„Die Zisterzienserinnenabtei von Las Huelgas zählte zu ihrer Glanzzeit
zu den größten Klöstern Europas und zu den mächtigsten kirchlichen
Institutionen in Spanien. Um 1320 entstand dort eine der umfangreichsten
Sammelhandschriften polyphoner Musik, die heute erhalten sind. Der
Codex Las Huelgas umfasst Musik aus ganz Europa”, erklärt das Trio Mediaeval zu seinem neuen Programm The Conductus in Castile, das im Frühjahr bei den Schwetzinger SWR Festspielen erstmals in einem größeren Rahmen zur Aufführung kommen wird.
Wenn Anna Maria Friman, Linn Andrea Fuglseth und Jorunn Lovise Husan
dieses für mittelalterliche Verhältnisse äußerst
kosmopolitisch-eklektische Repertoire des Codex Las Huelgas rund sieben
Jahrhunderte nach seiner Entstehung zu Gehör bringen, können sie dabei
auf eine enorme Erfahrung zurückgreifen. Seit mehr als 20 Jahren graben
sie alte Manuskripte aus, erforschen historische Fakten rund um die
mittelalterliche Aufführungspraxis und machen Musik, die vor langer Zeit
entstanden ist, wieder hörbar. Die Sängerinnen des Trio Mediaeval
kennen sich also aus in allen Belangen, die die Entstehung und
Aufführung alter Vokalmusik betreffen – soweit man das kann.
Denn die Präsentation mittelalterlicher Sakralmusik in unserer heutigen
Welt sei immer zugleich ein Akt der Bewahrung und der Neuschöpfung.
„Wir stellen die Musik in einen völlig anderen Kontext: Weder wurden die
Stücke ursprünglich als Teil eines Konzertprogrammes komponiert, noch
waren sie für die Aufführung vor einem Publikum vorgesehen“, erklärt
Anna Maria Frimann und betont, wie stark sich die heutige
Aufführungspraxis vom religiösen Kontext gelöst hat. Bezüglich des
Klanges und der Gesangstechnik, die man einst verwendete, tappen heutige
Interpreten ohnehin im Dunkeln. „So sehr wir uns das wünschen –
historische Authentizität können wir nicht erlangen. Gleichzeitig gibt
uns der Mangel an Information die Freiheit, unsere Vorstellungskraft und
Intuition in ähnlicher Weise zu benutzen wie bei der Uraufführung
zeitgenössischer Musik.“
Entsprechend liegt die Miteinbeziehung neu komponierter Musik – im
‚Conductus‘ Programm sind es drei für das Trio komponierte Stücke von
Ivan Moody – musikalisch weniger fern als man denken mag. Das Trio
Mediaeval hat diese Praxis in vielen Projekten erprobt, in denen
zeitgenössische Werke ihr Repertoire ergänzen, das im Kern aus
Eigenbearbeitungen mittelalterlicher Balladen und Lieder aus
Skandinavien und aus polyphoner mittelalterlicher Sakralmusik besteht.
In letzter Zeit sind es zudem häufig Musiker und Ensembles der Jazz- und
World-Szene, die mit den Sängerinnen wiederum neuartige Klangwelten
entstehen lassen. Rolf Lislevand, Nils Økland, Sinikka Langeland, Arve
Henriksen und das Mats Eilertsen Trio sind inzwischen bewährte
musikalische Partner des Trios.
Man kann und muss also auch für das Konzert bei den Schwetzinger SWR
Festspielen davon ausgehen, dass selbst das Alte ganz neu ist – und dass
es wohl für immer ein Rätsel bleiben wird, wie der im 13. Jahrhundert
rund 100 Frauen umfassende Chor in Las Huelgas tatsächlich geklungen
haben könnte. Es ist noch nicht einmal klar, ob im damaligen Kloster
tatsächlich alle Werke des Codex‘ erklangen, weist doch einiges darauf
hin, dass polyphone Musik, zumindest solche mit mehr als zwei Stimmen,
im Zisterzienserorden nicht geduldet wurde. Definitiv erlaubt ist es
hingegen, sich als Zuhörer im 21. Jahrhundert für die Zeitdauer eines
wunderbaren Konzertes ins Mittelalter versetzt zu fühlen.
Nina Rohlfs, 4/2109