Als Heinrich der Achte die Auflösung von Klöstern in ganz England betreiben ließ, bedeutete dies nicht nur für das religiöse und wirtschaftliche Leben des Landes einen Wendepunkt. Auch die Musikgeschichte seines Reiches beeinflusste der König, selbst ein begeisterter Musiker und Förderer der Renaissancekomponisten, durch diesen Schritt entscheidend. Nur ein Bruchteil der geistlichen Musik des Mittelalters entging der systematischen Zerstörung der Klosterbibliotheken in den 1530er Jahren – einige Manuskripte überlebten nur, weil sie als Papiervorrat für andere Zwecke beiseite gelegt wurden.
Die drei Sopranistinnen des Trio Mediaeval begriffen bei ihrer Rekonstruktion einer „Ladymass“ anhand von Manuskriptfragmenten aus Worcester die Lückenhaftigkeit der historischen Überlieferung als Chance. „Wir verzweifelten nicht, als wir feststellten, dass es in den Manuskripten kein Credo gab“, erklärt Anna Maria Friman. „Sofort sahen wir die Möglichkeit, ein zeitgenössisches Credo einzufügen, und baten Gavin Bryars, das Stück zu komponieren.“
Votivmessen für die Jungfrau Maria waren keine Seltenheit im mittelalterlichen England, das aufgrund der besonderen Verehrung der Gottesmutter auch als „Garden of Mary” bezeichnet wurde. Ein überproportional großer Anteil der in Worcester gefundenen Fragmente enthielt deshalb Musik für Marienfeste, so dass die Rekonstruktion der Elemente der Messe recht genau sein dürfte. Die gleiche Genauigkeit in der Aufführungspraxis zu suchen, ist dagegen wohl ein vergebliches Unterfangen. „Wir haben kaum Anhaltspunkte bezüglich des Klanges und der Gesangstechnik, die man verwendete, und wir wissen nicht, in welchem Maße polyphone Musik von Frauen gesungen wurde“, sagt Anna Maria Friman. „So sehr wir uns das wünschen – historische Authentizität können wir nicht erlangen. Gleichzeitig gibt uns der Mangel an Information die Freiheit, unsere Vorstellungskraft und Intuition in ähnlicher Weise zu benutzen wie bei der Uraufführung zeitgenössischer Musik.“
Die Triomitglieder sind sich der Tatsache bewusst, dass sie mittelalterlicher Sakralmusik in vielerlei Hinsicht einen neuen Kontext verleihen, sowohl durch die Aufführung im modernen Konzertbetrieb als auch mit der CD-Aufnahme, die 2011 vom Label ECM veröffentlicht wurde. Aber so weit entfernt ihre Interpretationen auch vom Kontext eines mittelalterlichen Gottesdienstes sein mögen – die Schönheit und Klarheit der drei Stimmen können laut der New York Times „selbst einen Agnostiker dazu bringen, in diesen jahrhundertealten Manuskripten einen Funken des Göttlichen zu erfahren.“
Nina Rohlfs, 2010