Durch die Ereignisse in Fukushima bekam die Beschäftigung mit dem
1806 entstandenen Text, der sich auf die historische Naturkatastrophe
von 1647 bezieht, eine neue Aktualität, die das Produktionsteam zu einer
filmisch festgehaltenen Reise
in die Sperrzone am Unglücksort veranlasste. Toshio Hosokawa selbst
gestaltete als Reaktion auf diese Ereignisse seine 2016 überaus
erfolgreich uraufgeführte Oper Stilles Meer, die in dieser Spielzeit erneut in Hamburg zu sehen war.
Schon in früheren Opern wie Hanjo (2004) und Matsukaze
(2011) rekurrierte der Komponist häufig auf Stoffe des No-Theaters.
Dass er auch für sein neues Werk eine Verbindung zu dieser Tradition
sieht, ohne dass diese in der Stuttgarter Inszenierung unbedingt
augenfällig werden muss, erklärt Toshio Hosokawa in seinem Text zur
Oper.
In No-Theatern gibt ein schmales, brückenartiges Bühnenelement namens
Hashigakari, das die Darsteller überqueren, wenn sie die Hauptbühne
betreten. Viele No-Stoffe handeln vom Außerordentlichen, von
Traumgeschehen. Der Hauptdarsteller (Shite) verkörpert einen Geist und
passiert auf dem Weg auf die Bühne diese Brücke. Dort erzählt, singt und
tanzt der Shite über das Leid und die Reue, die er oder sie im Leben
erfahren hat, und durch den anderen Darsteller, der die Rolle eines
Priesters übernimmt und zuhört, kann das tief verwurzelte Trugbild
losgelassen werden – der Geist kehrt, wieder über jene Brücke, in die
andere Welt zurück.
Diese Grundstruktur des No, bei der eine Figur zwischen der
Wirklichkeit und dem Raum außerhalb der Wirklichkeit hin und her
pendelt, schwebt mir für die Erfahrung meiner Oper vor. Anders
ausgedrückt, durch das Erleben einer in der Sphäre des Außerordentlichen
angesiedelten Geschichte, genannt „Oper“, könnte das Publikum eine
tiefe Erfahrung machen, die in unserem Alltag in Vergessenheit geraten
ist. Musik ist die klangliche Brücke, die diese und jene andere Welt
verbindet – Träume und Realität. Musik zu hören könnte bedeuten, den
Klangtunnel dieser Brücke zu betreten, und meine Aufgabe als Komponist
könnte sein, eine Hashigakari aus Tönen zu schaffen.
Marcel Beyers Libretto zu Erdbeben. Träume basiert auf dem klassischen Meisterwerk Das Erdbeben in Chili von
Kleist, in dem es um ein Kind geht, dessen Eltern ermordet wurden. Es
wächst bei Stiefeltern auf und begibt sich auf eine Reise, um seine
wahren Eltern zu finden. Es fragt sich: „Wo sind meine richtigen Eltern?
Wer bin ich?“. Das Libretto lässt die Interpretation zu, dass das Kind
unter einer Sprachentwicklungsstörung leidet. Die Oper Erdbeben. Träume
ist die klangliche und visuelle Reise des Kindes, die auch ein
Initiationsritual darstellt: Das Kind bereitet sich auf das
Erwachsensein vor, indem es die Initiation durchlebt. Der Weg ist alles
andere als sicher, Gewalt lauert in der Natur (Erdbeben und Tsunami) und
in menschlichem Massenverhalten. Auf der anderen Seite gibt es die
Liebesgeschichte seiner Eltern, gibt es menschliche Solidarität. Die
Reise führt zur erschreckenden, tief im menschlichen Herzen verborgen
Bereitschaft zu Massengewalt, zur grausamen Unerbittlichkeit der Natur
und gleichzeitig zu deren heilender Kraft und Schönheit.
Meine Kompositionsweise basiert stets darauf, einen bestimmten Klang in
seiner ganzen Tiefe wahrzunehmen, sich in diesen Klang hineinzubegeben
und seinen inneren Klängen zu lauschen. In meiner Oper kann man die
Verwandlung eines dieser inneren Klänge verfolgen. Sein Verlauf hat die
Gestalt eines Klangtunnels, der während seiner Veränderung verschiedene
kaleidoskopartige Aspekte offenbart. In diesem Tunnel leben Monster, und
es gibt Fallgruben aus Stille. Verschiedene Stimmen klingen fort, und
der Chor drückt die Welt des kollektiven Unbewussten aus. Ich wünsche
mir, dass das Publikum sich mit auf diese klangliche Initiationsreise
begibt, in diesen Klangtunnel, gemeinsam mit dem Kind, das nicht
sprechen kann – und dass es die Hashigakari des Klanges überquert, wo
die Figuren zwischen Träumen und Wirklichkeit pendeln.
Toshio Hosokawa, 2018
Übersetzung: Nina Rohlfs