Als Komponist, Dirigent und Lehrer sowie als Gründer und musikalischer Leiter mehrerer Orchester hat Noam Sheriff wie kaum ein anderer das Musikleben Israels geprägt. Am 25. August 2018 ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Auf dem Weg zur Beisetzung in Tel Aviv sprach der Dirigent Steven Sloane mit Karsten Witt über seine Erinnerungen an den großen Künstler, der für viele Jahrzehnte der wichtigste Mentor israelischer Dirigenten der nachfolgenden Generationen war.
Karsten Witt: Steven, Du warst Noam Sheriff seit langem eng verbunden. Wann fand Eure erste Begegnung statt?
Steven Sloane: Ich kannte ihn fast vom ersten Moment an, als ich in Israel ankam, das war 1981. Das Konservatorium in Tel Aviv gab mir damals die Chance, einen Jugendchor aufzubauen, und kurze Zeit später wurde ich von der Stadt Tel Aviv mit der Gründung eines Jugendorchesters betraut. Noam war Direktionsmitglied des Konservatoriums und kam zu meiner allerersten Probe. Von diesem Tag an stand er mir nahe – er war wie ein Mentor für mich, sogar wie ein Vater oder Bruder. Natürlich trifft der Verlust vor allem seine Familie, seine Frau Ella und seine Söhne. Es fühlt sich wie das Ende einer Ära an, für die Noam stand, wenn man bedenkt, was er für die Musikszene bedeutete. Jemanden wie ihn gibt es wirklich kein zweites Mal.
Er wurde 1935 geboren, war bei Gründung des Staates Israel also 13 Jahre alt. Nachdem er in Berlin studiert hatte, kehrte er nach Israel zurück…
Er war Kompositionsschüler von Boris Blacher an der Hochschule der Künste, der heutigen Universität der Künste. Nach seiner Rückkehr formte er, gemeinsam mit Gary Bertini und anderen wichtigen Musikern, das israelische Musikleben der 50er Jahre und der folgenden Jahrzehnte.
Du hast viele seiner Werke häufiger zur Aufführung gebracht, einschließlich großer Werke wie Akeda, Mechaye Hametim (Auferweckung der Toten) oder die Sephardische Passion. Auch wenn man sie nur vom Hören kennt, spürt man gleich, dass es sich um israelische Musik handelt. Kannst Du erklären, was diese Musik so wichtig für Israel macht?
Noam ist, wenn nicht der letzte, so doch einer der letzten Repräsentanten des sogenannten „mediterranen Stils”. Man stelle sich die massenhafte Einwanderung von Juden aus zwei verschiedenen Kulturen, der aschkenasischen und der sephardischen, in den 30er und 40er Jahren und der Nachkriegszeit vor. Ganz bewusst versuchte man damals, eine neue israelische Musik zu schaffen, die auf der Synthese der beiden Traditionen beruhte. Es gibt hier also europäische Instrumente, das Orchester, das der westlichen Tradition entspringt, kombiniert mit Motiven, Tonleitern und Harmonien, die mit der sephardischen Tradition, der arabischen und spanischen Linie, verknüpft sind. Ich denke an Paul Ben-Haim, der Noams Lehrer war, über Mordecai Seter, Ödön Pártos und eine Reihe anderer Komponisten. In vielen Kompositionen von Noam Sheriff hört man diese Suche nach einem neuen israelischen Stil – manchmal auch durch den Gebrauch arabischer Instrumente wie der Oud oder durch Sängerinnen und Sänger, die in Sprachen wie Ladino, Arabisch oder Ivrit singen und in ganz anderen vokalen Stilen, als man sie aus westlichen Kulturen kennt. Aber andererseits ist die Wurzel von Noams Schaffen natürlich seine tiefe Verbindung zur westlichen Musik – er ist ein europäischer Komponist. Er war fasziniert vom frühen 20. Jahrhundert, von Ravel, Debussy, Strawinsky, Mahler, auch Strauss, und das spiegelt sich in seiner Musik. Was sein Werk außerdem ausmacht ist seine absolute Meisterschaft der Orchestrierung, sein Wissen um Farben, sein Verständnis der Möglichkeiten jedes Orchesterinstrumentes – darin übertraf er jeden anderen israelischen Komponisten.
Dieses enorme Wissen teilte er natürlich auch in seiner Arbeit mit Orchestern.
Es war äußerst interessant, ihn am Pult zu erleben – wie gut er Orchestern vermitteln konnte, was Musik bedeutet, vor allem die, an der er gerade arbeitete. Später in seinem Leben wurde es wegen seines schwindenden Augenlichtes immer schwieriger für ihn, zurechtzukommen und an Partituren zu arbeiten. Aber ich erinnere mich gut an das letzte Mal, als er als Gastdirigent nach Bochum kam: Er machte Schönbergs Verklärte Nacht und lernte dafür die ganze Partitur auswendig – jede Note, alle Probenziffern – so dass er, obwohl er kaum noch sah, ohne Einschränkungen dirigieren konnte.
War er in seinen letzten Lebensjahren noch imstande zu komponieren?
Er hatte immer noch Pläne für neue Werke. Noch vor Kurzem schrieb er ein kurzes Stück mit dem Titel Lenny, eine Art Collage, die durchaus humorvoll Leonard Bernsteins Werke in den Blick nimmt. Ich dirigiere das Stück in Bochum und dann in San Diego, in Gedenkkonzerten für Leonard Bernstein, der ein geschätzter Kollege und enger Freund von Noam Sheriff war. Er starb an Leonard Bernsteins 100. Geburtstag.
Vielen Dank für dieses Gespräch – es ist sehr berührend zu hören, was Noam Sheriff für Dich und viele andere bedeutete.
Was mich an Noam immer wieder verblüffte war sein unerschöpflicher Optimismus und seine unendliche Neugier. Selbst neulich noch führten wir eine hitzige Debatte über Mahlers 4. Sinfonie. Er lebte für die Musik, und er war voller Liebe für die Menschen, voller positiver Energien. Sicher war er der wichtigste Lehrer für alle Dirigenten, die Israel hervorgebracht hat. Das verraten auch die Kommentare, die nun in den sozialen Medien zu lesen sind. Ein israelischer Dirigent nach dem anderen würdigt ihn dort ausführlich und beschreibt, wie viel Noam ihm persönlich als Musiker bedeutete. Es gibt ein Wort auf Hebräisch, Nedivut – das bezeichnet jemanden, der bedingslos gibt. Und das war Noam. Noam hat unermüdlich anderen Menschen geholfen, wann immer er konnte.
Interview: Karsten Witt
Übersetzung: Nina Rohlfs
August 2018