Bei der feierlichen Preisverleihung im Münchner Prinzregententheater mit einer Laudatio von Norbert Lammert interpretierte Tabea Zimmermann gemeinsam mit dem Schlagzeuger Christoph Sietzen Naturale von Luciano Berio; mit dem Ensemble Resonanz unter der Leitung von Emilio Pomàrico brachte sie außerdem Migrants - Aria von Georges Aperghis zur Uraufführung und spielte Benjamin Brittens Lachrymae.
Als eine der größten Interpretinnen ihrer Epoche würdigte Patrick Hahn in seinem Essay die Preisträgerin des Internationalen Ernst von Siemens Musikpreises 2020, Tabea Zimmermann. Wir veröffentlichen den Artikel, der ihren Werdegang und ihre Perspektive auf das Musizieren skizziert, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Ernst von Siemens Musikstiftung.
Verpackungsindustrie, ausgerechnet. Reist man auf den Datenautobahnen des World Wide Web ohne Umwege zur virtuellen Präsenz des Geburtsortes von Tabea Zimmermann, weist das Stadtmarketing unter anderem auf die Bedeutung der Verpackungsindustrie für die Stadt Lahr im Schwarzwald hin. Nichts möchte man weniger mit ihr in Verbindung bringen als die Bereitstellung von leeren Verpackungen, mit Frau Zimmermann, oder vielmehr: mit „Tabea“, wie sie in Musikerkreisen schlicht gerufen wird. (Und es gibt niemanden weit und breit, der sich daran erinnern könnte, dass auch irgend jemand jemals nachgefragt hätte, um welche Tabea es sich handele, wenn der Name fällt, als ob es nur diese eine geben könne, was ja auch unbestritten der Fall ist.) Tabea Zimmermann, Tabea also, ist in einer an Äußerlich- und Künstlichkeiten nicht gerade armen Musikindustrie zu einem Inbegriff geworden für ein geradezu unbestechliches Musizieren, für eine authentische, persönliche Haltung, nicht scheu, auch unangenehme Wahrheiten über den Betrieb auszusprechen oder dessen scheinbaren Eigengesetzlichkeiten zu widersprechen, eine Künstlerin, die alle Energie darauf lenkt, zum Kern eines musikalischen Werkes vorzudringen – und diese Erfahrung mit ihrem Publikum zu teilen. „Da bin ich sowas von allergisch drauf“, lacht sie, „wenn sich ein Interpret vor ein Werk stellt. Aber es ist modern heute.“ Eine Musikerin, die nicht sich selbst ausdrücken möchte, sondern ein Werk. Träume einer Unzeitgemäßen?
Das Gefühl, unzeitgemäß zu sein, begleitet Tabea Zimmermann schon seit ihrer Jugend: „Als Mädchen, das zwar sehr gut Bratsche spielen konnte, aber aus einem strengen, religiösen Elternhaus kam, fand ich mich schon als Jugendliche ‚unzeitgemäß‘, weil ich mir altmodisch, irgendwie anders vorkam. Ich habe mich in meinem Einzelgängertum einfach immer wieder auf das Musizieren zurückbesonnen, das für mich immer wieder ein großes Erfolgserlebnis war, mich anderen mitteilen und über die Musik kommunizieren zu können. Es gelingt mir, die Zuhörer daran teilhaben zu lassen, wie ich auch vertraute Dinge jeden Tag neu anschaue. Bewahrt hat sich das Gefühl, nicht überall dazugehören zu wollen.“ Zum Kreis der größten Interpretinnen ihrer Epoche gehört Tabea zweifelsohne dazu, und auch das schon bereits seit jungen Jahren. Spätestens mit dem Gewinn des ersten Preises beim Concours de Genève 1982 hat sie sich ins Rampenlicht der internationalen Aufmerksamkeit gespielt – und dies mit einem Instrument, über das Berlioz mit Fug und Recht schrieb: „Von allen Instrumenten im Orchester ist die Viola dasjenige, dessen ausgezeichnete Eigenschaften man am längsten verkannt hat.“ Dass die Qualitäten dieses Instrumentes stärker ins Bewusstsein gerückt sind und weiterhin rücken, ist nicht zuletzt das Verdienst von Tabea. Aber davon später mehr. Verweilen wir noch für einen Augenblick bei jenem Wettbewerbsfinale, das, vom Fernsehen aufgezeichnet, heute noch in den Untiefen des Internets anzuklicken ist. Das lange, dunkle, lockige Haar zu einem ordentlichen Zopf geflochten, betritt Tabea darin mit zügigem Schritt die Bühne. Die weiße Spitze an Kragen und Ärmeln des langen, hochgeschlossenen und bis über die Knöchel reichenden dunkelblauen, weiß gepunkteten Kleides lässt die regionale