Es ist jedes Mal ein Ereignis für die Tanzwelt, wenn das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan mit einer Produktion in Deutschland zu Gast ist: Der große Tanzkritiker Jochen Schmidt bezeichnete 2006 anlässlich des Besuchs der Kompagnie am Berliner Haus der Kulturen der Welt die dort gezeigte Trilogie Cursive als „das zur Zeit wohl wichtigste Tanzstück der Welt“, Pina Bausch empfing 2008 das Ensemble mit großer Begeisterung und Wärme bei ihrem internationalen Tanzfest NRW – und ausnahmslos elektrisierten die Stücke, die hierzulande in den letzten zwei Jahrzehnten zu sehen waren, immer wieder Publikum und Kritik.
Jedes Mal ein Ereignis ist es auch, wenn Choreograf Lin Hwai-min mit
seinen Tänzern die gleichen Produktionen in der taiwanischen Provinz vor
Dorfbewohnern zeigt und damit seine Kunst in den entlegensten Winkel
des Landes trägt. Kaum zu glauben, dass ein Choreograf einer der
bekanntesten Menschen Taiwans ist – doch die Liebe der Inselbewohner zu
„ihrer“ Tanzkompagnie lässt sich nicht von der Hand weisen: Bis zu
60.000 Menschen kommen zu den großen Freilichtaufführungen in Taipeh;
eine Straße, ein nationaler Ehrentag und jetzt sogar ein Asteroid wurden
nach dem Cloud Gate Dance Theatre benannt.
Lin Hwai-mins einzigartiges Tanzvokabular entsteht aus seiner ganz
eigenen Synthese des westlichen modernen Tanzes, den er in New York bei
Merce Cunningham und Martha Graham studiert hat, mit asiatischen Themen
und Bewegungskultur. Neben Ballett und Modern Dance üben seine Tänzer
Meditation, Qi Gong, Kalligrafie und fernöstliche Kampfkünste, um eine
Durchlässigkeit des Körpers und eine tänzerische Vielseitigkeit zu
erlangen, die ihresgleichen sucht. Um zu verstehen, wie tief diese
Synthese geht, lohnt sich ein Blick in die wechselvolle Geschichte der
Kompagnie, die Lin nach seinem Studienaufenthalt in den Vereinigten
Staaten 1973 gründete. Der junge Mann, der damals noch keinerlei
choreografische und wenig tänzerische Erfahrung besaß, nutzte seine
Bekanntheit als Schriftsteller (Lin wurde im Alter von 22 Jahren in
seiner Heimat schlagartig durch seinen Roman Cicada berühmt,
der noch heute ein Bestseller ist), um die erste moderne Tanzkompagnie
der chinesischsprachigen Welt ins Leben zu rufen. Mit einem Erfolg, der
auch künstlerische Wagnisse möglich machte. Riskant unter der
exilnationalistischen Regierung Tschiang Kai-scheks zum Beispiel schien
die Produktion Legacy, in der es um die frühe Besiedelung
Taiwans geht – nicht gern gesehen in einem Staat, der sich als das
bessere China verstand. Doch am Tag der Premiere drehte sich die
politische Situation. Jimmy Carter brach die diplomatischen Beziehungen
zu Taiwan ab, das Land verlor seine Schutzmacht, und plötzlich erschien
das erste Theaterstück über die Geschichte Taiwans unbeabsichtigterweise
als staatstragende, da neue nationale Identität stiftende Kunst.
Vielleicht nur eine Episode, denn Lin Hwai-min sieht sich nicht primär
als politischen Künstler. Wohl aber erkennt er die Sprengkraft des
Ästhetischen: „Schönheit ist eine Waffe; sie basiert nach meinem
Verständnis auf einer enormen Freiheit.“ Und auch das soziale Engagement
seiner Kompagnie steht für den Willen, Menschen zu berühren und zu
bestärken. So sind die vielen Cloud Gate Schulen überall im Land
keineswegs Drillakademien für einen uniformen Tanznachwuchs, sondern sie
wollen auf spielerische Weise Körperbewusstsein wecken, den Tanz als
elementare Kraft im Leben für jedermann erfahrbar machen und Freiheit
und Verantwortung fördern. Und so ist auch die kleine Schwester von
Cloud Gate, Cloud Gate 2, nicht etwa wie bei vielen andern Kompagnien
eine Kaderschmiede für das erste Ensemble, die dem Repertoire des
Meisters huldigt, sondern sie bietet Raum für die Ideen junger
Choreografen und verfolgt mit breiter Streuung ihre eigenen sozialen
Projekte.
Ebenso sehr wie sich das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan in den fast
vierzig Jahren seines Bestehens für sein taiwanisches Publikum engagiert
hat, brauchte es die Unterstützung seiner Landsleute nach einem
verheerenden Brand, dem 2008 das Probenstudio zum Opfer fiel. Auch
Kostüme und das gesamte technische Archiv waren verloren: Eine
Katastrophe. Doch man behalf sich mit Provisorien, probte am zweiten Tag
nach dem Feuer schon wieder für das ein halbes Jahr später vollendete
Stück Whisper of Flowers – und konnte durch die enorme
Spendenbereitschaft taiwanischer Unternehmen und Privatleute inzwischen
ein neues Studio aufbauen.
Hier, in einem ehemaligen Gebäude des Radio Taiwan International, entstand auch die neueste Produktion der Kompagnie. Water Stains on the Wall,
„Wasserflecken an der Wand“ ist eine in China gebräuchliche Metapher
für höchste Vollendung in der Ästhetik der Kalligrafie. Sie meint eine
organische und unprätentiöse Qualität, wie sie natürlichen
Evolutionsprozessen entspringt. „Kalligrafieren und Bewegung sind eng
miteinander verknüpft“, sagte Lin Hwai-min schon 2006 in einem Interview
über seine international gefeierte Trilogie . Bevor man das Schreiben
beginnt, wärmt man sich auf, macht seinen Körper weich und flexibel.
Entscheidend sind dabei Rhythmus und Atem. Nur wer richtig atmet, ist
ein guter Schreiber. Genau wie im Tanz. Ein Kalligraf ist ein Tänzer.
Der eine hinterlässt seine Energie auf leerem Reispapier – der andere
hinterlässt sie im Raum.“
In Water Stains on the Wall erscheinen Projektionen ziehender
Wolkenformationen in wechselnden Schattierungen wie Tusche, die in einem
steten Fluss immer wieder neue Formen ausbildet. Die leichten Röcke der
Tänzer heben, ebenfalls wie Wolken, zu der Musik von Toshio Hosokawa
von der geneigten Bühne in den Raum ab. Der japanische Komponist hat
seinerseits einen starken Bezug zur Schriftkunst: „Meine Musik ist
Kalligrafie, gemalt auf den freien Rand von Zeit und Raum. Jeder
einzelne Ton besitzt eine Form wie eine Linie oder einen Punkt, die mit
dem Pinsel gezogen werden. Diese Linien werden auf eine Leinwand des
Schweigens gemalt“, sagt er über seine Musik, die mit der Bewegunskunst
des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan eine perfekte Verbindung eingeht.
Es ist ein Werk von abstrakter Schönheit, das die Zuschauer erwartet –
und ganz gewiss ein Tanzereignis.
Nina Rohlfs, 04/2012