Gerade stand sie als Mireille in Giorgio Battistellis Oper 7 Minuti an der Opéra de Lyon auf der Bühne, ehe in Montreal eine von Thomas Hampson inszenierte halbszenische Produktion von Cosí fan tutte anstand. Dort war sie als Despina zu erleben und wurde einmal mehr als Mozart-Interpretin für ihre „makellose Bühnenpräsenz und in jeder Situation angemessene, formbare Stimme“ (Le Devoir) gelobt. Was für klassische Sängerinnen als wilde Mischung unterschiedlichster Engagements erscheinen mag, ist für Jenny Daviet seit langem künstlerischer Alltag und prägte nicht nur das Frühjahr 2025. Schon von Beginn ihrer Karriere an gesellen sich zu den klassischen Opernrollen, die sie unter anderem als Ensemblemitglied der Opéra de Rouen sang, zeitgenössische Werke.
Eines der ersten davon war Claude Viviers Bouchara, das sie erstmals 2010 mit dem Ensemble Le Balcon aufführte. „Pierre Boulez saß im Publikum, in der ersten Reihe, genau vor mir“, erinnert sie sich an die Aufregung dieses Abends. „Ich liebe die Musik von Claude Vivier. Sie ist nicht aggressiv – man kann sich von ihr auf eine Reise mitnehmen lassen.“ Dem damals erst zweiten Konzert des Ensembles folgten weitere Zusammenarbeiten: Als Eva in Stockhausens Sonntag aus dem Zyklus Licht war sie an der Philharmonie de Paris mit Le Balcon zu erleben, nachdem sie schon bei der Aufführung des Freitag mitgewirkt hatte.
Mozart wurde ebenso früh zentral für Jenny Daviet, die als Pamina ihr Operndebüt gab. „Ich glaube, das ist DIE Mozart-Rolle für mich“, so die Sopranistin über die Partie, die ihr viele Türen öffnete. Ihr Asien-Debüt bestritt sie als Pamina am National Taichung Theater in der Inszenierung von William Kentridge, und schon zuvor war sie mit ihrer Glanzpartie François-Xavier Roth aufgefallen, unter dessen Leitung sie später Héro in Berlioz’ Béatrice et Bénédict an der Oper Köln sang.
Der Weg zur Musik war für Jenny Daviet keineswegs vorgezeichnet. „Meine Eltern sind keine Musiker, aber schon als kleines Kind sang ich sehr viel. Meine Mutter brachte mir als Bibliothekarin immer Kassetten und CDs mit. Ich entdeckte dadurch zufällig Benjamin Britten – seine Kinderoper Le petit ramoneur, The Little Sweep. Ich war fasziniert, dass Kinder da sangen.“ Es folgten Solfège, Klavierunterricht und Chor am örtlichen Konservatorium in Poitiers. Auch ihre Klavierlehrerin erkannte das besondere Gesangstalent der Schülerin und förderte es. In Paris studierte Jenny Daviet gleich nach dem Abitur am Conservatoire Regional Influence de Paris bei Laurence Equilbey. „Es war ein Kurs für junge Sängerinnen und Sänger, und es gab dort auch Theater- und Tanzunterricht und drei Stunden Chor in der Woche. Nicht nur Gesangsunterricht also, sondern alles, was mit der Arbeit als Sängerin zu tun hat.“ Jenny Daviets Interesse kam gerade diese Vielseitigkeit entgegen: „Mein Traum war es, Sängerin zu sein. Das ist nicht nur ein Job, sondern meine Leidenschaft. Ich wollte spielen, singen, tanzen.“
Dass alle diese Aspekte des Berufes Hand in Hand gehen, ist nach wie vor Jenny Daviets zentrale künstlerische Überzeugung. „Es erfordert Zeit, herauszufinden, was die Essenz einer Rolle ist. Ich tauche in die Figur ein, denke viel über die Handlung nach, versuche, meine Körperhaltung und meine Stimme in dieser Rolle zu entwickeln – eher wie eine Schauspielerin“, erklärt sie ihre Herangehensweise. „Ich möchte eine Interpretin sein und nicht nur eine Sängerin. Für mich steht die Stimme erst am Ende dieses Prozesses.“ Mit Blick auf ihre Rolle in 7 Minuti fährt sie fort: „Man muss das Publikum überzeugen, dass man Mireille ist, dass man aggressiv und rassistisch ist, und dass man nicht Jenny ist, die Mireille singt.“ Wie gut dies in Lyon geklappt hat, zeigen die zahlreichen Kritiken, die durchweg Jenny Daviets stimmliche Leistung genauso hervorheben wie ihre schauspielerische Ausstrahlung auf der Bühne.
Selbst für Rezital- und Konzertrepertoire verlässt sich Jenny Daviet auf ihre besondere Art der Vorbereitung. „Als ich zum Beispiel das Messiaen-Programm mit meinem Pianisten Alphonse Cemin entwickelt habe, haben wir uns viel Zeit genommen: Wir haben die Texte gemeinsam gelesen, ich saß lange am Tisch mit meiner Partitur. Ich möchte die Geschichte des Komponisten, auch was ihn herausgefordert hat, verstehen und arbeite dafür viel mit dem Text, den Worten.“ Erfolge wie ihre hochgelobte Interpretation von Messiaens Poèmes pour Mi mit Kent Nagano und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die auch als CD erschienen ist, geben ihr Recht mit ihrem Ansatz, eine Stimme aus dem poetischen Kontext, der inneren Dramaturgie eines Werkes heraus zu entwickeln.
Jenny Daviets Traum für die entferntere Zukunft erscheint als eine logische Fortführung dieses Ansatzes: „Ich würde gern als Regisseurin arbeiten“, sagt sie und fügt lachend hinzu: „Wenn ich viel älter bin.“ Zunächst gibt es konkrete Repertoire-Träume, die enger an die aktuelle Arbeit anknüpfen. Eine herausragende Partie hatte Jenny Daviet schon komplett einstudiert und geprobt: 2023 war ihr Debüt als Nadja in Georg Friedrich Haas’ Bluthaus an der Opéra de Lyon geplant, das aufgrund des Generalstreiks in Frankreich in letzter Minute abgesagt wurde – eine große Enttäuschung für die Sängerin, die auf eine neue Gelegenheit für diese Rolle hofft.
Ein weiterer Wunsch hängt ebenfalls mit einer Zusammenarbeit aus der letzten Zeit zusammen. Nachdem sie für ihre Interpretationen von George Benjamins Kammeroper Into the Little Hill mit dem Ensemble intercontemporain beim Festival Ravel und davor am Théâtre de Caen sowie am Teatro del Canal in Madrid mehrfach in engem Austausch mit dem Komponisten stand, steht die Uraufführung eines neuen Werkes aus seiner Feder ganz oben auf der Wunschliste. Und nicht zuletzt stünde Jenny Daviet gern als Lulu auf der Bühne. „Ich liebe Alban Bergs Musik, und die Rolle ist einfach interessant.“ Gemeinsamer Nenner für diese Wünsche mag die Vielschichtigkeit der Charaktere sein, ob Nadja, Lulu oder ganz neue Partien: eine willkommene Herausforderung für die Sängerin, die Schauspielerin – die Interpretin.
Nina Rohlfs, 5/2025
Interview: Karsten Witt, 4/2025