Interview mit Meret Forster
Herr Engel, warum sind Sie Dirigent geworden?
Das war eine philosophisch motivierte und eine emotionale Entscheidung.
Auf der Suche nach einem für mich sinnerfüllten Leben als Jugendlicher
ist mir klar geworden, dass es die Welt der Kunst ist, in die ich meine
Energie investieren möchte. Ich wäre auch gerne Filmregisseur geworden,
habe immer noch eine große Liebe zum Kino, aber ein Versuch in dieser
Richtung hat gezeigt, dass meine bildnerische Vision nicht groß genug
ist. Musik war die Kunst, in der ich eine Begabung hatte.
Ich habe damals wie wild Kontrabass gespielt in allen möglichen Formationen, im Jugendorchester, in verschiedenen Jazzbands, als Continuo-Spieler bei Barock-Projekten. Es ergab sich dann mit dem Jugendorchester eine Möglichkeit, das Dirigieren auszuprobieren; ich lancierte ein Projekt mit Musik von Olivier Messiaen und es hat mich emotional sofort gepackt. Da wusste ich, ich will Dirigent werden.
Sie haben aber dann nicht gleich Dirigieren studiert, sondern erst Musikwissenschaften und Philosophie.
Ja, ich wollte meine kulturelle Bildung auf ein breites Fundament stellen. Ich habe erst kurz in Zürich studiert und dann in Berlin. Da herrschte eine sehr anregende Atmosphäre fünf Jahre nach der Wende. Musikalisch war jeden Abend etwas los. Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Christian Thielemann, Kent Nagano und Vassily Petrenko waren damals ja gleichzeitig in der Stadt tätig. Und ich hatte wunderbare Kommilitonen, viele von ihnen haben heute wichtige Positionen im deutschen und internationalen Musikleben. Zusammen mit Viktor Schoner habe ich erst ein Tutorium für zeitgenössische Musik gegründet, bei dem viele namhafte Komponisten zu Gast waren, und nachdem wir Gerard Mortier kennengelernt haben, haben wir die „Akademie Musiktheater Heute“ initiiert, die heute von der Kulturstiftung der Deutschen Bank weitergeführt wird.
Warum haben Sie in Dresden dirigieren studiert?
Ich habe mit Christian Kluttig einen wunderbaren Lehrer kennengelernt, er vermittelte mir das klassische Kapellmeisterhandwerk. Und ich wusste, dass man in Dresden in guter ostdeutscher Tradition von Anfang an mit Berufsorchestern Erfahrung sammeln konnte. Das ist das Wichtigste bei der Dirigentenausbildung. Dresden hat sich für mich als Glücksfall erwiesen. Schon in meinem zweiten Studienjahr dirigierte ich eine Oper: die Uraufführung von Benjamin Schweitzers Jakob von Gunten. Danach kam gleich die Ernennung zum musikalischen Leiter des ensemble courage, mit dem ich unglaublich viel gelernt habe und dem ich über zehn Jahre intensiv verbunden war.
Sie waren aber nicht nur auf Dresden fixiert?
Es war klar für mich, dass ich mehr kennenlernen wollte. Ich habe die Chance bekommen bei vielen spannenden Dirigenten zu assistieren, so bei Sylvain Cambreling, Marc Albrecht, Peter Rundel, Lothar Zagrosek. Noch während des Studiums konnte ich die Atmosphäre der Salzburger Festspiele, der Deutschen Oper Berlin und der Opéra de Paris miterleben. Daneben habe ich mit Andreas Bode und dem ensemble resonanz in Hamburg erste Erfahrungen als musikalischer Leiter gesammelt, mit sehr avancierten Produktionen von Webers Freischütz, Mozarts Don Giovanni und Monteverdis Orfeo.
Inzwischen dirigieren Sie an renommierten Opernhäusern wie dem Teatro Real Madrid, der Frankfurter, der Hamburger und der Stuttgarter Oper, und Sie leiten traditionsreiche Klangkörper wie das WDR- und das SWR-Sinfonieorchester. Auch bei den großen Festivals in Salzburg und Luzern sind Sie regelmäßig zu Gast. Wie kam es dazu?
Ich würde es ein glückliches organisches Wachstum nennen. Über meine Engagements und Assistenzen haben sich immer neue Projekte und Aufgaben ergeben, das Tätigkeitsfeld hat sich stetig erweitert. Ein großes Glück war für mich, dass mich Gerard Mortier ans Teatro Real Madrid holte, wo ich mehrere Uraufführungen (u.a. Wuorinens Brokeback Mountain, die letzte Premiere der Ära Mortier), aber auch klassische Konzerte dirigiert habe. Mit dem Orchester verbindet mich eine vertrauensvolle Kollegialität.
Was fasziniert Sie an zeitgenössischer Musik?
Dass sie von heute ist, Ausdruck unserer gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft. Und die Zusammenarbeit mit lebenden Komponisten ist ein großartiger Aspekt meiner Arbeit. Ich lerne dabei immer Neues dazu, neue Klänge, neue gedankliche Ansätze. Und ich lerne auch die Grenzen der Notation immer wieder kennen. Das ermöglicht mir einen freieren Umgang mit der älteren Musik.
