Das Magazin Rondo zeigt sich begeistert von der im Frühjahr 2024 beim Label NEOS erschienenen Neuaufnahme des Werkes mit seinem „unerschöpflichen Reichtum, den man nur hellwach und mit gespitzten Ohren erfassen kann“, wie es in der Rezension heißt. Das GrauSchumacher Piano Duo setze die „spieltechnisch tollkühne Radikalität“ dieser Musik „mit derart spielerisch leichter Hand um, dass man nur staunen und begeistert sein kann“, so das Fazit.
Dass dieser spielerisch leicht wirkende Umgang mit dem extrem komplexen Werk über viele Jahre gewachsen ist, wird im Gespräch mit Götz Schumacher schnell klar. „Es gibt zwei Stücke, die uns als Duo unglaublich geprägt haben, und das sind die f-Moll-Fantasie von Schubert und Mantra von Karlheinz Stockhausen“, erklärt er. „Wir haben beide Werke als ungefähr Zwanzigjährige einstudiert, und sie haben uns seither nonstop begleitet. Zu Mantra kamen wir, weil wir uns für das gesamte Repertoire interessiert haben, das Alfons und Aloys Kontarsky hinterlassen haben. Die Kontarskys haben ja die Musik nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt wie ganz wenige Interpreten und überhaupt noch nie ein Klavierduo – Komponisten wie Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio, Wolfgang Rihm haben ihretwegen Werke für Klavierduo komponiert.“
Früh ergriffen die beiden Studenten Andreas Grau und Götz Schumacher dann die Gelegenheit, intensiv mit Karlheinz Stockhausen zu arbeiten – auf eigene Initiative. „Und das heißt, nicht mal eben für einen Nachmittag zwei Stunden das Stück durchgehen, sondern es wurde mehrere Tage von morgens bis abends zehn Stunden geprobt.“ Als das Duo wenig später das Stück aufnehmen wollte – als eine der ersten Einspielungen des Duos überhaupt – baten die Beiden den Komponisten um eine zweite Zusammenarbeit. „Er kam in die Hochschule nach Köln und fragte uns, ob wir nicht einen größeren Raum hätten. Wir haben dann gleich für eine knappe Woche die Stadthalle in Solingen gemietet; das war während der Sommerpause dort möglich. Er war davon sehr beeindruckt!“
Als nachhaltig prägend beschreibt Götz Schumacher die Begegnungen mit dem Komponisten: „Ich habe das bis zum heutigen Tag noch nicht erlebt, dass ein Mensch einen Raum so ausfüllen kann. Wir waren einfach gebannt von der ersten Sekunde an. Es gab auch keine Möglichkeit zu entspannen in dieser Zeit. Seine Energie wirkte schier unendlich. Es war eine ständige Höchstkonzentration gefordert, die er aber auch mit einer großen Selbstverständlichkeit angeboten hat. Er war sehr froh, dass ein junges Ensemble sich intensiv mit Mantra beschäftigt und es ins Repertoire nehmen will.“
Ob es überhaupt jemanden gibt, der dieses Werk so oft interpretiert hat wie das GrauSchumacher Piano Duo im Anschluss an diese Begegnungen? Allein in der Saison mit den „Konzerten junger Künstler“ des Deutschen Musikrats, die sie als Wettbewerbsgewinner damals spielten, kommt das Duo auf ungefähr 20 Aufführungen. „Der Deutsche Musikrat hat ja immer die Neue Musik unterstützt, aber als wir sagten, wir wollen Mantra spielen, hat man doch einen Schrecken gekriegt und befürchtet: Das will keiner hören, das ist zu lang, zu modern...“ Das Gegenteil war jedoch der Fall: „Die Veranstalter waren begeistert, dieses Werk einmal präsentieren zu können – und zwar in kleinen Orten wie Biberach oder in Varel am Jadebusen oder in Marl. Das Publikum war fasziniert von der ersten Note an, und es war immer ein Gesprächsthema, ein Ereignis.“ Nur in einer Großstadt, in Hannover, ging das Ganze schief: „Es endete in der Presse in der Überschrift: ,Publikumsflucht im Kleinen Sendesaal’. Weil die Leute nicht wussten, was kommt, und mit so einem zirzensischen Wettbewerbsprogramm gerechnet hatten, sind sie reihenweise gegangen.“ Doch das blieb ein Einzelfall – auch international waren die jungen Pianisten mit dem Goethe Institut in Sachen Mantra unterwegs und ernteten Erfolge.
