Es ist Sarah Wegeners dritte Begegnung mit Jörg Widmanns Drittem Labyrinth: Im Februar 2015 singt die Sopranistin den Solopart in dem circa 50minütigen Stück für Stimme und großes Orchester an der Casa da Música mit dem Orquestra Sinfónica do Porto unter der Leitung von Peter Rundel. Die Uraufführung in der Kölner Philharmonie war für sie turbulent gewesen, in allerletzter Minute kamen die Noten an. „Das war sehr aufregend, denn das Stück ist wahnsinnig schwer“, erinnert sie sich im Gespräch.
„Wir hatten so wenig Zeit, dass Jörg Widmann mich angerufen hat und mit mir drei Stunden die Partitur durchgegangen ist. Wir haben wirklich am Telefon miteinander geübt.“ Lachend rekonstruiert sie die Situation: „Ich habe hiii höö gemacht, dann hat er gemeint, nee nee, mach mal ein bisschen mehr hiii hiii.“ Die Aufführung selbst war ein voller Erfolg, wenn auch mit Herzklopfen. „Es wurde auch noch live im Radio übertragen! Alles hat super geklappt, weil ich zum Glück schnell lerne und dicke Nerven habe. Und die zweite Aufführung im Concertgebouw Amsterdam mit dem Radio Filharmonisch Orkest unter Emilio Pomàrico lief dann schon entspannter ab.“
Vor dem Auftritt in Porto freut sie sich, dass nicht nur das Stück inzwischen schon fast ein alter Bekannter ist. Eine Wiederbegegnung ist auch die Zusammenarbeit mit Peter Rundel. „Ich kenne ihn durch die Uraufführung der Neufassung von Georg Friedrich Haas‘ Oper Bluthaus bei den Wiener Festwochen“, sagt sie und erzählt von weiteren Partnern, mit denen sie gern und oft zusammenarbeitet. Der Komponist Georg Friedrich Haas gehört dazu, der Dirigent, Oboist und Komponist Heinz Holliger sowie Dirigenten wie Emilio Pomárico, Michael Hofstetter oder Frieder Bernius, mit dem sie rund um Stuttgart viele Perlen des Konzert- und Oratorienrepertoires aufgeführt hat. „Uns verbindet, dass wir eigentlich immer nur an das Ergebnis denken: Die Musik steht im Vordergrund. Viele derjenigen, mit denen ich gut arbeiten kann, sind uneitel, und das würde ich über mich selbst auch sagen. Ich halte gar nichts von Konkurrenzkämpfen.“
Auch Jörg Widmann kann man seit jener Uraufführung zum Kreis der musikalischen Verbündeten zählen. Die erste Begegnung der beiden spielte sich übrigens ungeplant ab, auf dem Bahnhof in Stuttgart. Um eine Opernpartie durchzugehen, holte die Sängerin dort Georg Friedrich Haas ab. „Und er hat zufällig beim Aussteigen Jörg Widmann getroffen.“ Der wiederum freute sich, die Sängerin kennenzulernen, von der er schon viel gehört hatte und die er ohnehin für sein Labyrinth im Hinterkopf hatte.
Unbedingt wollte Jörg Widmann sie auch als Solistin für sein Werk Dunkle Saiten gewinnen. „Ich wollte das zuerst gar nicht machen, weil es viel zu hoch ist, halsbrecherisch geradezu“, erklärt Sarah Wegener. „Das Problem war dann aber, dass Jörg gesagt hat, er komponiert es für mich um; er macht alles, er will nur, dass ich es singe.“ Und laut lachend ergänzt sie: „Jetzt komme ich da nicht mehr raus.“ Das im Jahr 2000 uraufgeführte Werk, vom Komponisten selbst als ein „Exzess“ bezeichnet, bringt Sarah Wegener bei drei Konzerten im März mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Thomas Hengelbrock zu Gehör.
Dass Sarah Wegeners Konzertkalender neben solchen physisch extrem fordernden Auftritten mit neuester Musik auch reichlich klassisch-romantisches Repertoire umfasst, empfindet sie als Segen. In den ersten Monaten des neuen Jahres gehören Dvořaks Stabat Mater mit dem Collegium Vocale Gent und dem Orchestre des Champs-Élysees unter Philippe Herreweghe und Beethovens C-Dur-Messe op. 86 mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Hans-Christoph Rademann dazu. „Das ist ja der Hauptteil meiner Arbeit, das traditionelle Repertoire. Oratorium, Lied, Kammermusik. Und ich muss sagen, zum Glück habe ich diese Basis“, erklärt sie.
