Tisch bringen. Dies ist kein Festival für eine bestimmte Clique oder Szene, sondern für alle Komponist:innen und Musiker:innen. Ganz Afrika hat mit infrastrukturellen Schwierigkeiten zu kämpfen, die auch die Musik betreffen. Der Schutz der Urheberrechte ist angesichts der weit verbreiteten Piraterie ein Problem. Auch die mangelnde Verfügbarkeit von hochwertigen Musikinstrumenten zu erschwinglichen Preisen ist ein Problem. Aber all dies behindert die Kreativität motivierter Menschen nicht, und die afrikanische Musik hat gelernt, sehr einfallsreich zu sein. Unser Festival ist ein Beispiel dafür: Die Finanzierung war nicht einfach, aber wir machen es trotzdem, so gut wir können!
Glauben Sie, dass dieses Festival einen langfristigen Einfluss auf die neue Musik, insbesondere in Südafrika, haben wird?
Wir hoffen, dass dieses Festival die Menschen ermutigt, Musik zu erfinden und aufzuführen, insbesondere neue Musik. So viele Konzerte in so kurzer Zeit zu veranstalten, bedeutet, dass wir ein ziemlich großes Publikum erreichen müssen, da nur wenige Leute drei Konzerte am Tag besuchen wollen. Und das bedeutet unweigerlich, dass wir neues Publikum gewinnen müssen, indem wir Menschen zum Besuch eines Konzerts ermutigen, die normalerweise aus geografischen oder finanziellen Gründen oder weil sie nichts von den Konzerten wissen, nicht hingehen würden. Und indem wir viele neue Leute ansprechen, hoffen wir, das Interesse an neuer Musik vor Ort zu wecken. Darüber hinaus können Künstler:innen und Publikum von den neu entstandenen Verbindungen profitieren, und wir hoffen und erwarten, dass dies zu vielen innovativen musikalischen Kooperationen und gegenseitigen Befruchtungen führen wird.
Was würden Sie Menschen sagen, die erwägen, zu diesem Festival nach Südafrika zu reisen?
Der späte Frühling ist eine wunderschöne Zeit in Südafrika. Das Wetter ist mild, und vielleicht blühen die Jacarandas dann noch. Es ist ein Land mit wunderbaren Landschaften und einer äußerst interessanten, kosmopolitischen Kultur. Johannesburg ist eine der größten Städte Afrikas, mit der kulturellen Lebendigkeit des Kontinents und der Infrastruktur einer amerikanischen Großstadt. Kapstadt ist ein Ort von unvergleichlicher natürlicher Schönheit und hat mehr britisch-koloniales Flair als der Rest des Landes. Überall in Südafrika gibt es hervorragendes Essen und Wein, und vor allem sind die Menschen äußerst freundlich und aufgeschlossen. Die Sicherheit ist ein Thema, aber wenn man ein wenig vernünftige Wachsamkeit an den Tag legt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass man Probleme bekommt. Die Konzertorte, an denen wir auftreten werden, sind erstklassig, und es wird ein besonderes Abenteuer sein, sich in einem kulturellen Umfeld zu bewegen, das gleichzeitig westlich und afrikanisch ist, und zu sehen, wohin dies künstlerisch führen kann. Eine einzigartige Gelegenheit, ein einzigartiges Musikprogramm in einer einzigartigen Umgebung zu erleben!
Lukas Ligeti, 8/2023
Übersetzung: Nina Rohlfs