Zwei Jahre nach der gefeierten Uraufführung wird Toshio Hosokawas Oper Stilles Meer ab dem 31. Januar 2018 als Wiederaufnahme an der Staatsoper Hamburg gezeigt. Sowohl Kritiker als auch Publikum hatten seinerzeit das Stück, das nun erneut in der Inszenierung des japanischen Regisseurs Oriza Hirata und unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano auf die Bühne kommt, begeistert aufgenommen: „Hosokawas Klänge erzeugen einen wahren Sog“, kommentierte die nmz, und BR-Klassik lobte „ein ungemein feinsinniges, tastendes Theater, ein intensives Spiel mit Spannungsfeldern“. Stilles Meer nimmt Bezug auf einen traditionellen Nō-Theater-Stoff, den es durch die Versetzung an den Schauplatz Fukushima aktualisiert. Während eines Berlinbesuchs gab Toshio Hosokawa Ende 2015 im Interview Auskunft über seine neue Oper und ihren Bezug zur Katastrophe von Fukushima.
KWMM: Herr Hosokawa, erst einmal herzlichen Glückwunsch nachträglich zu Ihrem Geburtstag! Ist das eigentlich in Japan ein wichtiger Tag?
TH: Vielen Dank! Der 60. ist ein besonderer Geburtstag: Fünf Mal zwölf Jahre. Zwölf Jahre sind ein Kreis. Wir feiern diesen Tag deshalb sehr groß.
In ihrer neuen Oper Stilles Meer wird uns auch ein japanisches Ritual nähergebracht: Zum Äquinoktium, der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühjahr und Herbst, werden die Seelen der Toten für einen Tag eingeladen und am Abend wieder verabschiedet. In ihrer Oper begeht eine in Japan lebende deutsche Frau diese Zeremonie, sie hat durch den Tsunami ihr Kind und ihren zweiten Mann, einen Japaner, verloren. Ihr erster Mann, der Vater des Kindes, möchte sie zur Rückkehr nach Deutschland bewegen. Welche Bedeutung hat in der Oper die Tatsache, dass sich diese Familie in zwei Kulturen bewegt?
Hinter der Oper stecken zwei literarische Vorlagen. Die eine stammt aus dem Nō-Theater: Sumidagawa ist die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind verloren hat und dies nicht glauben kann. Der andere Stoff kommt aus unserer klassischen Moderne und ist gut hundert Jahre alt. In der Erzählung Maihime [in dt. Übersetzung als Die Tanzprinzessin bzw. Das Ballettmädchen erschienen, Anm. d. Red.] geht es um die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung eines Japaners in Berlin. Das von seinen eigenen Erlebnissen in Deutschland und auch von deutscher Literatur inspirierte Buch des Schriftstellers Mori Ogai ist in Japan sehr bekannt. In meiner Oper ist es umgekehrt, ein deutscher Mann kommt nach Japan, um seine Liebe wiederzufinden. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist für uns immer interessant.
Genau diese Auseinandersetzung spielt in Ihrer Biografie eine zentrale Rolle. Sie haben in Deutschland Komposition studiert und aus dieser Ferne die japanische Kultur neu für sich entdeckt. Daraufhin haben Sie in Ihrem Opernschaffen schon zwei Mal auf Nō-Theater-Stoffe zurückgegriffen. Stilles Meer geht nun, anders als die Nō-Opern Hanjo und Matsukaze, über den traditionellen Stoff hinaus, sowohl durch den kulturellen Perspektivwechsel als auch den aktuellen Bezug zum Tsunami und der Atomkatastrophe von Fukushima. Wie haben Sie selbst diese Ereignisse erlebt?
Mein musikalisches Hauptthema ist es, mit der Natur eins zu werden, mit ihr Harmonie zu finden. Dieses Ziel zieht sich durch alle meine Werke. In Fukushima haben wir die Natur kaputtgemacht! Die Naturkatastrophe war viel schrecklicher, als wir uns ausmalen konnten. Ich bin in Hiroshima geboren. Vor meiner Geburt hat diese Stadt eine große Katastrophe erlebt. Und dann Fukushima... Das war für mich ein Schock, und ich habe mich seitdem viel mit dem Thema auseinandergesetzt. Es gibt in der Oper eine Szene, in der die Menschen mit Laternen ans Meer gehen und die Lichter dem Meer zurückgeben. In diesem Ritual drückt sich aus, dass wir glauben, die Menschenseele kommt aus dem Meer und geht nach dem Tod wieder zurück ins Meer. Aber dieses Meer ist nicht mehr sauber. Wohin können wir also zurückgehen?