Im vergangenen Herbst hat sich die seitdem wachsende Kette der Aufführungen durch ein besonderes Konzert wieder verlängert: Als Einspringer spielte das Duo Mantra in der Elbphilharmonie. „Das war wohl etwas Einmaliges – dass man fünf Tage vorher angerufen wird, ob man Mantra übernehmen kann. Aber das ist tatsächlich kein Problem für uns.“ Zumal das Duo Mantra erst kurz zuvor erneut aufgenommen hatte. „Auch das hat bisher niemand gemacht, dieses Stück zweimal einzuspielen. Die erste Produktion haben wir nach unseren Wettbewerbserfolgen selbst in die Hand genommen, weil wir gemerkt haben: Das wird ein Stück, das uns wichtig ist und mit dem wir uns identifizieren.“
Als erste Formelkomposition ist das 1970 entstandene Werk gleichzeitig Grundstein und Paradebeispiel für die Kompositionstechnik, mit der Stockhausen fortan arbeitete und unter anderem seinen Opernzyklus Licht komponierte. Götz Schumacher erklärt: „Der Ausgangspunkt ist die Formel, das ist der festgelegte Melodieverlauf, und jedem einzelnen der 13 Töne dieser Formel ist ein eigener Charakter zugeordnet – dazu gehören die regelmäßige Repetition, der Akzent am Ende, ein Tremolo, der Akzent am Anfang, das Morsen. Das gesamte Werk basiert auf dieser Formel: Es gibt die 13 Abschnitte, die 13 Mantren, in denen die Töne nacheinander als Grundton in der Ringmodulation eingestellt werden, und es gibt jeweils einen Hauptcharakter. Hinzu kommt, dass Stockhausen alle Mantren mit immer größer werdenden Intervallen spreizen und strecken lässt. Es gibt dann Mantren, die im Oktavbereich sind und über vier Oktaven gehen, weil er alle Intervalle mit diesem großen Intervall multipliziert. So entsteht die Vielfalt an Material, das er zur Verfügung hat. Jeder Ton entstammt dabei dem Mantra. Es ist also keine Variation, sondern eine Transformation aus dem Mantra, das als Formel gleich am Anfang vorgestellt wird: Zunächst kommen vier Akkorde, in deren Intervallstruktur schon das gesamte Mantra enthalten ist, und dann wird die Formel allein von einem Klavier gespielt.“ Durch die Einstellung der Töne in der Ringmodulation ist das Mantra auf einer zusätzlichen Ebene präsent: „Die Ringmodulation funktioniert mit dem Grundton als einem unhörbaren Basiston“, erklärt Götz Schumacher. Hörbar wird dieser Basiston nur indirekt – durch die Differenz zu den erklingenden Klaviertönen, mit denen er konsonante oder dissonante Klänge erzeugt.
Nicht nur im herkömmlichen Sinne pianistisch sind die Interpreten bei diesem Werk auf der Bühne gefordert und beschäftigt, und diese äußerste Aktivität sieht auch das Publikum in jeder Aufführung. Neben den ohnehin äußerst komplexen Klavierparts stellen die Pianisten die Ringmodulatoren ein und spielen weitere Instrumente: Auf den Crotales und Woodblocks, die die Partitur vorsieht, wird ebenfalls das gesamte Mantra durchgespielt. Trotz der extremen Anforderungen und der formalen Akribie lasse das Werk Freiheit und Spielraum, so Götz Schumacher: „Die Notation, die Spielanweisungen sind unglaublich genau, und die musikalische Geste erschließt sich komplett durch den Notentext. Aber wie sie gefüllt wird, das ist eben nicht elektronisch oder maschinell. Man kann und muss jeden Takt gestalten.“ Auch darin zeige sich das unglaubliche Potential dieses Werkes: „Das Stück wirkt ja stellenweise fast improvisiert, aber es folgt einem Formplan, der strenger kaum sein kann. Dass solch ein Stück daraus werden konnte, ist eben der Musikalität und Genialität des Komponisten zu verdanken.“
