KWMM: Bas, ich habe mir als Vorbereitung für dieses Interview noch einmal Deinen 2018 verfassten Essay für das Klangforum angeschaut, in dem Du unter anderem über Flexibilität und Innovation im Konzertbetrieb sprichst. Heute liest man diesen Text durch eine andere Brille.
Bas Wiegers: Bestimmt. Im vergangenen Jahr war Flexibilität enorm wichtig. Das ist eine Haltung, die man brauchte, um überleben zu können. Die Ensembles sind natürlich ohnehin flexibler als Opernhäuser oder Orchester, aber 2020 war insgesamt das Jahr der Flexibilität.
Wenn wir einmal zurückblicken: Es gab auch bei Dir ein paar große Enttäuschungen. Als erstes wurde die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper Il Canto s‘attrista – perche? in Klagenfurt abgesagt, das war der erste Paukenschlag.
Ja, am Tag vor der Generalprobe. Das Stück war komplett fertig, als Sebastian Kurz am 13. März den Lockdown ankündigte. Ich habe dann mit dem Intendanten telefoniert, und in der Früh haben wir uns entschieden abzusagen. Alle Sänger und ich haben sofort ihre Flüge gebucht, und am selben Abend war ich in Amsterdam. Das war einerseits schlimm, aber auch eine Erleichterung zu wissen: Wenn ich jetzt krank bin oder wenn die Hölle losbricht, bin ich wenigstens zu Hause. Sciarrino selbst hat noch zwei Wochen in Klagenfurt verbracht, er konnte nicht zurück nach Italien. Am Anfang habe ich die Zwangspause noch irgendwie genossen, wie viele von uns. Wir sind in diesem Beruf die ganze Zeit unterwegs, man hat immer zu wenig Zeit. Erst später wurde es schwieriger für die meisten.
Das war das erste von drei großen abgesagten Opernprojekten im Jahr 2020; Du hättest noch in Stuttgart und an der Opera Vlaanderen debütiert.
In Stuttgart hätte ich Death in Venice dirigiert, das wäre natürlich ein super Debüt gewesen. Bis es abgesagt wurde, hat es sehr lange gedauert. Ich habe noch zwei Monate lang Britten studiert. Das war eigentlich das Schwierigste – Pause machen ist die eine Sache, aber eine Oper vorbereiten, von der du weißt, die wird wahrscheinlich nicht stattfinden, das geht völlig gegen die eigene Energie.
Statt der Opernprojekte hattest Du, nach einer großen Lücke, Raum für neue Projekte, vor allem in den Niederlanden. Und ein richtiges Corona-Projekt kam dann vom Ensemble Resonanz, das Georg Friedrich Haas’ Komposition Einklang freier Wesen als Klanginstallation umgesetzt hat. Dafür hast Du, quasi blind, vor einer Kamera dirigiert.
Zunächst war diese Idee für mich als Dirigent ganz seltsam: Etwas zu dirigieren, ohne die Musiker zu sehen, ohne körperliche Beziehung zum Klang. Du bist eigentlich nur ein Metronom, musst aber auch ein bisschen Musik zeigen. Die Instrumente wurden einzeln aufgenommen, und wir haben daraus etwas gemacht, das als Ensemble klingt. Die Musiker haben das unglaublich gut umgesetzt, und die Postproduktion mit dem Tonmeister war am Ende das Tollste. Das Projekt war ein bisschen verrückt – aber eine spannende Idee. Und mit welchem Stück, wenn nicht mit diesem? Denn es geht darin ja gerade um die Unmöglichkeit, zusammenzuspielen, und – das habe ich erst später realisiert – um die Grenzen der Freiheit, um eine ganz wichtige Frage. Georg hat quasi Solostücke komponiert, aber sobald ein Solostück ein Ensemblestück wird, geht es wieder um Beziehungen. Und gewissermaßen hat sich die ganze Corona-Zeit ja um diese Themen gedreht. Die persönliche Freiheit steht eben immer in einem Verhältnis zu den Menschen, die uns umgeben.
Das Projekt hat die Situation also aktiv aufgegriffen.
Genau. Und auch die Frustrationen damit, zusammen etwas zu schaffen, wenn man einander nicht anfassen, nicht sehen darf. Das erzählen natürlich alle Orchester, diese Anderthalb-Meter-Geschichte. Wenn man keinen körperlichen Kontakt hat, dann wird das zusammen Singen oder Spielen sehr schwierig.