Schon im Libretto zeigt sich, dass sich ein Bruch durch die Oper zieht: Es gibt einen historischen Stoff, ein traditionelles Ritual, und plötzlich kommen Menschen in Schutzanzügen. Ist das neu für Ihr Opernschaffen?
Ja. Wir können nicht nur schöne Opern machen. Ich selbst war in Fukushima, ich habe die Städte gesehen, in denen niemand wohnt, es war schrecklich. Es schien mir wie... unsere Zukunft. Das Ende der Welt. Das habe ich wirklich gesehen, ich kann es nicht mehr vergessen. Heute möchten wir in Japan gern die Augen davor verschließen. Aber wir müssen sehen, was passiert ist.
Oriza Hirata hat das Libretto entwickelt, das von Hannah Dübgen in seine endgültige Fassung gebracht wurde, und er führt in Hamburg Regie. In Japan ist der Theatermacher bekannt dafür, dass er Umgangssprache benutzt und sehr realistisch inszeniert. Wie passt das zur Oper?
Georges Delnon hat sich als neuer Intendant der Hamburger Oper die Zusammenarbeit gewünscht. Ihm schwebte vor, etwas ganz anderes auf die Bühne zu bringen als die heute in Deutschland üblichen Regieopern. Bisher hat Oriza Hirata nur eine kleinere Operninszenierung übernommen, nämlich Hanjo in Hiroshima. Er hat das wunderbar gemacht. Er hat sich außerdem schon in anderen Theaterarbeiten mit Robotern beschäftigt und benutzt sie auch in meiner Oper: In der Schutzzone, die man nicht betreten darf, fahren nur Roboter. Sie führen den in Schutzanzüge gekleideten Chor in diese Zone.
Es ist mit dem Dirigenten Kent Nagano noch jemand mit japanischen Wurzeln beteiligt.
Kent Nagano ist ein wunderbarer Dirigent, ich habe schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet. Er ist Amerikaner, und er sucht immer seine Identität. Ich kenne mehrere Leute, die zwischen beiden Kulturen stehen, und all diese Leute sind auf der Suche. Das kann interessant sein – wie kommen die Kulturen zusammen, wie kann man fremde Kulturen kennenlernen und neu gestalten?
Es gibt noch eine Kulturbrücke in diesem Stück und überhaupt in Ihrer Arbeit, und zwar den Tanz. Ihre vorigen Nō-Opern Hanjo und Matsukaze wurden von bekannten europäischen Choreografinnen, von Anne Teresa de Keersmaekers und Sasha Waltz, inszeniert. Die weibliche Hauptfigur in dem neuen Stück war früher Balletttänzerin, und ein Kind, das Unterricht von ihr erhielt, tanzt für sie während der Zeremonie am Meer und schlüpft damit kurz in die Rolle des toten Kindes. Welche Rolle spielt Tanz für Sie?
Beim Nō-Theater sind alle Bewegungen festgelegt und stilisiert. Und wenn ich in der Inszenierung mit Choreografen arbeite, bewegen sich die Sänger sehr schön. Das brauche ich. Im japanischen Tanz bewegt man sich ganz langsam, zusammen mit der Erde. Europäisches Ballett versucht, gegen die Schwerkraft zu wirken. Diese Gedanken haben mich sehr inspiriert. Ich habe einige Stücke für imaginären Tanz komponiert, meine innere japanische Tanzmusik.
Im Zentrum der Oper steht ein Abschiedsprozess, und insgesamt geht es in der Nō-Theater Tradition um Heilung. Wie kann das auch in der Oper geschehen, und was passiert dabei mit dem Zuschauer?
Mein Grund dafür, Musik zu machen, ist, dass ich Heilung brauche, seelische Erlösung. In meiner Oper singt diese traurige Mutter und erfährt dadurch Heilung. Auch das Publikum erlebt diese Seelenheilung durch das Musikhören. Schon Benjamin Britten hat den Sumidagawa Stoff benutzt und auf dieser Grundlage Curlew River komponiert. Ich finde, das ist eine sehr gute Oper, aber zu christlich. Ich möchte eine buddhistische Oper machen, in der es eher darum geht, zu akzeptieren. Nō ist das Theater der Seelenheilung, und das soll auch meine Oper sein.
Und die Heilung besteht hier darin, dass wir in einem anderen Zustand die Realität wahrnehmen und annehmen können?
Ja. Dass wir das sehen, musikalisch sehen, was wirklich in Japan passiert ist. Das ist das Einzige, was Künstler heute machen können. Wir können uns nicht direkt politisch ausdrücken. Aber mit Musik können wir die Katastrophe zeigen, und auch die Ordnung.
Interview: Nina Rohlfs, 2015