Zwar gibt es kurz vor seinem 88. Geburtstag eine Terminhäufung in Friedrich Cerhas
Kalender, dies dürfte dem Beinahe-Jubilar in diesem Falle allerdings
recht gelegen kommen: Die beiden anstehenden Uraufführungen finden
nämlich nur gut 150 km Luftlinie und weniger als anderthalb Zugstunden
entfernt voneinander statt. An der Alten Oper Frankfurt hebt das
hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada, der mit dem Konzert
seine Visitenkarte als designierter Chefdirigent des Orchesters abgibt,
am 6. Februar 2014 Tagebuch aus der Taufe. Tags darauf sind an der
Kölner Philharmonie die Orchesterstücke erstmals zu hören, interpretiert vom WDR
Sinfonieorchester unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste.
Seit Ende der 50er Jahre prägte Friedrich Cerha in seiner Heimat
Österreich die Musikwelt durch seine Kompositionen ebenso wie durch
seine Arbeit als Dirigent und Mitbegründer des Ensembles die reihe. In
seinem Heimatland gilt er deshalb schon lange als Doyen der Neuen Musik.
Im Ausland war er währenddessen in erster Linie für die kongeniale
Fertigstellung von Alban Bergs Oper Lulu bekannt. Die internationale
Wahrnehmung dieses großen Komponisten hat sich allerdings in der letzten
Dekade durch ein beeindruckendes Spätwerk komplett gewandelt.
Orchesterwerke wie Instants (WDR Symphonieorchester), (BBC
Philharmonic Orchestra) und (ORF Radio Symphonieorchester), Solokonzerte
wie das (Martin Grubinger, Mozarteumorchester Salzburg) und seine 2013
am Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz in Zusammenarbeit mit der
Volksoper Wien uraufgeführte Oper zeugen von ungeheurer Schaffenskraft.
Gekrönt wurde Cerhas internationaler Erfolg 2012 durch die Verleihung
des Ernst von Siemens Musikpreises.
In diesem Zuge hat auch eine jüngere Generation von Musikern seine
älteren Werke für sich entdeckt. Geradezu euphorisch äußern sich
Komponistenkollegen wie Johannes Maria Staud über den Orchesterzyklus Spiegel:
„Was mich heute nach wie vor verblüfft, ist, wie frisch und
unverbraucht, visionär und mitreißend diese Musik rund fünfzig Jahre
nach ihrer Entstehung noch immer klingt. Die kompositorische
Kompromisslosigkeit und Ökonomie, die Innovation in Notation und
Orchestration gehen einher mit einem unglaublichen Reichtum an zarten
und irisierenden, sich zusammenballenden und eruptiven, bizarren und
unvergesslichen Momenten.“ Elena Mendoza lernte das Werk erst durch die
bei KAIROS erschienene Gesamteinspielung kennen. In ihrer Begeisterung
für dieses Werk bedauert sie, es erst so spät entdeckt zu haben, denn
ihre kompositorische Entwicklung wäre ansonsten wohl anders verlaufen.
Dass er in seinem hohen Alter Jahr für Jahr zuverlässig ein Werk nach
dem anderen zu seinem Oeuvre fügt, hat Friedrich Cerha oft mit der ihm
eigenen sanften Ironie kommentiert. So manches Mal mögen die Besucher
seiner Uraufführungen schon vermutet haben, sie hörten nun das alles
resümierende letzte große Werk. Die Orchesterstücke bieten nun
wieder Anlass dazu, bezieht sich Cerha in ihnen doch explizit auf den
Lebenskreis: „2006 war ich 80; ein Alter, in dem man sich gedrängt
fühlt, nachzudenken, wie sich die Welt während eines langen Lebens
gewandelt hat, wie sie einen selbst verändert hat und wie man sie im
Verlauf seines Lebens anders sieht. Ich hatte die Vorstellung von drei
Orchesterstücken im Kopf, die mit diesen Gedanken zusammenhängen“,
erklärt er zur Entstehung des Werkes.
Ausgangspunkt war die Berceuse céleste, die bereits 2008 vom
RSO Stuttgart unter Leitung von Eliahu Inbal uraufgeführt wurde. Dieses
erste der bezeichnet er als „frei von bedrückender Erdenschwere; es hat
etwas von kindlicher Naivität, von einem Sein, in dem alles Erleben erst
beginnt, das noch nicht urteilt, noch nicht scheidet in Kategorien von
Werten“. Zwischen diesem Wiegenlied und dem Tombeau überschriebenen
Stück, das sich mit dem Wandel zum Tod hin beschäftigt, liegt ein Stück
voller Bewegtheit, Brüche, Erschütterungen, von Cerha „ungeachtet seiner
Dauer ein wenig satirisch genannt“.
Wer die Gelegenheit hat, gleich beide Uraufführungen zu besuchen, bekommt mit Tagebuch ein den Orchesterstücken
verwandtes Werk zu hören, das kurz nach deren Vollendung entstand. Als
„durchsichtig im Satz und leicht fasslich“ beschreibt Friedrich Cerha
diese kurzen Stücke. „Tagebuch heißt die Komposition, weil fast jedes Stück an
einem Tag entstanden ist“, erläutert er.
Nina Rohlfs, 02/2014