Es gab dann im Sommer auch Momente, in denen es eine Neuentdeckung des Konzertrituals gab, als nach der Zwangspause für alle spürbar wurde, was für eine Kraft in Live-Erlebnissen steckt.
Absolut. Bei der Opéra national de Lorraine in Nancy, wo ich Anfang Juli war, erinnere ich mich allerdings auch an eine Zeit, als wir alle ein bisschen Angst hatten. Nun, die Angst war nie ganz weg, leider. Aber auch wenn es schwierig war – dass es überhaupt Publikum gab und wir spielen konnten, war etwas ganz Schönes. Ich habe in Nancy mit den Streichern Tschaikowsky gemacht und Albéniz, und mit den Bläsern Gounod und Dvořák. Das lag eigentlich nur an den Bedingungen, also daran, wie weit alle auseinander sitzen mussten. Wenn ich darüber nachdenke, wie hart die Intendanten und Veranstalter gearbeitet haben, um das möglich zu machen... Überall, bis heute! Vor zwei Wochen war ich zum Beispiel in Frankfurt beim Ensemble Modern, da war Louwrens Langevoort aus Köln, und die hatten wieder das gesamte Acht Brücken Festival online präsentiert. Und auch bei Eclat, Christine Fischer – diese Leute haben so durchgehalten. Auch Markus Hinterhäuser bei den Salzburger Festspielen, schon letzten Sommer. Ich habe riesigen Respekt für diese Leute, die auch politisch Druck gemacht haben. Das muss unglaublich viel Arbeit gewesen sein. Auch Eure Agentur hat, glaube ich, dreimal mehr Arbeit gehabt und dreimal weniger Geld verdient. OK – ich war auch die ganze Zeit flexibel und habe mitgedacht, aber ich finde, die Veranstalter und alle, die sich darum herum bewegen, haben Enormes geleistet, um das Ganze irgendwie zu gestalten.
Besonders klassisches Repertoire hast Du im vergangenen Jahr viel dirigiert, angefangen in Nancy und dann in den Niederlanden mit Het Residentie Orkest.
Die ganze Periode war ursprünglich für KOMA an der Vlaamse Opera geplant, deshalb war ich frei für ein Projekt mit Residentie. Dort habe ich Beethovens 2. Symphonie dirigiert und das Mozart Adagio. Beethoven haben alle gespielt, es war ja noch Beethoven-Jahr. Der arme Beethoven.
Er kann es am ehesten verkraften.
Dann kamen noch ein Extraprojekt beim Klangforum und ein Einspringer beim Ensemble Modern – alles last minute. Das Einzige in dieser Zeit, das wie geplant geklappt hat, war mein Auftritt mit Asko/Schönberg im Muziekgebouw Amsterdam.
Eigentlich der Auftakt Deiner Residency dort.
Ja, und leider der einzige Teil der Residency, der stattfinden konnte. Auch in einer ganz anderen Form – ich habe bei der Programmplanung mitgewirkt, um zu überlegen, was dort in kleinerer Besetzung Sinn macht.
Auch beim WDR Sinfonieorchester wurde sehr viel Programm umgestellt.
Das war am 10. Oktober mein letztes Konzert mit Publikum, außer ein paar Konzerten im November vor 30 Leuten. Dann kam noch ein Einspringer bei der Philharmonie Zuidnederland, aber das war nur ein Stream, denn da waren die Konzerthäuser bei uns in den Niederlanden schon zu.
Für diese Einspringer und für die Programmänderungen hast Du sicher immer extrem kurzfristig Repertoire gelernt, oder?
Ja und nein. Beim Münchener Kammerorchester haben wir Strawinskys Apollon musagète gemacht, das hatte ich schon zweimal dirigiert früher, und auch Bachs 3. Brandenburgisches Konzert kenne ich gut. Purcell dagegen musste ich zum Beispiel ein bisschen mehr studieren, aber ich habe natürlich als Geiger früher auch dieses Barockrepertoire viel gespielt. Bei der Philharmonie Zuidnederland war es ähnlich. Mozarts Hornkonzert kennt man natürlich, ich hatte es aber noch nie dirigiert, und die Unanswered Question habe ich schon hundertmal gemacht. Die Haydn Symphonie hatte ich noch nie gemacht, aber das lernt man schnell. Schöner ist es natürlich, wenn man richtig Zeit hat. Ich habe aber den Eindruck, dass die Orchester und Ensembles das auch genossen haben, nach dem Motto: Wir sind offen, und wir wissen auch, dass der Dirigent das vielleicht bei der ersten Probe nicht auswendig kann. Man ist irgendwie lockerer, weil es schon so toll ist, dass man überhaupt arbeiten kann.
