Kaum ein zeitgenössischer Komponist ist mit seinem Opernschaffen derart fest im Repertoire der großen Häuser verankert wie Toshio Hosokawa. Allein seine zweite Oper Hanjo von 2004 hat es inzwischen auf 20 Neuinszenierungen gebracht, und in der letzten Dekade feierten Stilles Meer (2016), Futari Shizuka (2017) und Erdbeben. Träume (2018) große Erfolge.
Mit Spannung wird deshalb die Uraufführung seiner neuen Oper Natasha erwartet, die im August unter der Leitung von Kazushi Ono im New National Theatre mit dem Tokyo Philharmonic Orchestra in einer Inszenierung von Christian Räth auf die Bühne kommt; das mehrsprachige Libretto wurde von Yoko Tawada verfasst. Mit der in Berlin lebenden japanischen Schriftstellerin hatte Toshio Hosokawa schon für sein 2021 uraufgeführtes musikalisches Märchen Deine Freunde aus der Ferne zusammengearbeitet.
Vor der Uraufführung veröffentlichen wir einen Auszug aus den Werknotizen Toshio Hosokawas, in denen er in die Handlung von Natasha einführt und über seinen Schaffensprozess berichtet.
Kompositionsnotizen für die Oper Natasha
von Toshio Hosokawa
In Yoko Tawadas Libretto Natasha kommen zu Beginn zwei junge Flüchtlinge, Natasha und Arato, am Meer an, ohne sich zu kennen. Nachdem sie ihre Heimat verloren haben, stehen sie am Ufer und lauschen der Stimme des Meeres.
Aratos erstes Lied ist ein Ruf an ihre verlorene Mutter, „Dort schwebt eine große Frau in der Luft“ – „Zu weit entfernt zum Umarmen, MUTTER“. Natasha antwortet auf Ukrainisch und Deutsch mit unverständlichen Traumwörtern. Obwohl sie sich nicht verstehen, fühlt sich Arato von Nataschas Worten angezogen und sagt: “Worte, die mein Herz zu sich rufen“. Es wird klar, dass Natasha eine Schamanin ist, die die Kraft hat, die Stimmen des Meeres zu hören und sie in Worte zu übersetzen. Von diesem Meeresufer aus beginnen die beiden eine Reise durch die sieben modernen Höllen, geführt von Mephistopheles' Enkel – so wie Tamino und Pamina in der Zauberflöte verschiedene Prüfungen bestehen müssen.
In meiner Oper Matsukaze, ebenfalls im New National Theatre in Tokio aufgeführt, singen zwei Frauen (Geister), Matsukaze und Murasame, am Meer von ihrer vergangenen Trauer. Matsukaze und Murasame, die versuchen, die Anhaftungen in ihren Herzen durch Singen und Tanzen zu reinigen, sind Schamaninnen, die das Diesseits mit dem Jenseits verbinden. Das Meer ist das Tor zur Unendlichkeit, und die Darstellerinnen sind für mich Schamaninnen (Miko). Die Musik, die dabei erklingt, ist eine „Hashigagari“ (Brücke), eine Passage und ein Klangtunnel in eine andere Welt. Ich wollte, dass auch die Musik der Oper Natasha ein „Klangtunnel“ zwischen dieser Welt und einer anderen Dimension ist. Ich möchte, dass der Zuhörer diesen Tunnel aus anhaltendem Klang durchquert und eine andere Welt betritt.
Das Orchesterstück Circulating Ocean habe ich 2005 komponiert. Der Klang dieses Stücks ist eine Metapher für Wasser, und die Geschichte dahinter ist, dass das Wasser des Ozeans als Dampf in den Himmel aufsteigt, zu Wolken wird, die als Regen auf den Boden fallen, zu Flüssen werden und wieder in den Ozean fließen. Nachdem ich diese Musik viele Male gehört hatte, kam mir der Gedanke, dass dieses „Meer“ nicht das Meer außerhalb von mir darstellt, sondern das „Meer des Klangs“, das sich tief in mir ausbreitet. Jeder Mensch hat dieses „Meer des Klangs“ in seinem Herzen. Dieser Ozean ist unendlich weit und tief. Es gibt keine Grenzen oder Abgrenzungen zwischen Ost und West. Aus den Strömungen und Wellen dieses Meeres werden Worte und Musik geboren. In der Psychologie mag es das kollektive Unbewusste sein, im Buddhismus der Alaya-Siki. Aus diesen Schwingungen bringen die Menschen die Sprachen, Lieder und Musik der verschiedenen Kulturen zum Ausdruck, in denen sie aufgewachsen sind. Aber diese verschiedenen Sprachen können auf der tiefsten Ebene miteinander verbunden sein. Auf diese Weise ist eine „mehrsprachige Oper“ möglich, in der verschiedene Sprachen gleichzeitig gesungen werden, sie miteinander verschmelzen und harmonisieren. So kann die Welt, in der wir leben, auf dreidimensionale Weise ausgedrückt werden.
Während der Komposition dieser Oper stelle ich mir unentwegt das wunderbare „Klangmeer“ vor, das tief im menschlichen Geist verborgen ist, und ich werfe die Worte von Yoko Tawadas Libretto in dieses Meer, um sie dann aus dem Chaos des Meeres wieder herauszuschöpfen und sie zu „Liedern“ zu machen. Es ist nicht so, dass „ich“ (Ego) komponiere, sondern dass ich den „Echos aus dem Meer“ genau zuhöre und sie in einer Partitur niederschreibe. Ich bin nur ein Medium. Mit dieser Einstellung habe ich die Oper Natasha komponiert.
Im Juli 2019 beauftragte mich Kazushi Ono damit, ein Stück für das New National Theatre in Tokio zu schreiben. Wir suchten gemeinsam nach einem Libretto und beschlossen, Yoko Tawada im April 2021 zu bitten, es zu schreiben. Kazushi Ono und ich entwarfen die erste Idee, es wurden verschiedene Meinungen ausgetauscht und Yoko Tawadas Libretto wurde im März 2023 fertiggestellt. Nach einem weiteren Meinungsaustausch und der Überarbeitung des Librettos begann ich im Januar 2024 mit der Komposition der Musik, und es dauerte ein Jahr und drei Monate, bis die Partitur im April 2025 fertig war. In der Zwischenzeit erlebte die Welt die Corona-Katastrophe, die Kriege in der Ukraine und in Gaza begannen und das Chaos wurde immer größer.
Der Klangkünstler Sumihisa Arima ist für die Produktion der Naturgeräusche und anderer Tonbänder, die für diese Oper so wichtig sind, sowie für die akustische Gestaltung des Raums verantwortlich.
Ich widme die Oper Natasha Kazushi Ono, der eine große Leidenschaft für die Schaffung dieses Werks zeigte und uns während der Entstehung leitete.
Toshio Hosokawa
Natasha
11. bis 17.8.2025
Tokio, New National Theatre