Dabei gebe ihr die Neue Musik auch für das klassische Repertoire immer wieder Impulse. „Wenn ich zum Beispiel eine neue Oper wie Bluthaus gesungen habe und anschließend ein Konzert mit Bach habe: Das ist dann so was von beseelt, ein richtiges Erlebnis“, erklärt sie. „Die Neue Musik öffnet das Ohr auf andere Art, zum Beispiel das Hören in die Tiefe. Wenn man danach ein Schumann-Lied singt, dann klingt es mit Sicherheit anders, geweiteter. Außerdem denkt man bei der Neuen Musik dauernd: Oh, das schaff ich nicht, das kann ich nicht – man kommt an Grenzen, übt dann und schafft es ja doch. Man springt also ständig über seinen eigenen Schatten und erlangt eine Freiheit, die man auch in der traditionellen Musik nutzen kann.“
Allerdings singe sie nicht wahllos jedes neue Werk, das ihr angeboten wird. „Die Musik muss irgendwie sinnlich sein“, findet sie, und lachend fügt sie hinzu: „Georgs Musik ist natürlich pure Sinnlichkeit.“ Georg Friedrich Haas vertraut der Sängerin seit einigen Jahren gewichtige Werke wie ATTHIS für Sopran und 8 Instrumente oder den Zyklus ...wie stille brannte das Licht sowie Hauptpartien in seinen Opern an. Kennengelernt hat der Komponist sie 2008, als Sarah Wegener bei der Pariser Uraufführung seiner Oper Melancholia als Cover für die Hauptpartie engagiert war und in einer Probe zufällig genau in dem Moment einsprang, als der Komponist in den Saal kam. „Das war der Beginn einer mittlerweile langjährigen musikalischen Freundschaft“, sagt sie. Eine Freundschaft, die sie 2015 und 2016 an zwei große Opernhäuser führt: Am Royal Opera House Covent Garden in London und an der Deutschen Oper Berlin steht ab Herbst 2015 die Uraufführung einer neuen Oper nach einem Libretto von Jon Fosse auf dem Programm. Und auch in Koma, dem komplettierenden dritten Teil von Georg Friedrich Haas‘ Operntrilogie nach Texten von Händl Klaus, wird Sarah Wegener, wie schon in den ersten Teilen Bluthaus (2011) und Thomas (2013), bei den Schwetzinger SWR Festspielen eine Hauptpartie singen.
„Es klingt vielleicht blöd, aber das passiert mir so“, erzählt die Sopranistin angesichts dieser Aussichten. „Ich versuche nichts zu erzwingen, diese großen Engagements kommen gerade von selber auf mich zu.“ Die Dinge auf sich zukommen lassen, mit großer Begeisterungsfähigkeit einem Impuls folgen, von Begegnungen inspiriert werden – auf diesen gemeinsamen Nenner kann man vielleicht den gesamten musikalischen Werdegang von Sarah Wegener bringen. Intuitiv und unbelastet von familiären Vorgaben („Meine Eltern sind beide musikalisch, nur wissen sie es nicht“) verlief schon ihre musikalische Initialzündung, im Büro des Direktors der örtlichen Musikschule. Neugierig bestaunte die kleine Sarah Wegener dort ein riesiges Instrument. Ob sie mal hören wolle, wie es klingt, fragte der Direktor. „Und dann hat er diesen Kontrabass an mich gelehnt und die tiefe E-Seite gespielt. Alles hat vibriert, und da habe ich mich verliebt.“
Heute spielt der Bass keine große Rolle mehr in Sarah Wegeners Leben: „Nur zur Erdung und zum Tönen. Ansonsten habe ich den Bass wortwörtlich nicht mehr im Griff.“ Immer noch profitiert sie allerdings von ihrer orchestralen Vergangenheit und ihrem erfolgreich absolvierten Schulmusikstudium mit dem Hauptfach Kontrabass. „Ich habe durch das Bassspiel eine tolle Basis. Es hat, genauso wie meine elf Jahre Erfahrung als Kirchenchorleiterin, allein schon das Gehör ungemein geschult. Ich höre von unten nach oben durch das ganze Orchester durch“, erklärt sie. Pudelwohl fühle sie sich deshalb auch, wenn sie, wie zuletzt bei ihren gefeierten Aufführungen von Strauss‘ Vier letzten Liedern, als Solistin mitten im Orchester steht. „Das ist mein Ding, das ist richtig toll“, schwärmt sie. „Auf der Opernbühne ist man ja weit weg vom Orchester. Bei Orchesterliedern fühle ich mich zu Hause, so mittendrin.“
Bei so viel Orchester-Begeisterung mag man sich fragen, warum Sarah Wegener überhaupt komplett umgesattelt hat und Sängerin geworden ist. „Ich weiß auch nicht, wie man das erklären kann“, sagt sie und versucht es dann doch. „Gegen Ende meines Studiums, 2002, ist mir etwas zugestoßen, das mich gezwungen hat, komplett innezuhalten. Ich konnte nichts machen, ich war fertig und blieb ungefähr ein Dreivierteljahr daheim. In dieser Zeit kam plötzlich ganz tief in mir etwas hoch, das wollte heraus, und dann habe ich auf einmal gesungen. Das habe ich vorher fast nie gemacht! Ich merkte einfach: Natürlich, ich muss doch SINGEN! Ich bin quasi die ganze Zeit einen Weg gelaufen, ohne nach links und rechts zu gucken, und dann wurde ich gezwungen, stehenzubleiben. Ich konnte mich umschauen und habe gemerkt, ja Moment, mein Weg geht ja DA lang.“
Sarah Wegener staunt selbst im Rückblick darüber, wie folgerichtig die Stationen auf diesem Weg erscheinen, wie sie nun auf ihm mit ihren prominenten musikalischen Partnern in die wichtigsten europäischen Opernhäuser und Konzertsäle hineinspaziert und nahezu jede Art von Repertoire, von ihren eigenen Lied-Rezital-Ideen bis hin zu großen neuen Orchesterwerken, zur Aufführung bringt. Man spürt, dass sie sich wohl fühlt mit diesem Erfolg. Süchtig nach ihm ist sie sicherlich nicht – höchstens nach dem Musizieren selbst. Und für diese Sucht braucht sie nicht immer die große Bühne; manchmal reichen ein paar Freunde, die sie in ihrem Wohnzimmer versammelt. „Ich habe bei mir die Tradition des Salons wiederbelebt“, sagt sie und erklärt die strengen Spielregeln für ihre Hausmusik-Treffs: „Wer übt, muss gehen. Perfektionismus steht dem Fließen im Weg. Wir musizieren deshalb möglichst fachfremd, man spielt also nicht sein Hauptinstrument. Es soll einfach Freude machen.“
Nina Rohlfs 01/2015