Zur neuen Aufnahme der epochalen Komposition kam es, weil das SWR Experimentalstudio feststellte, dass Mantra noch nie unter Mitwirkung des Studios aufgenommen wurde – obwohl das Werk dessen Gründungsanlass war. „Um Mantra zu realisieren wurde damals die Heinrich Strobel Stiftung und das elektronische Studio gegründet, der Vorläufer des heutigen Experimentalstudios“, so Götz Schumacher. „Denn diese Live-Elektronik war eine ganz neue Geschichte, die Stockhausen entwickelt hat. Die Ringmodulatoren mussten zuerst gebaut werden, und ein 70minütiges Live-Elektronik-Werk war eine Dimension, die damals den Rahmen gesprengt hat.“
Idealer Partner der auf Wunsch des SWR Experimentalstudios entstandenen neuen Einspielung ist der Klangregisseur Michael Acker, mit dem das Duo die Erfahrung zahlreicher gemeinsamer Aufführungen verbindet. „Er ist ein sehr feiner Musiker und natürlich live-elektronisch versiert wie wenig andere. Ebenso wie wir kennt er dieses Stück in- und auswendig.“ Die langjährige gemeinsame Aufführungspraxis bedeutet in diesem Fall auch die stetige Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten bis hin ins Digitale. „Man könnte natürlich auch eine sozusagen historisch informierte Aufführung machen und die Geräte aus der Entstehungszeit des Werkes nehmen, aber das wäre in diesem Falle tatsächlich ein großer Verlust und auch nicht im Sinne Stockhausens“, erläutert Götz Schumacher. „Die Ästhetik von damals hat ja etwas 'Trashiges', weil der Klang sehr geräuschhaft ist. Das war aber eine technische Notlösung und ist der damaligen ersten Generation von Ringmodulatoren geschuldet. Inzwischen sind die Intervalle, die durch die Differenz der verschiedenen Frequenzen entstehen, klar zu hören und nicht mehr nur als Kratzen und Scheppern. Ich war von Anfang an bei jeder Weiterentwicklung froh und glücklich und habe das Stück besser verstanden. Denn gerade dieser Idee der neuen Tonalität, diese Grundtonbezogenheit, die durch die Ringmodulation neu definiert wird, der kann man jetzt wirklich hörend folgen.“
Während der 100. Geburtstag des Komponisten im Jahr 2028 langsam am Horizont aufscheint, gibt es also durchaus vielfältige Gründe, Stockhausens erste Formelkomposition neu zu hören– womöglich sogar im programmatischen Kontext mit zwischenzeitlich entstandenen Werken, die ohne Mantra nicht denkbar wären. Der Komponist Philippe Manoury beispielsweise beschreibt die Begegnung mit Mantra als wegweisend für sein gesamtes musikalisches Denken, und sein Werk Le temps, mode d’emploi, 2014 vom GrauSchumacher Piano Duo uraufgeführt und vor fünf Jahren – ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio – auf CD veröffentlicht, lässt interessante Hörbezüge zu.
Vor allem aber kann man heute die Radikalität des Werks anders entdecken, die im Lichte der Entstehungszeit von Mantra noch als Konfrontation, als Widerspruch erscheinen musste: „Man stelle sich mal Deutschland in den 60er Jahren vor. Im angelsächsischen Raum war Stockhausen eine Art Popstar, aber hier war er primär Opposition. Was gar nicht in seiner Natur steckte, aber in der Situation einfach nicht anders möglich war“, sagt Götz Schumacher. Erst mit zeitlichem Abstand lässt sich erkennen, dass Stockhausen keineswegs geschrieben hat, um zu provozieren. „Das hat ihn überhaupt nicht interessiert“, bestätigt Götz Schumacher. „Er war einfach immer auf dem Weg zum Sirius. Er hatte dieses Sendungsbewusstsein und diese Sicherheit, dass es das Richtige und etwas ganz Großes ist, was da entsteht. Aber die Interpreten waren natürlich alle Kinder ihrer Zeit, wenn man zum Beispiel jemanden wie Christoph Caskel am Schlagzeug sieht. Wie man mit dem Instrumentarium umgegangen ist – jede Bewegung wurde da beäugt. Inzwischen wird einfach zugehört. Und das ist gut so, da war Stockhausen seiner Zeit voraus.“
Nina Rohlfs, Mai 2024