Sie haben in den letzten Jahren ein sehr breites Repertoire dirigiert, von Monteverdi über Offenbach, Wagner bis zur zeitgenössischen Musik. Birgt das nicht die Gefahr einer Beliebigkeit?
Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil finde ich, dass sich die Interpretation dieser Werke gegenseitig befruchtet. Wenn ich eine Melodie in einem zeitgenössischen Stück phrasiere, habe ich die Möglichkeiten der Barockmusik im Ohr. Wenn ich Wagner dirigiere, versuche ich herauszuarbeiten, wo seine Musik hinführt. Und auch meine Jazz-Erfahrung hilft mir immer wieder zum Aufspüren eines Grooves. Ich liebe es in meinen Programmen alte und neue Musik zu verbinden. Zeitgenössische Musik sollte möglichst nicht isoliert aufgeführt werden, gerade in Kombination mit klassischer Musik kann sie sich voll entfalten.
Sie schauen auch über den üblichen Horizont hinaus, programmieren Konzerte mit islamischer zeitgenössischer Musik oder arbeiten mit Poetry Slammern, Rappern und Beatboxern zusammen.
Meine Zusammenarbeit mit Komponisten aus der islamischen Welt macht mir große Freude, es ist wunderbare Musik und ein kleiner Beitrag zur Verständigung der Kulturen. Die klassische Musikwelt darf sich nicht abgrenzen, sondern muss sich allen Gesellschaftsschichten öffnen. Deshalb ist es mir ein großes Anliegen, verschiedene Musik- und Kunstwelten zusammenzuführen.
Wie ist Ihr Interpretationsansatz in der alten Musik?
Einerseits beschäftige ich mich immer intensiv mit der historischen Aufführungspraxis. Wie wurde ein Werk zur Zeit der Uraufführung dirigiert? Was weiß man über die Tradition damals, was nicht im Notentext steht? Aber anders als die Vertreter der historischen Aufführungspraxis bleibe ich nicht bei diesem Ansatz stehen, denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir den Hörer von damals nicht rekonstruieren können. Das wäre ja nötig bei einer wirklich authentischen Aufführung. Ich beschäftige mich daher immer auch mit der Frage, was diese Musik für mich heute und für unsere Gesellschaft bedeutet, und versuche dann beide Seiten in meine Interpretation einfließen zu lassen.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als Dirigent gegenüber Orchester, Chor und Solisten?
Ich liebe das gemeinsame Musizieren. In die Probe gehe ich mit einem klaren Konzept meiner Interpretation, bin aber auch offen für Spontaneität und Anregungen meiner Mitmusiker. Ich habe eine große Hochachtung vor ihrem individuellen Können und sehe mich nicht als Dominator, sondern als Primus inter Pares. In meiner Anfangszeit war ich sehr viel bei demokratisch arbeitenden Ensembles tätig, das hat mich geprägt. Beim Orchesterdirigieren muss man dezidierter führen, aber das offene Zuhören ist dennoch das Wichtigste.
Was bedeutet für Sie die Zusammenarbeit mit Regisseuren?
Genauso wie die Zusammenarbeit mit Komponisten liebe ich die gemeinsame Arbeit mit Regisseuren. Die Atmosphäre bei einer Opernproduktion ist wunderbar. Man versucht, im Idealfall mit einer langen Vorbereitungszeit, gemeinsam eine schlüssige Interpretation zu finden. Das ist eine produktive Auseinandersetzung mit dem Stoff, aber auch mit sich selber. Das habe ich von Gerard Mortier und Sylvain Cambreling gelernt. Bei beiden war klar, dass Musik und Bühne zusammengehen müssen, um ein relevantes Theater zu machen. Wenn man erst bei den Bühnenorchesterproben dabei ist, kann man das Regiekonzept nicht verstehen. Das muss ich vielen Kollegen vorwerfen.
Wie wichtig ist die Philosophie für ihr Dirigieren?
Es gibt zwei entscheidende Einflüsse. Es ist mir immer wichtig, das musikalische Werk zu kontextualisieren. Das heißt, Musik steht für mich nicht im luftleeren Raum, sondern hat immer einen Bezug zu uns Menschen. Wir sind als Kulturschaffende verantwortlich dafür, für aufklärerische Werte einzustehen und uns für Frieden und Toleranz einzusetzen. Der andere entscheidende Einfluss meiner Beschäftigung mit Philosophie ist die Grundhaltung, Tradition kritisch zu hinterfragen. Ich gehe immer vom Notentext aus und nicht von „berühmten“ Aufnahmen. Und ich versuche, das immer tiefere Eindringen in die Texte durch mehrmaliges Lesen und Nachdenken, das ich im Studium von philosophischen Texten gelernt habe, auch auf Partituren zu übertragen. Es gibt dazu ein schönes Zitat von Nadja Boulanger: „Man soll niemals zögern die Musik zu analysieren, denn je mehr man sie analysiert, desto mehr vertieft sich das Geheimnis.“
Es gibt aber einen ganz wichtigen Aspekt, bei dem die Musik über die Philosophie hinausgeht, das sind die Emotionen. In unserer ökonomisch durchrationalisierten Welt kommt die Zeit dafür, Gefühle auszuleben, leider oft viel zu kurz. In der Musik kann man sie ausleben. Das bringt mir persönlich große Freude und Erfüllung – ich hoffe, meinen Zuhörern auch.
Januar 2015