Herkunft der Trägerin erahnen. Doch nicht dieses Äußere, „die Verpackung“, frappiert. Es ist der Blick der nicht einmal Sechzehnjährigen, der einen nicht loslässt. Hoher Ernst spricht aus großen, runden braunen Augen, eine Tiefe, eine Konzentration, eine Versenkung, ein Wissen, wie man es in so jungen Augen eigentlich noch nicht erwarten würde. Und erst beim vierten, mit Erleichterung entgegen genommenem Applaus, weicht der Ernst der jungen Musikerin für kurze Augenblicke einem Lächeln, in dem der entwaffnende Charme der Tabea von heute sich nur andeutet. Doch schon vom ersten Bogenstrich an ist da jener besondere Ton, der stets vergessen macht, dass auch Tabea auf der Bühne nichts anderes in Händen hält als lackiertes Holz, umwickelte Saiten, Pferdehaare. Und doch singt die Bratsche in ihren Händen wie bei niemand anderem, sie singt und spricht in jenem einzigartigen, unnachahmlichen Tabea-Ton, der bis zum heutigen Tag stets noch weiter an Reichtum, Tiefe, Schönheit zugenommen hat. Woher kommt dieser Ausdruck? „Ich stelle mir vor, dass es in meiner Seele sehr viele kleine Spiegelflächen gibt“, beschreibt Tabea, „und dass jedes Musikstück, jede Phrase, jeder Satz, jedes Thema etwas anderes in mir berührt und indem ich dann meine Anteile mitspiegeln lasse, kann ich etwas Persönliches weitergeben.“
Den Raum, die Seele wachsen zu lassen, muss sie sich erobern. „In der Rückschau würde ich eher sagen, dass ich trotz der strengen Erziehung die Liebe zur Musik erhalten konnte und nicht wegen dieser“, konzediert Tabea sachlich. Als sie schon im Alter von drei Jahren beginnt, Bratsche zu lernen – ohne den meist gewählten Umweg über die Violine – eifert sie ihren Schwestern nach, die Geige und Cello spielen. Als Streichtrio spielen die Geschwister in ihrer Jugend viel zusammen. Insgesamt sind sie sechs Kinder. Die jüngste der talentierten Schwestern, Tabea, absolviert ihr Pensum auf der Überholspur, spielt schon früh Wettbewerbe und eilt von Erfolg zu Erfolg. Scheinbar mit Leichtigkeit, auch wenn der Blick in die Übetagebücher des Kindes der erwachsenen Bratscherin und Mutter Tabea heute schweißnasse Hände bereiten: Im pietistischen Elternhaus wurden die Übefortschritte penibel überwacht und eingefordert. „In der Jugend habe ich das religiöse Elternhaus und die Musikausbildung immer wieder als starken Konflikt empfunden. Obwohl die Eltern uns zum Üben angehalten haben, war die Musik gleichzeitig die Tür nach draußen.“ Schon als Elfjährige nimmt sie an den Aktivitäten des Landesjugendorchesters teil, das ihr Lehrer mitgegründet hat, und verblüfft immer wieder, wenn sie bei spontanen Kammermusikabenden auch bei ihr unbekannten Stücken ganz selbstverständlich kommuniziert. „Schon damals konnte ich gut vom Blatt lesen – und Kammermusik hatte ich quasi mit der Muttermilch mitbekommen. Meine erste ‚Kunst der Fuge‘ habe ich in Auszügen im Alter von vier Jahren im Streichquartett gespielt.“ Wer Tabea Zimmermann je dabei erlebt hat, wie sie von der Bratsche aus auch große Ensembles oder Orchester leitet, wird keine Schwierigkeiten haben, sich das Erstaunen der damaligen Mitmusiker vorzustellen, wie ihre junge Kollegin vom Bratschenpult aus das Heft in die Hand genommen hat. Mit renommierten Kammerorchestern und insbesondere in der engen Zusammenarbeit mit dem Hamburger Ensemble Resonanz hat Tabea Zimmermann auch zahlreiche Sinfonien von der Bratsche aus geleitet. Mit der Kraft, die aus der Mittellage kommt. „Auch durch das Spielen im Streichquartett habe ich natürlich viel mehr in der Partitur zu denken gelernt, als nur als Solistin. Dieser Blick wächst von Werk zu Werk, von Konzert zu Konzert. Es macht auch immer Spaß, was man alles aus der Mitte heraus um sich herum wahrnehmen kann. Aber auch mit der Erfahrung verändert sich die Perspektive.“
