Der Abend / ist bitter / für jene, / deren Geliebter so fern ist / wie der Himmel. (Japan, Verfasser unbekannt, 920 n. Chr.)
Matsukaze and Murasame teilen eine leidenschaftliche aber unerfüllte
Liebe zu einem Mann. Hunderte von Jahren nach ihrem Tod kehren sie als
Geister zu der Salzhütte zurück, in der sie ihr Leben verbracht hatten. Toshio Hosokawas Oper Matsukaze
ist seit 2011 in mehreren Inszenierungen auf verschiedenen Opernbühnen zu sehen gewesen. Bei der Uraufführung an der Monnaie in Brüssel, inszeniert von Sasha Waltz, übernahmen Barbara
Hannigan und Charlotte Hellekant die Rollen der Schwestern Matsukaze und
Murasame.
Matsukaze geht auf einen in Japan bekannten Stoff des klassischen Nō-Theaters zurück. Der Komponist beschreibt die Geschichte als das Drama einer Seelenheilung: „Matsukaze und Murasame kommen noch einmal zurück in unsere Welt. Sie haben ein trauriges Schicksal, und sie leiden unter einer großen Anhaftung, vor der sie sich befreien wollen. Das ist für mich persönlich ein sehr wichtiger Aspekt. Durch das Komponieren möchte ich mich selbst von solchen Anhaftungen befreien, durch Musik möchte ich meine Existenz reinigen.“
Wie in vielen der Stücke Toshio Hosokawas spielt auch in Matsukaze die Natur eine besondere Rolle. „Bei Matsukaze ist schon der Titel wichtig, denn der Name ist ein Kompositum und bedeutet Wind (kaze) in den Kiefern (matsu). Den Gesang dieser Frauen kann man wie Naturklänge begreifen. Dies war für mich ein wichtiger Aspekt beim Komponieren, ohne Gesang kann ich die Partitur nicht mit der Natur vereinigen. Wenn ich musiziere, werden meine Klänge eins mit dem gesamten Kosmos. Bei Matsukaze stellen die Musik, der Gesang und der Tanz diese Verbindung zu Natur her. Matsukaze wird am Ende zu Wind, und Murasame wird zu Wasser und Regen – das ist eine sehr japanische Denkweise.“ Für Toshio Hosokawa vermitteln die beiden Protagonistinnen zwischen den Lebenden und den Toten: „Wir leben heutzutage in einer Welt, von der wir den Tod abtrennen wollen. Wir vergessen die Toten, obwohl wir alle sterben. Schamanen stellen die Verbindung zur Welt der Toten her, sie pendeln zwischen den Lebenden und den Toten.“
So klassisch die Geschichte und ihre spirituelle Verankerung sein mag, die Behandlung des Stoffes bei Hosokawa hat nicht viel mit der ritualisierten Bühnenkunst des Nô-Theaters zu tun. „Diese strengen Bewegungen und Gesetzmäßigkeiten kommen aus der Samurai-Zeit, der Entstehungszeit des Nō-Theaters“, erklärt der Komponist. „Bei vielen japanischen Künsten, z.B. auch Kabuki, erkenne ich eine sehr strenge gesellschaftliche Ordnung, ich sehe eine Hierarchie, eine Männergesellschaft und sehr strenge Gesetze. Man kann gar nicht richtig atmen. Das mag ich nicht, hiervon möchte ich mich und die Kunst befreien. Der Gedanke aber, das Grundthema, interessiert mich.“
Schon für seine Oper Hanjo (2004) hatte sich Toshio Hosokawa eines Nô-Stoffes angenommen. Während das Libretto zu Hanjo allerdings auf einer Neuinterpretation durch den japanischen Dichter Yukio Mishima beruht, ist Matsukaze nach einem deutschsprachigen Libretto komponiert. Die junge Autorin Hannah Dübgen hat es in enger Anlehnung an das japanische Original von Zeami erstellt.
Prägend, aber nicht bindend sind also die Traditionen der japanischen Kultur für Toshio Hosokawa. Auf ähnliche Weise trifft dies auch auf sein Verhältnis zur europäischen Musik zu. „Ich brauche beides, Musik aus Japan und Musik aus der übrigen Welt. Ich liebe europäische Musik mehr als japanische, schon als Kind habe ich die europäische Musik studiert. Fast alle Japaner lieben europäische Musik, weil sie einen weiten Raum öffnet. Der japanische Raum ist sehr eng. Ich empfinde unsere japanische Musik als weniger eigenständig. Unsere Musik braucht Atmosphäre, Kontext, Klima und spezielle Orte, um zu existieren, und erst durch das Zusammentreffen dieser Komponenten wird sie lebendig. Europäische Musik dagegen ist ein abstrakter Raum, eine große Welt. Man kann von diesem Raum den Boden abtrennen und in einem anderen Kontext verwerten“, erklärt er.
Neben ihren Reichtümern erkennt Toshio Hosokawa aus seinem japanischen Blickwinkel heraus aber auch die Schwachpunkte der abendländischen Musik- und Operntradition: „In der europäischen Oper sind Musik und Bewegungen meist voneinander getrennt. Der Gesang ist wunderbar, der Gestus aber immer gleich. Wenn man aus dem japanischen Theater kommt, ist man es gewöhnt, dass Gesang und Bewegung immer auf einander bezogen sind. Ich möchte gern etwas Neues, eine wirklich neue Oper entwickeln, dafür brauche ich unbedingt neue Impulse und Persönlichkeiten.“
Am Ende schließlich, in der letzten Szene von Matsukaze erlöst der Tanz die Seelen der beiden Schwestern, die sich immer noch nach der Erfüllung des Gedichtes sehnen, das ihr Geliebter hinterließ:
Heute ist die Stunde des Abschieds / die Tore der Hauptstadt erwarten mich / doch höre ich deine Sehnsucht / rufen, Geliebte - / kehre ich zurück.
Nina Rohlfs, 04/2015
Interview mit Toshio Hosokawa: Ilka Seifert