Dass eine Uraufführung verschoben wird, ist hinter den Kulissen des Musikbetriebs nicht gerade ungewöhnlich. Dass dies jedoch nicht an der Komposition, sondern am noch nicht fertigen Instrument liegt, kann schon als Besonderheit gelten. Im Falle von Mark Andres Stück iv15Himmelfahrt, geschrieben anlässlich der Wiedereinweihung der Großen Strobel-Orgel von 1886 im thüringischen Bad Frankenhausen, hinkte das Handwerk der Kunst hinterher. Da die Restaurierung eines derart komplexen historischen Instrumentes sich mitunter nicht besser vorausplanen lässt als ein Kompositionsprozess, geriet das als Wiederaufführung gedachte Konzert im vergangenen Oktober zur Voraufführung: In der Münchener Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig brachte Stephan Heuberger die Werkfassung für elektrische Registertraktur zu Gehör.
Der große Erfolg des Konzertes im Rahmen der Reihe musica viva wird sicherlich das Interesse an der eigentlichen Uraufführung, nun am 23. Juni 2019 durch Leo van Doeselaar, beflügeln. „Schlicht sensationell“ fand die FAZ das Werk des „Meisters der numinosen Klangzauberei“ und urteilte: „In den feinnervig gestalteten Ausklangprozessen wird der Gedanke der Verwandlung von Materie in Geist fesselnd zur Anschauung gebracht.“
„Mark Andre geht äußerst differenziert auf das Instrument ein. Wenige haben eine solche Geduld und Intensität in der Auseinandersetzung mit dieser unbekannten Welt der Orgel“, begeistert sich auch Stephan Heuberger im br-Interview mit Michael Zwenzner über seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Mark Andre erläutert zu seinem ersten Werk für das Instrument: „In diesem Stück geht es mir um musikalische Prozesse des Entschwindens, des Verschwindens, und zwar im Hinblick auf verschiedene Klang- und Aktionstypen.“ Man habe beispielsweise mit dem Ausschalten des Motors experimentiert und den mit dem nachlassenden Luftdruck entschwindenden Klang durch Registrierung gefärbt. „So entsteht eine eigene Art von Virtuosität, bei der man nicht unbedingt mit Tönen, sondern mit Registrierungen arbeitet, was gleichzeitig auch zu einer Virtuosität des Hörens führt“, so Heuberger.
Zwei Organisten, zwei völlig unterschiedliche Orgeln, eine mit elektrischer, eine mit mechanischer Registertraktur, und die klanglichen Bedingungen verschiedener Kirchenräume lieferten noch zusätzliche Facetten in der ohnehin erheblichen Herausforderung, für das Instrument zu schreiben. Eine Herausforderung, die nicht wenige Komponisten scheuen: Die Liste neuer Werke für das Instrument aus der Feder von Nicht-Organisten ist übersichtlich. Dass sich ein bei internationalen Orchestern und Ensembles gefragter Komponist wie Mark Andre – gerade hob beispielsweise das Scharoun-Ensemble in der Berliner Philharmonie seine Drei Stücke für Ensemble aus der Taufe – sich auf diese Aufgabe einlässt, kündet von einer besonderen Motivation. Der gläubige Protestant fühlt sich dem sakralmusikalischen Kontext der Orgel nah, bezieht er sich doch in vielen seiner Werke auf biblische Motive des Übergangs. „Diese Prozesse des Verschwindens assoziiere ich persönlich mit der Situation der Himmelfahrt, der Aufhebung des Körpers oder – in der Musik – des Klangkörpers“, so der Komponist über iv15 Himmelfahrt. Iv stehe dabei für Introversion, den Blick in die Tiefen der Seele.
Nach der Bad Frankenhausener Aufführung sind die „Klänge, die ortlos im Raum zu schweben scheinen“ (FAZ) am 19. September auch in Frankfurt zu hören, diesmal mit dem Organisten Martin Lücker.
Nina Rohlfs, Mai 2019