Nicht nur das Spielen im Streichquartett – die Zusammenarbeit mit Antje Weithaas, Daniel Sepec und Jean-Guihen Queyras als Arcanto-Quartett wird ab dem Jahr 2004 prägend –, auch die Begegnung mit der Neuen Musik weckt das Interesse der Interpretin, über den Stimmenrand der Solistin hinaus zu schauen, das große Ganze in den Blick zu nehmen. „Ich sehe es als unglaublich tolle Chance, dass ich so früh zur Neuen Musik gekommen bin. Das hat bei mir schon in der Schulzeit angefangen“, erinnert sich Tabea Zimmermann. „Ich hatte einen Musiklehrer, der komponiert hat und mir für einen Wettbewerb, bei dem ich vielleicht zwölf Jahre alt war, ein Solostück schrieb. Damals bin ich das erste Mal mit einer Uraufführung auf die Bühne gegangen, was ein ganz besonderes Erlebnis war: Etwas entstehen lassen zu können, diese Zusammenarbeit mit einem Komponisten erleben zu dürfen, die Gedanken nachzuvollziehen, Partituren anders lesen zu lernen und Dinge zu entdecken. Von Anfang an hat mir das sehr viel Spaß bereitet.“ Ein Schlüsselerlebnis wird auch die Begegnung mit den Antiphonen von Bernd Alois Zimmermann. „Dieses Stück konnte mir mein Instrumentallehrer nicht beibringen und ich bin dann auf meinen komponierenden Musiklehrer zugegangen, der mir die Sprache der Musik besser erklären konnte. In der Neuen Musik funktioniert es einfach nicht, wenn man lediglich seine Stimme übt und diese mit den anderen zusammensetzt. Da muss ich von Anfang an einen anderen Blick aufs Ganze haben und dann erst meine Stimme in den Kontext setzten, sonst bin ich verloren. Über Struktur und das Kompositorische muss ich nachdenken sowie den Blick des Komponisten annehmen können.“ Es erinnert an den berühmten Harold von Hector Berlioz, dem weniger der literarischen Figur von Lord Byron als dem in den Abruzzen umherstreifenden Komponisten selbst nachempfundenen Bratschenhelden, den Tabea so unnachahmlich verkörpert, wenn sie ihr Ideal des Umgangs mit einer Partitur beschreibt. „Ich stelle mir die Partitur vor wie eine Landkarte und, wenn ich dann auf den Spaziergang gehe, wenn ich wirklich auf der Bühne stehe, laufe ich nicht jeden Tag genau den gleichen Weg, sondern vielleicht in einem gewissen Gebiet. Dann gibt es hier einen Kirchturm, hier ein Feld und dort einen Berg, aber man wandert jedes Mal ein bisschen anders durch und dass es diese Freiheit gibt, ist auch für mich befreiend. Die Vorstellung, ich müsste jeden Tag genau dasselbe reproduzieren, wenn ich ein Stück wieder spiele, das fände ich sehr, sehr beengend.“
Das Klassische und Romantische Repertoire stellt sich selbstverständlich für eine Bratscherin anders dar als für Geiger oder Pianisten und Tabea Zimmermann muss die Antwort offenlassen, ob sie so viel moderne Musik gespielt hätte, wenn sie Geigerin geworden wäre. Doch fast scheint es, als hätte nicht sie die Komponisten gesucht, sondern die Komponisten sie. So wie György Ligeti, der, nachdem er sie in Köln mit der Uraufführung eines Bratschenkonzertes von Mark Kopytman erlebt hatte, drohte: „Frau Zimmermann, ich bin Ligeti. Wenn sie so weiter spielen kriegen sie noch ein Stück von mir.“ Der Rest ist Musikgeschichte und die von Tabea inspirierte Sonate für Viola solo ein Standardwerk der modernen Bratschenliteratur. „Der Austausch mit ihm setzte sich über Jahre fort und der hohe Anspruch, den Ligeti an mich als Interpretin gerichtet hat, ging mir sehr nahe, hat mich aber auch sehr weitergebracht. György Kurtág auf eine ähnliche Weise. Wenn man mit ihm arbeitet, kann man sich so etwas wie ein Lob von vornherein abschminken. Es ist nie gut genug, auch wenn man sich noch so sehr bemüht. Diese Arbeit ist sehr schwer. Wenn man dem standhalten kann, bleibt ein großer Gewinn aus der Arbeit. Bei Kurtág zum Beispiel diese starke Ausdruckskraft, die Freiheit seiner Notation. Für mich hat das wirklich Welten eröffnet.