Dagegen steht sicher, dass man manche Qualitätsansprüche fallen lassen muss, oder? Es gab ja ab einem bestimmten Punkt das Problem, dass die Orchester lange nicht gespielt hatten, dass vielleicht einige nicht so fit waren auf dem Instrument...
Vielleicht ein bisschen, aber ich habe es eigentlich nicht so wahrgenommen, dass die Leute individuell Schwierigkeiten hatten. Das Schwierigste war, dass sie so ungewohnt weit auseinander saßen. Bei den Ensembles war das weniger problematisch, denn das sind ohnehin einzelne Spieler, die immer unglaublich gut zuhören, und wenn dann 30 cm extra dazwischen sind, macht sich das kaum bemerkbar. Aber bei einem Orchester –ich habe Beethovens Zweite mit acht ersten Geigen gespielt, und die letzten sitzen dann dort, wo normalerweise bei Mahler 8 das zehnte Pult ist. Es ist dann an manchen Stellen einfach schwierig für sie, zu hören, ob sie zusammen sind. Die Bläsergruppe beim Residentie Orkest zum Beispiel spielt immer sehr schön und gut und liebevoll zusammen, aber auch die hatten Schwierigkeiten. Und dann weißt du, das ist jetzt wirklich kein Unwille, das geht einfach nicht besser. Mit diesen Beschränkungen muss man leben. Und vielleicht führt das zu einer neuen Qualität, wenn wir in einigen Monaten wieder normal zusammensitzen, dass wir vielleicht besser zuhören als vorher.
Wir nähern uns in der Chronologie einer noch schwierigeren Zeit – Du warst erneut in Nancy und hast auch Beethoven dirigiert, für eine Aufnahme.
Die ist einen Tag vorher abgesagt worden, wegen eines positiv Getesteten im Orchester. Wir haben den Beethoven im Dezember nachgeholt. Dann kamen die Konzerte mit Phion, für die wir das Programm total umgebaut haben. Schon im frühen Sommer hatte ich dort Kontakt aufgenommen und gefragt, ob ich etwas vorschlagen soll, denn ich wollte unbedingt, dass die zwei Solisten dabei sein können. Ich habe dann verkleinert und auch ein eigenes Arrangement mitgenommen von Albéniz. Wir haben das je zwei Mal hintereinander gespielt an fünf Terminen, vor je 30 Leuten im Publikum. Dieses ganze Programm umzubauen war eigentlich auch toll. Und das Orchester war glücklich, die Musiker waren wirklich dankbar.
Es hätten dort noch Neujahrskonzerte stattfinden sollen, die auf das kommende Jahr verschoben wurden.
Ja, es gab dann in den Niederlanden überhaupt keine Konzerte mehr. Aber ich fuhr noch nach Stuttgart, für das Eclat Festival. Ein Riesending hatten wir da eigentlich vor, mit dem SWR Vokalensemble. Wir wollten auch nach Amsterdam, als Teil meiner Residency am Muziekgebouw. Wir haben dann tatsächlich noch drei Aufnahmen gemacht, die vom Eclat Festival gestreamt wurden. Da gab es zwei Uraufführungen von Enno Poppe und Wolfgang Motz, die viele Leute angeschaut haben. Das hat der SWR wahnsinnig gut gemacht, so wie die gesamte Onlinepräsenz vom Eclat Festival. Wenn man einen Stream so gut filmt, dann hat es wirklich Sinn. Dann bringt es sogar etwas extra, denn ich hatte danach noch eine Videokonferenz mit den anderen Künstlern. Vielleicht bleibt davon auch in Zukunft noch etwas übrig; da haben wir wirklich etwas gelernt.
In die Zeit nach dem Jahreswechsel fiel auch das Ultraschall Festival. Dort hätte Dein Debüt mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin stattfinden sollen.
