Beim Festival d’Aix-en-Provence ist 2021 ein Werk zur Uraufführung gekommen, das seinen Komponisten Samir Odeh-Tamimi seit Jahren beschäftigt.
The Arab Apocalypse
nach dem Gedichtzyklus L’Apocalypse Arabe
von Etel Adnan wurde am 4. Juli 2021 in einer Inszenierung von Pierre Audi aus der Taufe gehoben. „Hier zelebriert das Ensemble Modern unter Leitung von Ilan Volkov den faszinierend zwischen raunendem Klangteppich und eruptiven Ausbrüchen, zwischen fremdartig und vertraut changierenden Orchesterklang von Samir Odeh-Tamini", so die neue musikzeitung. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: „Das alles ist einfach, sogar simpel bis zur Obsession, entfaltet in seiner Unerbittlichkeit aber tatsächlich archaische Wucht." Gesang erscheine in dem Werk „nicht als blosse Gattungskonvention, sondern als einziger möglicher Ausdruck des Humanen in höchster Not." Im Deutschlandfunk Kultur lautete das Fazit: „Hier stimmen alle Parameter.“
„Als ich Etel Adnan 2001 kennenlernte, gab sie mir das Buch, auf Arabisch und Französisch“, erklärt Samir Odeh-Tamimi. „Schon damals habe ich gedacht, dieses Werk möchte ich komponieren. Um es zu lesen und zu verstehen, habe ich Französisch gelernt. Und seitdem beschäftige ich mich fast täglich damit, obwohl ich in der Zwischenzeit viele andere Werke komponiert habe.“
Eine erste kompositorische Umsetzung von Teilen des Zyklus kam 2016 beim Klara Festival in Brüssel zur Uraufführung, eingebettet in die von Regisseur Pierre Audi entwickelte Musiktheaterfassung von Bachs Johannespassion. „Ich wusste vorher nicht, dass Pierre Audi Etel Adnan seit 30 Jahren kennt und ihr Werk außerordentlich schätzt“, erinnert sich Samir Odeh-Tamimi an eine erste Besprechung zu diesem Kompositionsauftrag. „Er reagierte enthusiastisch auf meinen Vorschlag, ihren Zyklus zu verwenden, und gab mir sofort grünes Licht.“ Man war sich schnell einig darüber, gemeinsam anschließend ein größeres Musiktheaterwerk nach Texten der Dichterin zu planen, die 1925 als Tochter einer Griechin und eines Syrers im Libanon aufwuchs, dort eine französische Schule besuchte und später zeitweise in den USA lebte.
„Ihre Art, Dinge zu schildern, zu formulieren, spricht mich sehr an. Ich finde sie extrem scharfsinnig in ihren Beobachtungen“, erklärt der Komponist. „Die Arabische Apokalypse schrieb sie zwischen 1979 und 1980 – in einem Atem, wie sie sagt. Es fasziniert mich, wie sie es schafft, in sprachlich abstrakten Bildern diese Apokalypse, damals bezogen auf den libanesischen Bürgerkrieg, zu beschreiben. Die ganze Geschichte der arabischen Welt wird in dem Buch sichtbar, in einer unglaublichen Sprache, die gleichzeitig sehr verständlich ist.“
„Faszinierend ist die Rhythmik dieses Textes“, fährt er fort. „Ihr Werk ist eigentlich schon große Musik, es ist schon komponiert.“ Das poetische Verfahren von Etel Adnan sieht Samir Odeh-Tamimi auch als Reminiszenz an ihre Mutter-Sprache Griechisch, die er deshalb ebenfalls ins Libretto einfließen ließ. „Was sie sagen will, drückt sie mit ganz einfachen Mitteln aus, die sich immer wiederholen. Dieses Reduzierte ist für mich das Griechische an ihr, das mich persönlich sehr anspricht. So ist auch die Musik von Xenakis entwickelt: Es gibt ein Element, das ständig variiert wird, aber immer seine Eigenheit behält.“
Gleichzeitig fesselt den Komponisten der Inhalt des Zyklus. „Etel Adnan geht zu den Ursprüngen, bis hin zu Gilgamesch und den Phöniziern, aber es geht nicht nur um die arabische, mesopotamische Welt, sondern um die Geschichte der Menschheit bis hin zu den Mayas und den alten Ägyptern.“ Trotzdem sei die Arabische Apokalypse kein abstraktes Werk über Geschichtliches. „Faszinierend und fast wahnsinnig finde ich, dass Etel Adnan sich in diesem Werk als Prophetin zeigt. Sie hat es Ende der 70er Jahre geschrieben, als der Bürgerkrieg im Libanon tobte. Und es ist manchmal beängstigend, wie genau sie die arabischen Zustände von heute beschreibt. Es gibt Kapitel, in denen sie über die Toten, die Massaker in Syrien spricht. Und das ist heute real. Sie schreibt über die Konflikte im Libanon, damals schon latent, und heute ist der Libanon wieder in einem Zustand, wo es jeden Moment explodieren kann. Auch die Zustände in Palästina, im Irak, in der ganzen arabischen Welt werden in diesem Werk lebendig.“
Das Prinzip der Hoffnung möchte Samir Odeh-Tamimi durch seine komponierte Apokalypse dennoch nicht ausgetilgt sehen. „Der syrische Lyriker Adonis sagt, er glaubt an die Arabische Apokalypse insofern, dass er der Meinung ist, die arabische Welt sei eine dem Untergang geweihte, eine tote Kultur. Aber das glaube ich nicht. Es wird eine neue Form geben. Der nahe Osten ist voll von Kulturschätzen, man kann überall auf der Welt Spuren davon sehen. Auch das ist meine Hoffnung: Dass der Geist dieser Kultur wiedergeboren wird. Ich weiß, dass es nach dieser Katastrophe auch wieder Blumen geben wird.“