“ Seine Dankbarkeit drückte Kurtág anders aus, in Gestalt einer kleinen „Blume für Tabea“ in seinem Werkzyklus Signs, Games and Messages. Zu den jüngsten Herausforderungen, denen Tabea Zimmermann sich im Konzertsaal stellte, zählen ein neues, hochvirtuoses Bratschenkonzert von Michael Jarrell; ein von geradezu klassischem Formbewusstsein, poetischer Erfindungsgabe und struktureller Klarheit durchdrungenes Konzert von York Höller; oder auch das Bratschenkonzert Filz, das Enno Poppe für sie schrieb. Schnappschüsse dokumentieren den Grad der körperlichen Versehrungsbereitschaft zu der die Interpretin bereit war, sich in dieser Zusammenarbeit zu widmen: tiefschwarze Furchen haben sich beim Üben der höllischen Glissando- und Vibratovariationen in die Fingerkuppen gegraben, in einem Stück, in dem der Komponist die Bratsche einmal auseinandergebaut und neu wieder zusammen gesetzt hat. Doch im weit gesteckten ästhetischen Kosmos von Tabea gibt es auch Raum für gegensätzliche Pole. So hält sie große Stücke auf das Konzertstück Monh, das der australisch-luxemburgische Komponist Georges Lentz für sie geschrieben hat. „Als ich die Partitur gesehen habe, dachte ich: ‚Seitenweise Soloinstrument mit dreifachem Pianissimo, wie soll das gehen?‘ Das war ein erstes unqualifiziertes Urteil! Später durfte ich dann feststellen, dass ich mich geirrt hatte, dass er ganz genau weiß, welche zarten Klänge es gibt. Das ist auch das, was mich wirklich reizt am Musizieren: Der feine Unterschied. Der große Ton ist eine Sache, aber das ist auch nur ein ganz kleiner Teilbereich dessen, was Musik ausmacht.“ Dieses Ringen um die feinen Unterschiede wirkt auch zurück auf die Auseinandersetzung mit der Musik der Vergangenheit. „Am meisten habe ich aus der Beschäftigung mit Neuer Musik für Beethoven lernen können. Werke eines Beethoven lassen sich mit dem Wissen um neue Klänge und Farben sowie Fantasie und Vorstellungskraft von heute besser verstehen.“
Im Verzeichnis der von Tabea Zimmermann aufgeführten oder uraufgeführten Werke finden sich auch die Namen zahlreicher israelischer Komponisten. Ein Hinweis auf die enge biographische Verbindung mit Israel, die Tabea – die fließend Hebräisch spricht – bis heute pflegt. Sie rührt zunächst aus der Partnerschaft zum Dirigenten David Shallon, dem Vater ihrer beiden Söhne Yuval und Jonathan, der im Jahr 2000 überraschend an einer allergischen Reaktion starb, als Tabea gerade in Erwartung ihres zweiten Kindes war. „Niemals hatte ich mir vorstellen können, dass es möglich wäre, so schnell zu versterben. Das einzige Glück in dieser tragischen Situation ist, dass ich gemeinsam mit Yuval da war, diesen Moment erleben und Abschied nehmen konnte. Andernfalls hätte ich es gewiss niemals verstanden, dass man fortgehen und nie wieder zurückkehren kann“, vertraute Tabea der Filmemacherin Ruth Schocken Katz in einem Porträtfilm an. Die Verbindung nach Israel setzte sich auch mit ihrem späteren Partner Steven Sloane fort, mit dem sie die Tochter Maya hat. Heute lebt Tabea in Berlin, wo sie als Professorin an der Hanns Eisler Hochschule für Musik inzwischen zahlreiche Bratscher ausgebildet hat, die als Solisten oder an vorderen Positionen in bedeutenden Orchestern wirken. „Die Lehre und der Austausch mit jungen Menschen beschäftigt mich sehr“, unterstreicht Tabea. „Es ist mir sehr wichtig, diese auch mit Wertvorstellungen zu konfrontieren und anhand der Musik etwas mitgeben zu können, mit dem sie hoffentlich gut durchs Leben kommen.“ In den glücklichsten Fällen lernen sie von Tabea etwas über das Geheimnis, die Zeit zu überwinden. „In der Musik kann man die Zeit schon in einem einzelnen Ton dehnen. In der Gestaltung einer Phrase dem Hörer den Atem schenken. Sehr oft ist es das, was ich den Leuten mitgeben will: Einen Wunsch, die Zeit anzuhalten oder sie mit dem Klang zu überwinden. Wie in der japanischen Kultur ein kleiner japanischer Garten eine Oase darstellt, ist für mich jedes Musikstück auch eine gewisse Rückzugsmöglichkeit in unserer lauten, schnellen und groben Welt.“ Eine Musikerin welche die Wirklichkeit zu überwinden vermag, um gestärkt in sie zurück zu kehren und in ihr zu wirken. Die Stadt Lahr im Schwarzwald sollte in Erwägung ziehen, dies als ihren wichtigsten Export auf der Internetdomain zu vermerken.
Die Zitate von Tabea Zimmermann stammen, wenn nicht anders angegeben, aus einem Gespräch, das der Verfasser mit ihr am 11.11.2019 in Kronberg / Taunus geführt hat.