Die Radioorchester durften nicht mehr spielen, das Debüt ist auf nächste Saison verschoben. Der Festivalleiter, Rainer Pöllmann, fragte mich: Kommst Du eh nach Berlin? Ich hatte in Stuttgart nichts zu tun, ich konnte nicht zurück nach Amsterdam und habe zugesagt. Mit drei Tagen Vorlauf haben wir etwas mit dem Ensemble Mosaik geplant. Das Repertoire habe ich im Zug von Stuttgart nach Berlin gelernt. Das Testen war schon üblich, wir haben uns in den Proben alle relativ frei gefühlt und ein spannendes Live Radiokonzert gegeben.
In Nancy warst Du dann für Brittens Turn of the Screw, da ist ein Film entstanden.
Auch das war Anfang kompliziert, denn wir hatten eine Woche vor der Probe einen riesigen Wechsel in der Besetzung, wegen Reiseschwierigkeiten. Und von Anfang an war es nicht ganz klar, ob wir einen Film machen können oder nur einen normalen Stream oder vielleicht auch vor Publikum spielen, da gab es noch diese Hoffnung. Das war vor allem für die Regisseurin Eva Maria Höckmayr schwierig: Sie musste mit zwei, drei Optionen arbeiten. Am Ende ist etwas ganz Tolles herausgekommen. Die Sängergruppe war wahnsinnig gut, sehr kollegial untereinander. Die letzten zwei Wochen – das hatte der Opernintendant extrem gut organisiert – wurden wir jeden Tag getestet und konnten ohne Maske auf die Bühne. Und weil es so gut lief, konnten wir am Ende noch zwei Tage Videomaterial aufnehmen.
Du warst dann noch mal beim Ensemble Modern vor kurzem.
Auch dort war ein viel größeres Programm vorgesehen, mit Clara Iannotta und Dai Fujikura. Aber wir konnten nur die zwei größere Stücke von Sciarrino und Romitelli machen. Die haben wir separat aufgenommen und im Rahmen von Acht Brücken gestreamt.
Sciarrino, Quaderno di Strada
Romitelli, Professor Bad Trip
Das war eine tolle Zusammenarbeit. Auch hier beim Klangforum ist die Arbeit nun eigentlich ziemlich normal; wir sind jetzt so weit, dass hier in Österreich jeden zweiten Tag getestet wird. Die Säle öffnen, und wir haben wieder Publikum dabei, etwa die halbe Saalbesetzung. Das ist viel mehr als ich seit November gesehen habe. Das Einzige, was ich noch schwierig finde, ist die Verantwortung, nicht krank zu werden: Wenn man sich auch nur ein bisschen krank fühlt, soll man zu Hause bleiben. Ich habe mich allerdings zwei Tage vor einer Premiere nie gut gefühlt. Aber auch das wird jetzt leichter. Es kommen jetzt vor der Sommerpause nur noch zwei Projekte in München und bei der Philharmonie Zuidnederland, und dann fängt es für mich erst wieder im August an. Ich hoffe, dass ich und überhaupt ein großer Teil der Menschen bis dahin geimpft sind und dass es mit dem Reisen wieder einfacher wird.
Ich bin gespannt, was man, wenn man sich dann irgendwann einmal zurücklehnen kann, für Schlüsse zieht. Was verändert sich? Was hat man gelernt? Wie sehen sich vielleicht auch Musikerinnen und Musiker anders nach diesem ständigen Streaming?
Ich finde es jetzt schwierig, wir haben die Übersicht noch nicht. Diese ganze Online-Präsenz hat auch unglaubliche Beschränkungen. Die Körperlichkeit, die Musik haben muss, fehlt so unglaublich. Diese Konzentration, die du aufbaust, wenn ein Publikum da ist, und die auch das Publikum spürt – die werden wir immer brauchen. Das ist, was Musik für uns bedeutet. Ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass man die ganze Zeit mit Kameras aufgenommen wurde, für die Musiker einen großen Unterschied gemacht hat. Ich schaue mir die Konzerte selbst eigentlich kaum an. Ich hoffe nur, dass die Leute zurückkommen. Dass die Musiker und das Publikum sich wieder trauen. In der letzten Zeit fand ich es schwierig, dass einerseits die Künstler in den Medien sagen, wir brauchen die Öffnung der Säle und Theater, aber andererseits hat das Publikum keine eigene Stimme. Ich hoffe, dass das Publikum sich auch wieder seine Stimme aneignet und dass man sagt, verdammt, jetzt will ich wieder ins Konzert.
Interview: Nina Rohlfs, 19.5.2021